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Argyreia nervosa

Viel Wind um eine psychedelische Winde

Der freie respektvolle Umgang mit nicht vom Aussterben bedrohten Pflanzen ist ein Menschenrecht. In diesem Sinne lohnt es sich, die enormen Potentiale unserer pflanzlichen Freunde kennenzulernen, auch wenn es manchmal etwas mühsam erscheint. Aber wie heißt es doch so schön: Erst die Arbeit und dann das Vergnügen.

Zu den wichtigsten heilenden heiligen Drogen der mexikanischen Urbevölkerung gehören neben dem meskalinhaltigen Peyotl-Kaktus, den Psiloc(yb)in-Pilzen, dem Stechapfel und dem Wahrsagesalbei die Samen bestimmter Trichterwindenarten, die als Oluliuqui bekannt geworden sind. Botanisch handelt es sich um die Samen von Turbina corymbosa (, früher auch Rivea corymbosa genannt,) und von Ipomoea violacea (, auch Ipomoea tricolor oder Ipomoea rubro-caerulea genannt). Die Samen von Ipomoea violacea werden häufig mit denen von Ipomoea purpurea verwechselt, deren Wirkstoffgehalt unbedeutend ist. Beide tauchen in Samentütchen des Gartenfachhandels in zahlreichen Varietäten unter dem englischen Namen „Morning Glory“ auf und sind wegen ihrer schönen Blätter und Blüten als einjährige Zierpflanzen sehr beliebt. Um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen, hier der aktuelle botanische Hinweis: Die Samen von Ipomoea violacea sind länglich und schwarz, die von Ipomoea purpurea rund und schwarz, und die viel selteneren Samen der Turbina corymbosa sind klein, rund und ockerbraun. In zahlreichen anderen Winden vom Typ Ipomoea wurden praktisch dieselben Wirkstoffe wie in der traditionellen Indianerdroge nachgewiesen, wenn auch meist in geringen Mengen. (Diese Wirkstoffe gehören bemerkenswerterweise zur Gruppe der Mutterkornalkaloide, Substanzen, die sich chemisch von der Lysergsäure ableiten lassen und zu denen auch das nahe verwandte halbsynthetische d-Lysergsäurediäthylamid, abgekürzt LSD, zählt.) Herauszuheben ist die Ipomoea carnea, die einen recht hohen Lysergsäurederivatgehalt aufweist, in den tropischen Gebieten Amerikas vorkommt und deren Samen von den peruanischen Shipibo-Indianern sogar als visionsverstärkender Ayahuasca-Zusatz eingesetzt werden. Aber bei der mit Abstand potentesten Winde unter den psychedelischen Winden, handelt es sich um eine ganz besondere Art.

Samen der Argyreia nervosa
Samen der Argyreia nervosa

Die Samen der tropischen Winde mit dem neckischen Namen Baby Hawaiian Woodrose, oder botanisch korrekt Argyreia nervosa, gut zerkaut oder frisch zerstampft auf möglichst leeren Magen einzunehmen heißt, sich auf eine lang anhaltende psychedelische Entspannung einzulassen. Meist stellt sich innerhalb etwa einer Stunde ein wohliges, schlaffes, schließlich sinnlich verstärktes bis schmelzig-erotisches Körpergefühl ein. Der Geist wird wacher. Insbesondere akustische (Musik) und optische Wahrnehmungen (, zum Beispiel der Blick in den Spiegel,) werden intensiver, vielleicht sogar sich halluzinogen wandelnd, empfunden. Begleitet wird der Törn von einer freundlichen bis albernen, irgendwie abgehobenen Enthemmung und energetischer Euphorie. Besonders zu Beginn und während der ersten ein bis zwei Stunden nach Einnahme der Samen kommt es typischerweise zu einer meist vorübergehenden Schwummrigkeit oder gar Übelkeit. Mancheiner scheint hier besonders empfindlich zu sein. So ist es im Einzelfall auch schon zu Erbrechen und Durchfall gekommen. Auch Bauchkrämpfe sollen auftreten können, wogegen das Einnehmen einer entspannten und bequemen Körperhaltung hilft. „Go with the Flow“, zu deutsch, „mit dem Fluß gehen“ scheint das Geheimnis der Argyreia nervosa-Erfahrung zu sein. Zumindest erleichtert es sie ungemein, auch was die körperliche Befindlichkeit betrifft. Während kleine Samenmengen anregend wirken können, kann insbesondere bei höheren Dosierungen ein Gefühl starker körperlicher Mattigkeit ausgeprägt sein. Die individuellen Empfindlichkeiten scheinen auch hier zu variieren. (Man muß ja nicht immer in der Landschaft rumhüpfen, du altes Raverhaus.) Farbige Muster bei geschlossenen Augen, fliessende Wahrnehmungsveränderungen, ähnlich denen unter Einfluß mäßiger Dosen LSD, aber „ruhiger“, und ein anderes Zeit-Raum-Empfinden leiten über in einen tiefen psychedelisch en Erfahrungsbereich. Die Pupillen erweitern sich. Ein Fenster zum visionären inneren Space emotional prall gefüllter Assoziationen und Erinnerungen kann sich öffnen. Wer das nicht will, der sei gewarnt. Bemerkenswert und irgendwie charakteristisch ist, daß die Wirkung der Samen etwa vier bis sechs Stunden nahezu auf demselben, bei höheren Dosierungen recht heftigem Intensitätsniveau bleibt, allso nicht in den Wellen kommt, in denen psychedelische Erfahrungen sonst meist verlaufen. Schließlich läßt sie langsam aber kontinuierlich nach. Nach dem Trip ist Schlaf möglich. Der folgende Tag kann von positiver relaxter Stimmung, aber auch von einem Hangover mit dem Gefühl von Abgeschlagenheit und geistiger Leere geprägt sein. Auch hier spielt die individuelle Prädisposition eine wichtige Rolle.

Bei Überdosierungen kann es auf Grund der gefäßverengenden und blutdrucksenkenden Eigenschaften der Wirkstoffe zu Durchblutungsstörungen und möglicherweise gefährlichen Kreislaufproblemen kommen. Kurze Ohnmachten sind eine sehr ernstzunehmende Warnung. Kranke sollten die Samen auf keinen Fall nehmen (, zumindest nicht ohne kompetente schamanische Betreuung, die man hier kaum finden wird). Sie werden sich wahrscheinlich noch kränker fühlen. Schwangere sollten unbedingt die Finger von (je)der Droge lassen. Die Alkaloide wirken nämlich erheblich wehenfördernd. Vor der Kombination mit anderen Drogen muß gewarnt werden, auch wenn von angenehmen Erfahrungen zum Beispiel in Kombination mit gerauchten Hanfprodukten berichtet wird.

Die wundersame Wirkung der Samen, dieser auch Silberkraut oder Kleine Holzrose genannten wunderschönen mehrjährigen bis zu acht Meter rankenden tropischen Winde mit grossen herzförmigen an der Unterseite silbrig behaarten Blättern und trichterförmigen weißvioletten Blüten, ist wie gesagt auf den höchsten in der Windenwelt bekannten Gehalt an psychoaktiven Mutterkorn-Alkaloiden, insbesondere d-Lysergsäureamid = LSA = LA-111 = Ergin und ähnlichen Substanzen, zurückzuführen. (Das chemisch verwandte, aber doch deutlich anders wirkende halbsynthetische LSD wurde übrigens noch nie in der „freien Natur“ nachgewiesen.) Er wird mit 0,3 % angegeben. Damit wären die Argyreia-Samen aufs Gewicht bezogen etwa 25mal so stark wie analysierte Turbina corymbosa-Samen und immer noch 5mal so stark wie analysierte wildwachsende mexikanische Ipomoea violacea-Samen. Der Wirkstoffgehalt von in nordischen Gefilden gewachsenen Ipomoea violacea-Zierformen soll noch erheblich niedriger ausfallen.

Ein Argyreia-Same wiegt im Schnitt etwa 0,1 Gramm. Liebhaber dieser potenten Droge raten zu vorsichtiger Dosierung und langsamem Herantasten an eine individuell verträgliche psychedelische Dosis. Schon ein Same kann deutlich gespürt werden. Mancheine(r) ist mit derartigen Dosierungen schon voll und ganz zufrieden. Als volle Dosis gelten vier bis neun Samen. Als obere Grenze werden höchstens so um die dreizehn Samen veranschlagt. Ab dieser Dosis treten häufig Kreislaufprobleme auf, ohne daß der Trip dabei mehr hergibt.

Wie erwähnt, werden die ziemlich harten Samen gut zerkaut oder zerstampft, bevor man sie runterschluckt. Ansonsten würden sie den Verdauungstrakt ohne allzugroßes Trara passieren. Man hat mit mäßigem Erfolg versucht, das Risiko von Magen-Darm-Problemen durch Waschen der noch ganzen Samen und Abreiben der äußeren Samenschale zu reduzieren. Durch mehrstündiges Einweichen der zermahlenen Samen in kaltem Wasser an einem dunklen Standort mit anschließendem Abfiltern durch einen Kaffefilter und Runterspülen des so entstandenen Extraktes soll eine mögliche Magenreizung umgangen werden. Diese Art der Zubereitung eines Kaltwasserauszugs entspricht der traditionellen indianischen Methode einen Oluliuqui-Extrakt zuzubereiten. Aber vermutlich hängen die Nebenwirkungen der Windensamen zumindest teilweise auch direkt mit den psychedelischen Wirkstoffen zusammen.

Die Samen sollten so frisch wie möglich genommen werden. Die empfindlichen Alkaloide zersetzen sich im Laufe der Zeit. Es können unerwünschte nicht psychoaktive Zerfallsprodukte entstehen. Die ganzen Samen, kalt und trocken im Dunkeln gelagert, mögen etwa ein halbes bis vielleicht ein Jahr nur wenig an Potenz verlieren. Dann sind sie jedoch irgendwann ausmusterungsbedürftig. Beim Erwerb bedenke man, wie lange die Samen bereits unter welchen Bedingungen gelagert wurden. (Beim Händler erfragen!)

Die Samen der Argyreia nervosa werden als Dauerbrenner unter den „Legal Highs“ nun schon seit bald dreissig Jahren in den USA im Versandhandel angeboten. (1965 wurden sie zum ersten mal analysiert, und ihr hoher Wirkstoffgehalt sprach sich in den psychedelischen Sechzigern schnell rum.) Zahlreiche Kleinanzeigen in Magazinen wie „High Times“ bezeugen, daß es eine anhaltende und gerade in letzter Zeit im Rahmen des psychedelischen und schamanischen Revivals sogar noch gestiegene Nachfrage für die Samen geben muß, obwohl ein regelmässiger Gebrauch sehr ungewöhnlich und bedenklich ist. Typisch bei den meisten Argyreiaprobierern ist eine vorübergehende Experimentierphase, die bald eingestellt wird, zumal wenn andere, weniger den Verdauungstrakt belastende und körperlich ermattende Psychedelika wie LSD oder Pilze zur Verfügung stehen. Damit gelangen die Samen in den Ruf eines Provinzpsychedelikums. (Die Provinz dabei sozusagen als der Ort verstanden, wo man aus der Not heraus selbst Muttis Muskatnüsse oder Engelstrompeten aus den öffentlichen Grünanlagen futtert, nur um nicht immer nur besoffen sein zu müssen.) Dies wird ihren ganz eigenen Qualitäten jedoch in keiner Weise gerecht. Es wurden und werden Preise von bis zu einem Dollar pro Samen verlangt. In der Regel sind sie aber in den USA, insbesondere bei Abnahme größerer Mengen, natürlich nur zur Blumenzucht und nicht zum menschlichen Konsum gedacht, erheblich günstiger erhältlich, nämlich zu Preisen von umgerechnet zwischen etwa 8 und 30 Pfennig das Stück. Bei uns wird im ethnobotanischen Fachhandel häufig ein etwas überhöhter Standardpreis von 1 DM pro Samen verlangt. Die Samen sind (noch) kein Betäubungsmittel im rechtlichen Sinne.LSA

Die hawaiianische Baby-Holzrose wird nicht nur auf Hawaii und in Kalifornien zur Samengewinnung angebaut. Sie gedeiht auch in anderen tropischen Gebieten. So soll sie in Südindien heimisch sein. Weltweit wird sie vereinzelt als attraktive mehrjährige Zierpflanze gezogen. Nicht zuletzt tragen Freaks mit ein paar Samen im Gepäck zur Verbreitung bei, so gesehen auf der Insel Koh Phangan/Thailand. Die Argyreia nervosa wird außerdem in den Staaten für die Floristik angebaut, wo die hübschen Samenkapseln in (Trocken-)Blumenarrangements zum Einsatz gelangen. Auch bei uns läßt sich aus den Samen oder über Stecklinge eine hübsche licht- und wärmeliebende Kübelpflanze ziehen, die, da kälteempfindlich, im Gewächshaus oder in der Wohnung überwintern muß. Es gibt eine Reihe weiterer Argyreia-Arten, die wohl auch Lysergsäure-Derivate enthalten, deren Wirkstoffgehalte aber noch weitgehend unbekannt sind. Die Baby Hawaiian Woodrose oder Argyreia nervosa wird manchmal mit der Large Hawaiian Woodrose, zu deutsch Große Holzrose, oder Merremia tuberosa verwechselt. Diese sieht völlig anders aus. Das gilt auch für die Samen, die größer ausfallen, aber einen deutlich geringeren Wirkstoffgehalt aufweisen.

Zusammenfassend läßt sich nocheinmal herausstellen: Geniesser dieser megapotenten Superturbohüperheiperwindensamen sind besonders angetan von intensiviertem akustischen Erleben und einer Enthemmung in Kombination mit einem schmelzig-erotisch-sinnlichen Körpergefühl. Manche schätzen die introspektiven Potentiale bei einem relativ hohen Grad von Selbstakzeptanz, sprich keiner ausgeprägten Ego-Auflösung sondern mentales Driften auf anhaltend hohem energetischen Niveau. Einige mögen die als niederschmetternd empfundene Wirkung überhaupt nicht, fühlen sich eher krank, deuten soetwas an wie eine Empfindung psychedelischen Stumpfsinns, so es denn soetwas überhaupt geben kann. Für die meisten der an der Einnahme psychedelischer Substanzen interessierten Menschen handelt es sich einfach um eine irgendwie anstrengende Erfahrung, die dann auch wieder nicht so interessant ist, als daß man sie ständig wiederholen möchte. Nichtsdestotrotz ist Argyreia nervosa ein einzigartiges Beispiel für ein leicht erhältliches, einfach zu konsumierendes hochpotentes pflanzliches Psychedelikum aus dem fruchtbaren Schosse der Natur, obendrein noch nahe verwandt mit dem berüchtigten LSD, vielleicht sogar schon ein „moderner Klassiker“ unter den „High-Pflanzen“?!

„Fühlst Du Dich auch so animalisch?“ „Ich fühle mich argyreia nervosa!“

 

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Cannabis

Marihuana Mythen – Teil 5 – Cannabis schwächt das Immunsystem

Marihuana Mythen

Teil V

Weihnachten ist längst vorbei und trotzdem noch spuken Märchen durch die Köpfe der Hanf-Experten. Die Mythen rund um den Hanf richten nachhaltigen Schaden an, fast undurchdringbar scheint das Gewirr der Behauptungen, die den Labors und Forscherstübchen entweichen. Wie sieht es tatsächlich aus: Welchen Nutzen und welche Schäden kann der Konsument von Cannabis aus den pflanzlichen Wirkstoffen ziehen? Wo liegen Gefahren für Körper und Geist, wo Chancen für ihre Genesung? Der fünfte Teil einer Serie überprüft die Behauptung:

„Marihuana schwächt das Immunsystem“

Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen behaupten den Zusammenhang zwischen Marihuana-Gebrauch und einer Schwächung des Immunsystems. Das Risiko, durch Erkältungen und anderen Infektionskrankheiten ins Bett geschickt zu werden, sei, so diese Meinung, bei Konsumenten von Rauschhanf erheblich höher, als bei Abstinenzlern. Bereits in den 70er Jahren entstanden, erhielten diese Behauptungen in den 80er neue Bedeutung, als vermehrt über den Gebrauch von Marihuana unter AIDS-Kranken berichtet wurde. Sollte man den Kiffer auf der Straße an seiner chronisch roten Nase erkennen?

DIE FAKTEN

sprechen eine relativierende Sprache. Um in diesem Fall für Aufklärung zu sorgen, muß zunächst ein Rückblick in die Historie gewagt werden. Die Ausgangstudie, die die ursprüngliche Beeinträchtigung des Immunsystems durch Gras behauptete, ging folgendermaßen vor: Man entnahm von Kiffern und einer Kontrollgruppe Blut und isolierte die weißen Blutkörperchen. Die Hälfte der weißen Zellen sind Lymphozyten, wiederum etwa 70 Prozent dieser werden T-Lymphozyten genannt. Diese stürzen sich im Bedarfsfall auf Eindringlinge im Körper, sie bilden einen Bestandteil der Immunabwehr des Körpers. Wittern sie Gefahr, vermehren sie sich um dem Feind in großer Zahl entgegentreten zu können. Der französische Wissenschaftler G.G. Nahas zeigte nun in der Studie, daß sich die T-Lymphozyten bei den Fans des Marihuanas nicht nur langsamer vermehrten, 44 Prozent der kleinen Kämpfer waren sogar außer Kraft gesetzt. Bei Krebspatienten sind das meist „nur“ bis 40 Prozent. Aber: Keine Untersuchung konnte die Zahlen von Nahas und seinen Kollegen je wieder nachweisen, sie wurde vielfach widerlegt. Zu spät, ein Mythos war geboren.

An dieser Stelle sei, daß Nahas noch heute als einer der angesehensten Wissenschaftler in seinem Heimatland gilt und mitverantwortlich ist für die unsäglich rigide Cannabis-Politik im Lande des berauschenden Weines. Aber schütten wir keinen Zorn und keine Häme aus, sondern wenden uns wieder dem Thema zu. 1988 zeigte eine andere Untersuchung das Gegenteil: Hanfraucher und Raucherinnen erfreuen sich bester Gesundheit, ihr Immunsystem sei sogar intakter als das von vergleichbaren Kontrollgruppen. Andere Wissenschaftler wollten 1979 nachgewiesen haben, daß einer der psychoaktiven Wirkstoffe im Hanf, das THC, die Widerstandsfähigkeit gegen das Herpes simplex-Virus senkt. Auch diese These wurde später (1991) überpüft und verworfen. THC bindet sich an das Herpes-Virus und inaktiviert es somit. Die äußerliche Anwendung eines Alkoholextrakts aus Cannabis sorgte dafür, daß vorhandene Bläschen innerhalb eines Tages verschwanden.

Nun greift leider auch die Marihuana-Forschung auf Tiere als Versuchssubjekte zu. Das Immunsytem von Nagetieren wurde in Mitleidenschaft gezogen, als sie THC in hohen Dosen verabreicht bekamen. Die Aussagekraft dieser Ergebnisse sind stark angezweifelt worden, weil die Tagesdosis bei 100mg pro Kilogramm lag, etwa 1000 mal so hoch, als benötigt wird, um beim Menschen eine psychoaktive Wirkung zu erzielen.

In den drei großen Marihuana-Feldstudien in den 70er Jahren (Jamaica, Costa Rica, Griechenland) fanden die Forscher bei den Grasrauchern keinen Unterschied in der Empfänglichkeit für Krankheiten gegenüber Nichtrauchern. Einschränkend sei aber hier angeführt, daß neuere Forschungen THC-Metaboliten in der Lunge gefunden haben, und dies noch sieben Monate nachdem mit dem Rauchen des Hanfs aufgehört wurde. Diese Metaboliten sind durchaus imstande, daß Immunsystem anzugreifen. Die Gefahr einer Bronchitis ist unter Marihuana-Raucher höher als unter Nichtrauchern (siehe HANFBLATT 1/97).

Neue Nahrung erhielt der Mythos von der Schwächung des Immunsystems durch die Krankheit AIDS. Der ehemalige oberste Drogenwächter Nord-Amerikas, Carlton Turner, behauptete in den 80er Jahren, daß Marihuana den Ausbruch von AIDS begünstige. Alle ernstzunehmenden Studie widerlegten seine Annahme, trotzdem ließ er sich nicht überzeugen. Er krönte sein unwissendes Haupt zudem mit dem verbürgten Ausspruch, daß Hanf-Konsum zur Homosexualität führe. Ende gut, Alles gut: Turner trat später auch aufgrund dieser Fehltritte zurück.

Es steht fest: Weder begünstigt Marihuana den Ausbruch von AIDS, noch führt es zur Verstärkung der Symptome unter AIDS-Patienten. Im Gegenteil, heute nutzen viele AIDS-Kranke die Wirkung des Hanfs, um ihren Appetit anzuregen und ihre Übelkeit zu bekämpfen. Mittlerweile gehen manche Wissenschaftler sogar davon aus, daß THC stimulierende Effekte auf das menschliche Immunsystem hat.

Völlig unberücksichtig bei der schulmedizinischen Betrachtung bleibt der psychische Aspekt, der im folgenden kurz angerissen wird. Man weiß seit längerem, daß der Ausbruch vieler Krankheiten auch immer eine psychologische Komponente besitzt. Kurz: Wer sich wohl fühlt, wer sich an seinem Leben erfreut, wer gesund lebt, bleibt auch gesund. Marihuana besitzt nun wahrscheinlich das Potential, sowohl positiv wie negativ zu wirken. Zuviel Pot, zum falschen Zeitpunkt, am falschen Ort dürfte den Körper des Kiffers zur Rebellion verführen; der wohldosierte, in Ruhe genossene Konsum dagegen durchaus zur Stabilität des körperlichen und seelischen Gleichgewichts beitragen.

 

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Künstliche Intelligenz

Interview mit Rolf Pfeifer, Labor für Künstliche Intelligenz, Universität Zürich

Künstliche Intelligenz, Heft 1/2003

Rolf Pfeifer schrieb zusammen mit Christian Scheier „Understanding Intelligence – eine auch für Nichtinformatiker leicht lesbare Gesamtdarstellung der „Neuen künstlichen Intelligenz“.
Jörg Auf dem Hövel:
Biologie und Biorobotik arbeiten im Zürichicher AI-Lab eng zusammen, wobei die Künstliche Intelligenz viel von der Natur lernen kann. Was aber kann denn die Biologie von ihnen lernen?

Rolf Pfeifer:
Ein Beispiel: Die Wüstenameise Cataglyphis orientiert sich am Polarisationsmuster der Sonne. Im Aufnahmeapparat der Ameise existiert Rezeptoren, die das Licht in unterschiedlicher Richtung polarisieren. Der eine Rezeptor oder Polarisationsfilter arbeitet also beispielsweise nach vorne, der andere zur Seite. Die Theorie der Biologen besagte nun folgendes: Wenn man nun die verknüpften Polarisationssensoren dreht, dann ändert sich in systematischer Weise der Output des betreffenden Neurons. Während die Ameise sich also dreht, ändert sich der Output. Sie muss das Maximum des Output suchen um eine Referenzrichtung zu erhalten. Als wir diese Konstruktion auf einem Roboter implementierten sahen wir, die Richtung des Maximums einen relativ grossen Fehler aufweist. Mit dieser Unschärfe würde die Ameise aber nicht so geradlinig zum Nest zurückkommen, wie sie das in der Realität tut. Als wir einen Roboter mit diesem Mechanismus zu bauen versuchten, bemerkten wir, wie unpräzise er mit diesem Verfahren fährt. Dann haben wir ein wenig rumgespielt und hin und her versucht. Schließlich versuchten wir es mit drei Sensorsystemen, die auf 0 Grad, 60 Grad und 120 Grad ausgerichtet sind, so wie das von der Ameise bekannt ist. Wenn man die Outputs dieser drei Systeme miteinander verknüpft, und die absolute Differenz von zwei Systemen vom Wert des ersten System abzieht, dann ergibt sich eine hohe Schärfe der Orientierung. Dies stellt nun eine Hypothese dar für die Biologen – gibt es tatsächlich bei den Ameisen oder den Bienen, die ebenfalls diese Orientierungsmöglichkeit besitzen, Neuronen, die diese Art der Berechnung durchführen? Es scheint gewisse Hinweise darauf zu geben, aber ob man das tatsächlich gefunden hat oder nicht ist mir zur Zeit nicht bekannt.

Rolf Pfeifer

Haben Sie noch ein anderes Beispiel?

Sicher. Dimitri Lambrinos und Ralf Möller haben überlegt, ob es ausreicht, wenn der Sahabot in der nahen Umgebung des Nests nicht einen kompletten Snapshot, sondern nur einen Mittelwert über alle Landmarken bildet und damit nur einen Vektor abspeichert. Erstaunlicherweise findet der Roboter in den meisten Fällen genauso gut zum Eingang des Nestes zurück. Das funktioniert ebenfalls, wenn man statt weniger Markierungen hunderte von Markern setzt, an denen der Roboter sich orientieren kann. Später testeten wir das in normalen Büroumgebungen und das funktionierte ebenfalls. Das ist natürlich Wahnsinn, denn es müssen nur zwei Zahlen gespeichert werden, um eine komplexe Umgebung im Körper zu repräsentieren. Wenn man das zudem analog macht, dann kostet das praktisch nichts. Ein gutes Beispiel für cheap design, welches sich in der Natur so häufig durchsetzt. Die Biologen testen zur Zeit, ob die Ameise nach dem Snapshot-Modell oder dem Average-Landmark Modell vorgeht. So kann die Robotik Hypothesen aufstellen und die Biologen können sie überprüfen.

Trotz der Verkörperung und der damit beabsichtigten Verabschiedung der symbolverarbeitenden Maschine, arbeiten ihre Roboter ja gleichwohl mit Prozessoren, die Algorithmen ausführen. Wie passt das zusammen?

Das ist ein guter Punkt und bleibt ein Problem, obwohl ich es eher in den philosophischen Bereich rücken würde. Zum einen arbeiten wir mit Neuronalen Netzen, die zwar letztlich auch in einem Mikroprozessor ablaufen, die aber vom Konzept her natürlichen Neuronen nachempfunden sind. Die Idee dabei ist, das man auf einer gewissen Abstraktionsebene von künstlichen Neuronen spricht und nicht von ihrer digitalen Simulation. Wenn man die Auflösung genügend fein macht, dann hat das weithin analogen Charakter. Zum anderen haben wir tatsächlich Roboter gebaut, die ganz ohne Software auskommen. Diese bestehen nur aus analogen Schaltkreisen. Den Analog-Robot hat Ralf Möller entwickelt, der jetzt beim Max-Planck-Institut in München ist.

Das wirft auch ein anderes Licht auf den Begriff der Wahrnehmung.

Die Leute denken immer an Input bei Wahrnehmung. Und ich mache meine Mitarbeiter in den Diskussionen fast wahnsinnig, weil ich immer wieder darauf hinweise, dass es sensormotorische Kopplungen sind, die das Erleben bestimmen. Um das zu zeigen haben wir einen analog-VLSI Chip entwickelt, diesen an die Peripherie des Roboters geschoben und dort eine komplette sensormotorische Schleife konstruiert. Von den lichtsensitiven Zellen über das „attentional processing“ bis zum Berechnen des Steuersignals für die Motoren ist bei diesem Analog-Roboter alles auf einem analog-VLSO-Chip implementiert. Es ist also durchaus möglich ganz ohne digitale Simulation des neuronalen Netzes auszukommen.

Ein Kernpunkt der Neuen KI ist Emergenz. Wie kam man in der Neuen KI darauf, dass Intelligenz aus dem Zusammenspiel einfacher, an und für sich unintelligenten Teile, entstehen, halt emergieren kann? Was führte zu der Einsicht, dass der symbolverarbeitende Ansatz allein nicht ausreicht, um intelligentes Verhalten zu entwickeln?

Das ergab sich zum einen sicherlich aus dem Betrachten evolutionärer Vorgänge. Aus einfachen Elementen entstehen komplexe Komponenten, die wiederum Teil von größeren Einheiten sind. Aus toter Materie ist schließlich auch der Mensch entstanden. Auf der anderen Seite erkannte man Anfang der 80er Jahre, dass der symbolverarbeitenden Ansatz an seine Grenzen gestoßen war. Es existierte ein Haufen von KI-Gebieten, von Expertensystemen, Wissensrepräsentationen, Problemlösen, Theorembeweisen. Viele von uns interessierte damals aber nicht nur das Schreiben von Computerprogramme, die eine Aufgabe erfüllen, sondern wir wollten etwas über natürliche Intelligenz lernen. Wenn man die klassische KI anschaut, dann erkennt man sehr wohl die wertvollen Beiträge, die sie beispielsweise für die mathematische Logik und die Algorithmik geleistet hat. Aber sie hat sehr wenig zum Verständnis natürlicher Intelligenz beigetragen und stieß aus diesem Grund an eine Grenze. Das hat viele Forscher frustriert. Den Paradigmenwechsel eingeleitet hat dann sicherlich die Theorie der Neuronalen Netze…

Christoph von der Marlsburg…

Genau. Der Mann ist immer noch einer der originellsten Köpfe in dem Gebiet. Nun, auf alle Fälle haben viele Forscher darin eine Antwort auf die Frage gesehen, wie ich Symbolen Bedeutung geben kann. Ein weiterer Punkt für den Wechsel war sicherlich das Scheitern, mit den bisherigen Ansätzen intelligent handelnde Roboter zu bauen. Man merkte damals nämlich, dass man nicht einfach ein symbolverarbeitenden Programm nehmen, eine Kamera anhängen und einen Pixel-Array auf die internen Symbole abbilden kann. Wenn man mal reale Kamerabilder angesehen hat und diese mit sich bewegenden Kamerabildern vergleicht, dann sieht man, dass das nicht funktionieren kann. Es wurde also langsam klar, dass dies eine völlig falsche Sicht der Dinge ist. Rodney Brooks hat seine Dissertation im Bereich der klassischen Computer-Vision gemacht und war frustriert, mutmaßte, dass der bisherige Ansatz salopp gesprochen völliger Quatsch ist.

Da war er nicht der Einzige.

Sicher. Schon Hubert L. und Stuart E. Dreyfus haben das kritisiert. Terry Winograd schrieb Anfang der 70er Jahre das Programm SHRDLU und fing Anfang der 80er Jahre an, über diese Dinge vertieft nachzudenken und den Ansatz der klassischen KI zu kritisieren. In den Insiderkreisen zirkulierten damals schon Manuskripte, später kam sein Buch „Understanding Computers and Cognition“ heraus. Im Rotbuch-Verlag erschienen, erlangte es schnell Kult-Status. Ebenfalls mit dabei war William J. Clancey, der an medizinischen Expertensystemen arbeitete und alle paar Jahre einen Artikel veröffentliche, der die scientific community schockierte.

Zentral für ihre Arbeit ist ebenfalls der Begriff der Emergenz. Was verstehen sie darunter?

Ein gutes Beispiel für Emergenz ist das Vehikel I von Braitenberg. Das hat vorne einen Sensor, hinten einen Antrieb und ein die beiden Elemente verbindendes „Gehirn“, welches aus einem einzigen künstlichen Neuron besteht. Je mehr Qualität der Sensor liefert, umso schneller läuft der Motor. Die Beschaffenheit des Sensors ist dabei beliebig wählbar. Der kann Temperatur, Lichtintensität oder chemische Konzentration messen. Nehmen wir einen Temperatursensor und angenommen, dass Vehikel ist im Wasser, dann fährt es nicht einfach gleichmäßig geradeaus. Dort existieren Strömungen, Wirbel, andere Fische, Temperaturschwankungen und so fährt es an einem Ort schneller, an einem anderen langsamer. Da kann der Beobachter leicht zu der Annahme kommen, dass es sich lieber im kalten Wasser aufhält. Dabei macht das Gehirn nichts anderes, als den Sensor mit dem Motor zu verbinden. Schon bei zwei Sensoren und zwei Motoren wird das Verhalten enorm komplex. Der Punkt von Braitenberg ist der, dass man die Mechanismen genau erklären kann, es ist aber sehr schwierig, aus dem Verhalten zurück auf die Mechanismen zu schließen. Verhalten, welches kompliziert aussieht, lässt sich häufig viel einfacher erklären. Das ist die Idee der Emergenz.

Aber den umgekehrten Fall gibt es auch.

Wenn ich mit dem Finger von meiner Nase weg geradeaus fahre, dann ist das eine sehr viel schwierigere Bewegungen als eine kreisförmige mit dem ganzen Arm.

Deswegen ist das auch der Trunkenheitstest bei der Polizei. In us-amerikanischer Tradition versucht Brooks sich wieder am Nachbau des Menschen.

Der Brooks ist wahrscheinlich viel intelligenter als die Leute glauben. Er hat wahnsinnig gute Intuitionen, die er leider nicht theoretisch weiter verfolgt. Wenn man mit ihm über theoretische Dinge reden will, dann sagt er meistens: „Ah, forget about the theory.“

That´s the american way.

Der Mann ist nicht Amerikaner, sondern Australier. Er lebt nur seit 20 Jahren in den USA.

Dann ist er konvertiert.

Seine Argumentation ist im Grunde folgende: Der Schritt von den Einzellern zu mehrbeinigen Insekten war der wichtige in der Evolution. Von den Insekten zu den Menschen war es dann nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt. Wir müssen also erst einmal verstehen, wie und warum sich Einzeller zu komplexen Lebewesen entwickelt haben, dann wird der Rest recht einfach.

Und wie ist der Erkenntnisstand der Neue KI zur Zeit? Nach Dennet befindet sich die Robotik ja noch im Stadium des Bakteriums. Robocteria?

Ich bin nicht ganz sicher. Natürlich haben Bakterien schon eine enorme Komplexität. Sensorik, Motorik, interne Verarbeitung, Stoffwechsel…

Selbstreproduktion…

…richtig, sie hat genetisches Material. Insgesamt enorme Komplexität. Wir versuchen heute in erste Linie das Verhalten von Insekten zu verstehen, machen aber auch Experimente, die in Richtung des Verständnis´ menschlicher Intelligenz gehen. Brooks liebt es Roboter zu bauen, und letztlich wollte er einen humanoiden Roboter bauen, weil das spektakulärer ist. Aber auch hier hat er wieder die richtigen Ideen gehabt und sehr viel Wert auf die Sensormotorik gelegt. Er ist ohnehin ein ungewöhnlicher Forschertyp. Sein Onkel ist der Regisseur Mel Brooks, wie er einmal erzählte. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt.

So oder so hat er anscheinend Humor.

Rolf Pfeifer AI Lab Zürich
Rolf Pfeifer Copyright AI Lab Zürich

Der kann die Leute nach belieben verarschen. Und wenn er sagt, dass sie einen Roboter bauen werden, der die Intelligenz eines 4jährigen Kindes hat, dann darf man das nicht allzu ernst nehmen. Ich erinnere mich, dass er auf einem Vortrag einmal die erste Folie auflegte auf der stand nur: „THINK BIG“.

In der Neuen KI kommen die Gedanken der Systemtheorie, eigentlich schon in den 60 Jahren entworfen, zu später Ehre. Rückkopplungsschleifen, stabile Eigenwerte, Selbstorganisation. Was bedeuten diese Begriffe für die Neue KI? Und wie hängen Rückkopplungsschleifen und sensormotorische Kopplung zusammen?

Feedbackschleifen sind mittlerweile überall entdeckt und nutzbar gemacht worden. Die alten Kybernetiker, wie beispielsweise Norbert Wiener, waren ja zugleich an den Entwicklungen der ersten Digitalcomputer beteiligt. Man muss die damalige Euphorieverstehen, denn plötzlich stand eine anscheinend alles könnende Maschine zur Verfügung. Die Kybernetik geriet so in den Sog der Bestrebung, alles zu digitalisieren. Parallel dazu entwickelte sich die Idee, dass auch das natürliche Denken wie ein Computer funktioniert. So kam es zum Ausdruck des „Elektronengehirns“ und der Idee, dass auch der Mensch nach dem Schema von Input, Verarbeitung und Output arbeitet. Viele Talente der Kybernetik und des systemischen Denkens wanderten zur klassischen KI. Die frühen Kybernetiker formulierten Grundlegendes, die Ideen eines Heinz von Foerster sind beispielsweise so aktuell wie nie. Dann schlief die Bewegung ein und erst durch das Aufkommen der Neuronalen Netze wurden die Ideen wiederbelebt. Ich erinnere mich an eine Zeit, da war es in der klassischen KI verpönt, überhaupt von reellen Zahlen zu reden. Man unterhielt sich in Form von abstrakten Symbolen, welche die Essenz der Intelligenz darstellen sollten. Durch die Neuronalen Netze kam eine neue Qualität in Bezug auf Feedback ins Spiel. Bei diesen hat man eben nicht mehr nur einen Wert und eine Rückkopplungsschleife, sondern man hat eine enorme Menge von Rückkopplungsdaten. Deswegen spricht man heute auch eher von rekurrenten Netzen. Edelmann fing damit an, von Re-Entry und nicht von Rückkopplung zu sprechen. Die dichte Verknüpfung der Netze untereinander und Rückkopplungen in diesen Verknüpfungen stellen die neue Dimension da, die nicht mehr allein durch das Prinzip von „set-value – Feststellung einer Abweichung vom effektiven Wert – Fehlerkorrektur“ bestimmt werden kann.

Roboterbau bedeutet ja aber auch heute noch nicht, dass auf sensormotorische Kopplung und Situatedness gesetzt wird.

Leider nicht. Im Forschungszentrum eines grossen Automobilkonzerns brachte mir im Jahr 2000 ein Roboter eine Tasse Kaffee. Er rollte zunächst zum Kaffee-Automaten, scannte mit einem enorm teuren Laser den Abstand für ein Distanzprofil, sodann setzte er seinen Path-Planer ein, der den Pfad für die weitere Aktion berechnet hat. Während der dann folgenden Ausführung des Pfads fand keine Kopplung mit der Umwelt da. Leider lag aber die Tasse etwas schräg im Greifarm des Roboters, so dass er fast das Rohr, aus dem der Kaffee strömen sollte, abgebrochen hat. Wenn er eine sensormotorische Kopplung gehabt hätte, wäre das gar kein Problem gewesen, weil er das sofort bemerkt hätte.

Ein Problem beim Aufbau komplexer Systeme besteht ja offen sichtlich darin, dass sich die einzelnen Elementarverhalten gegenseitig beeinflussen. Wie wollen Sie das Scaling-Up-Problem lösen?

Wenn man unter verhaltensbasierter Robotik die Grundidee versteht verschiedenen Verhalten parallel laufen zu lassen, dann ergeben sich da tatsächlich Probleme der Interaktion. Unbedingt zu berücksichtigen ist aber, dass sich die lose gekoppelte Prozesse weitgehend über den Körper und die Interaktion mit der Umwelt selbst koordinieren. Brooks mit seinem Ansatz der Subsumption hatte da mal wieder eine gute Intuition. Wer das ganz brillant in seine Arbeit einbezogen hat, ist der Holk Cruse aus Bielefeld. Als Beispiel: Wenn man klassisch denkt, dann geht man immer davon aus, dass alles von einem neuronalen Zentrum koordiniert werden muss. Cruse hat für gewisse Stabinsekten herausgefunden, dass diese beim Gehen kein Zentrum benötigen, welches die Bewegung der Beine koordiniert.

Wie geht das?

Zum einen ändert sich die Kraft auf allen anderen Beinen, wenn das Insekt ein Bein vom Boden abhebt. Also brauche ich lediglich noch Kraftsensoren in den Beinen, die diese Veränderung messen und ich habe globale Kommunikation der Beine untereinander, aber nicht über das neuronale System, sondern über die Interaktion mit der Umwelt. Und diese Kommunikation kann nun zur koordinierten Fortbewegung verwendet werden. Die sechs Beine sind untereinander neuronal gekoppelt, wobei nicht einmal eine Verbindungen zwischen allen Beinen besteht, sondern die benachbarten und gegenüber liegenden Beine verbunden sind. Wenn das Insekt mit seinen sechs Beinen auf dem Boden steht und ein Bein hebt, dann ändert sich in diesem Moment die Kraftverteilung auf den anderen Beinen und diese werden leicht in die angedeutete Richtung mitgezogen. Dann braucht es nur noch einer positiven Feedbackschleife in den Gelenken, um die Bewegung zu verstärken und das Insekt läuft. Der Witz ist: Die Beine kommunizieren global miteinander, aber eben nicht über neuronale Verbindungen, sondern über die Umwelt! Zugleich nutzen sie ihr Embodiment aus. Es ist hilfreich, sich dieser beiden Vorgänge bei der Konstruktion komplexerer Systeme bewusst zu sein.

Zugleich ein wunderbares Beispiel für „cheap design“.

Ich sage immer: „Die Physik ist gratis.“ Von der Bewegungsabläufen von Insekten ist enorm viel zu lernen. Wenn man einen Schritt weiter denkt, dann kann die Natur gar nicht immer mit zentralen Steuerungen arbeiten. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Das sechsbeinige Insekt hat pro Bein drei Gelenke. Wenn zentral die Pfade und Trajektorien von 18 Gelenken berechnet werden müssten, dann wäre das Gehirn des armen Insekts hoffnungslos überlastet. Da ist es viel intelligenter, dass Embodiment auszunutzen.

Funktionieren Gliederbewegungen beim Mensch ebenso?

Wenn von Embodiment gesprochen wird, dann denken viele, dass Steuerung noch viel komplizierte wird, weil ich dann zusätzlich noch physikalische Gesetze berücksichtigen muss und somit mehr Parameter zu optimieren habe. Wenn man das Hand-Arm-Schulter System beim Menschen anschaut, dann fallen zunächst die enorm vielen Freiheitsgrade auf – über 30 Stück. Für einen Control-Engineer ist die Steuerung eines solchen Systems ein Albtraum. Wenn ich aber die Gegebenheiten des Körpers und seine Dynamik ausnutze, dann führt das zu überraschenden Ergebnissen. Lässt man beispielsweise die Hand im Gelenk abknicken, so dass die Fingerspitzen nach unten zeigen, und greift dann zu, dann treibt es die fünf Fingerspitzen automatisch in die Mitte zusammen, was nur durch die natürliche Formung der Gelenkschalen und der Hand bedingt ist. Genauso eine simple Funktion kann man zum Bau einer Robotergreifhand nutzen. Ergo: Wenn die Anatomie stimmt, wir nennen es in der Robotik die Morphologie, dann ist die Steuerung fast trivial, auf jeden Fall viel einfacher.

Die meisten Roboterhände sind aber nicht so konstruiert.

Dass ist ja der Fehler, denn die Steuerung der Finger wird dadurch wahnsinnig kompliziert. Viele Erbauer berücksichtigen die Morphologie der Körper nicht. Warum beispielsweise greifen Sie eine Tasse nicht mit den Handrücken zu Ihnen gekehrt, sondern immer so, wie man eine Tasse halt greift?

Es erscheint mir als die natürliche Bewegung.

Eben. Das Muskel-Sehnen-System hat Eigenschaften wie eine aufgezogene Feder, wenn sie den Arm bewusst nach außen drehen und sie lassen dann los, dann dreht der Arm sich automatisch wieder in die natürliche Position zurück. Und zwar nicht, weil ich das vom Hirn aus steuere, sondern aufgrund der Materialeigenschaften des Muskel-Sehnen-Systems. Dieses System übernimmt für mich eine dezentrale Steuerungsfunktion. Unter Berücksichtigung der Materialeigenschaften wird ein Problem, welches auf den ersten Blick enorm kompliziert aussah, plötzlich ganz einfach.

Bei der Erforschung des Menschen wird ja auch immer mehr fest gestellt, dass der Körper nicht allein vom Gehirn gesteuert wird, sondern Körper und Geist zwei Seiten einer Medaille sind. Nicht alle Vorgänge werden berechnet…

…und sind auch nicht berechenbar! Die klassische KI wurde oft kritisiert, weil gewisse Dinge, zum Beispiel Lernen, als „computationally intractable“ galten, eben schlicht aufgrund ihrer Komplexität in ihrer Gesamtheit als nicht berechenbar. Das ist genau der Punkt: Wenn man alles als reine Rechenaufgaben ansieht, dann führt das schnell an Grenzen. In der realen Welt haben wir anatomische und materielle, halt physikalische Einbettungen, deren Berücksichtigung zu Konvergenzen führt. Wenn ich mich in der Umwelt bewege, dann verarbeite ich ja nicht irgendwelche Inputvektoren mit ihren dazugehörigen Merkmalen, sondern ich habe Sensorstimulationen, die sich kontinuierlich verändern. Zudem ändert sich die Sensorstimulation enorm, je nachdem was ich tue. Der Witz ist der: Wenn ich Wahrnehmung als etwas ansehe, was passiv ist, wo ich passiv dasitze, dann muss ich aus diesem Strom irgendwie Information herausholen. Bei der visuellen Wahrnehmung hieße das dann, den auf mich einflutenden Pixelwust zu verarbeiten. Wenn ich das aber umdrehe und sage, „o.k., ich bin ja ein Akteur, ich kann mit der Umwelt interagieren“, dann komme ich dazu, dass ich durch die Interaktion mit der Umwelt meine Sensorstimulation strukturieren kann.

Ein Beispiel, bitte.

Bleiben wir bei der Tasse. Wenn ich eine Tasse fasse und zum Mund führe, dann passiert enorm viel. Erst einmal habe ich visuelle Stimulation, zudem haptische an den Fingerspitzen, dann Stimulation an den Lippen…

…und wenn Sie dabei reden, verändert sich auch die akustische Stimulation durch die Nähe der Tasse…

Richtig. Dieses Muster ist für einen Moment stabil und normiert. Das ist ja, nebenbei gesagt, eines der großen Probleme der cognitive science. Die proximale Stimulation auf der Retina ist zwanzig Zentimeter vor meiner Nase völlig anders als fünf Zentimeter davor. Trotzdem ist es immer ein und dasselbe Objekt. Wenn man die Ähnlichkeiten zwischen diesen Mustern statistisch analysiert, dann ist die praktisch Null. Irgendwie muss der Mensch das transformieren und wie tut er das? Eben durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt, welche die Sensordaten gewissermassen vortransformiert und damit das Problem um Grössenordnungen vereinfacht. Ich bringe das Objekt in das visuelle Feld, erzeuge multimodale Sensorstimulation und diese Stimulation ist korreliert. Mit der Zeit, das heißt der Übung dieser Bewegung, wird aus der extrahierten Information aus einem Sensorkanal ein partieller Prädiktor für die Sensorinformationen, die ich aus anderen Kanälen extrahiere. So lernen auch Kinder: Erst mit der Übung kann es alleine aus der visuellen Sensorextraktion das Objekt rekonstruieren. Die Anatomie und die Interaktion tragen gewissermaßen gratis zur Lösung bei und das vereinfacht das Lernproblem ungemein. Dies kann ein Schlüssel, wohlgemerkt kann, ein Schlüssel zum Scaling-Up Problem sein.

Nun hatte bei uns die Evolution lange Zeit.

Sicher, deswegen können wir gewisse Bewegung halt nicht machen. Einer Maschine wird es immer besser gelingen eine Schraube einzudrehen als einem Menschen.

Ihre Aufgabe ist also der Bau von Robotern, die mit ihrer ganz eigenen Morphologie, die nicht immer an die menschliche Anatomie angelehnt sein muss, Aufgaben in eng begrenzten Bereichen lösen.

Exakt. Die spezifische Morphologie ist anders, aber das Prinzip der sensormotorischen Koordination gilt genau so. Und das auch mit unterschiedlichen Sensoren, sogar welchen, die in der Natur nicht existieren. Das ist dann Artificial Intelligence.

Die Natur arbeitet ja wohl nicht mit der Trennung von Hardware und Software. Muss diese Begriffsspaltung auch in der Robotik überwunden werden?

Ich bin überzeugt davon, dass die Trennung von Hard- und Software eine artifizielle ist. Die liegt uns aber einfach im Blut, weil man die Software mit dem Denken, die Hardware mit dem Körper assoziiert. Eigentlich ein völliger Blödsinn.

Ich erinnere mich an trinkfeste Wochenenden der Jugend, die ein Freund stets mit der Bemerkung „Format C:/“ einläutete. Seine Festplatte sollte formatiert werden. Die bildgebende Kraft des Computers.

Die Computermetapher wird nicht nur von den Forschern der Künstlichen Intelligenz und der Psychologie verbreitet. Auch die Menschen auf der Straße denkt in dieser Metapher. Wie sollte es denn anders sein, so diese Vorstellung, als nach dem Schema Input-Verarbeitung-Output? Oder, wenn man es verfeinert, Sense-Model-Plan-Act? Wir müssen uns von dem Bild verabschieden, dass natürliche wie technische Systeme Informationen verarbeiten, die von außen reinkommen, dann verarbeiten werden und dann erst ein Handeln erfolgen kann. Aber wie gesagt: Das Erzeugen der Sensorstimulation wird durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt bestimmt. Schon bei den Neuronalen Netzen gibt es auf der konzeptionellen Ebene keine Trennung von Programm und Daten mehr. Auch unsere Gehirn funktioniert nicht so. Wo im Gehirn sind die Programme, wo die Daten? Künstliche Neuronale Netze sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber das Embodiment muss dazu kommen. Wenn jemand zu mir kommt und von einem Modell mit Neuronalen Netzen spricht, dann will ich das immer in einem Roboter sehen. In dem von uns entwickelten Analog-Robot existiert diese Trennung eben darum auch nicht.

Spielt die Erforschung des Bewusstseins des Menschen eine Rolle in Ihrer Arbeit? Könnte das Sinn machen, dass ein Roboter ein Selbstbild hat, ein Körperbild von sich? Ist Bewusstsein die Super-Instanz, die über alles wacht oder eher ein Nebenprodukt von dem, was vorher abgelaufen ist?

Ein Philosoph sagte uns einmal, wir hätten das Problem des Bewusstsein in unserem Buch „Understanding Intelligence“ clever umschifft. In der Forschung haben wir uns effektiv damit noch nicht befasst. Ich bin mir aber sicher, dass es wichtig für die zukünftige Arbeit ist, dass Roboter eine „Vorstellung“ von ihren Körpern haben sollten. Wenn sie eine Bewegung ausführen, dann sollten sie eine Verhaltensprognose machen können. Wenn eine Roboter eine sensormotorische Kopplung und stabile Sensormuster hat, dann gibt es gute Gründe dafür, dass dieser Roboter selbst die Sensormuster analysieren und nutzen kann. So kommt man langsam auf eine Ebene, wo man dem Roboter so etwas wie Bewusstsein zuschreiben könnte, wenn man das möchte. Das ist natürlich eine nüchterne Sicht, aber wir Schweizer tendieren dazu. Die Amerikaner würden das wahrscheinlich anders ausdrücken und behaupten, „ja klar, wir haben längst Roboter mit Bewusstsein“. Ein Schweizer würde sagen, dass jetzt „feed-forward Netzwerke für Verhaltensprognosen“ existieren. Die Frage ist zudem, was man meint mit einem Körperbild.

Beim Menschen ist ein Körperbild eine möglichst vollständige Ausdehnung des Ich auf den gesamten Körper.

Dann bleibt die Frage, ob das Ich als zentrale Instanz einen Überblick über den gesamten Körper hat oder ob es keine zentrale Lokalisation des Körperbilds gibt. Die zweite Variante scheint mir plausibler und wenn Roboter in Zukunft wirklich gut sein sollen, dann brauchen sie so ein Körperbild.

Welche Rolle spielt die Parallelität von Sensormotorik und kognitiver Leistung?

Wir haben viel mit Kategorisierungen gearbeitet, die ja die elementarste kognitive Operation ist. Wenn ich keine Unterscheidungen in der realen Welt mache, dann kann ich nicht viel, dann überlebe ich nicht lange. Die Idee dabei war, dass über die Sensormotorik Kategorisierung geleistet wird und darauf aufbauend Kognition gewissermaßen „gebootstrapt“ wird. Rizolatti hat da interessante Experimente mit Primaten durchgeführt, später wurde das auch bei Menschen nachgewiesen. Zwei Menschen sitzen sich dabei gegenüber. Wenn der eine die Hand auf dem Tisch liegen hat und einen Finger hebt, dann soll die zweite Person ebenfalls den Finger heben oder nicht. Im prämotorischen Kortex sind dann bei der zweiten Person gewisse neuronale Areale aktiv und zwar unabhängig davon, ob diese die Bewegung selbst ausführt oder nur anschaut. Das gibt zu Spekulationen Anlass, wie sich so ein Verhalten evolutionär entwickelt haben könnte. Die Hypothese dahinter ist, dass die sensormotorische Entwicklung die Grundlage für die kognitive Entwicklung bildet. Spekulativ, aber hoch interessant.

Ein Hinweis darauf, dass Gehirn und Körper sich evolutionär parallel entwickelt haben?

Sicher. Es ist ja nicht so, dass ich die Morphologie habe und sich das Gehirn dann daran anpasst. In der Natur gibt es immer eine Koevolution von Morphologie und neuronalem Substrat. Wie macht das die Natur? Die Struktur des Gehirns ist ja nicht vorkodiert, denn der Informationsgehalt des Genoms ist dafür viel zu klein. Was allerdings im Genom kodiert ist, sind die Wachstumsprozesse. Und wir versuchen nun diesen Prozess künstlich in Gang zu setzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gerne, und jetzt machen wir eine kurze Tour durch das Lab.

Das Interview führte Jörg Auf dem Hövel.

Von Jörg Auf dem Hövel ist im discorsi Verlag jüngst das Buch „Abenteuer Künstliche Intelligenz. Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine“ erschienen.

Rolf Pfeifer

Prof. Dr. Rolf Pfeifer hat seinen Magister der Physik und Mathematik und seinen Doktorgrad in Computerwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH), Schweiz, erworben. Nach seiner Promotion arbeitete er drei Jahre an der Carnegie-Mellon University und der Yale University in den USA. Seit 1987 ist er Professor für Computerwissenschaften am Institut für Informationstechnologie der Universität Zürich und Direktor des Labors für künstliche Intelligenz. Sein Forschungsinteresse gilt der „embodied artificial intelligence“, der Biorobotik, autonomen Agenten/mobilen Robotern, der Bildungstechnologie, der künstlichen Evolution und Morphogenese sowie der Emotion.

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Cannabis Drogenpolitik Psychoaktive Substanzen

Cannabis Routen

HanfBlatt Nr. 81, Jan/Feb. 2003

 Zwischen Karachi und Ketama…

… und zwischen Enddarm und Container. Wie fließen die Haschisch- und Marihuanaströme über den Globus?

Cannabis ist die am häufigsten gehandelte illegale Droge der Welt. Dem logistisch gut organisierten Warenverkehr stehen manchmal die Gesetze im Wege. Welche Routen nehmen Haschisch und Marihuana?

Zart sind die Sprossen des Hanfs und zart begann auch der Handel. Cannabis wächst auf allen Erdteilen der Welt und wird auch überall kultiviert, ob nun drinnen und draußen. Oft wurde zunächst nur für die Versorgung des lokalen Marktes angepflanzt, erst später, wenn die Nachfrage da war, kam es zum Transfer ins Ausland. Weniger die unbedingte kapitalistische Wille der Einheimischen, als vielmehr reiselustige Menschen bilden seit jeher die zweite nicht versiegende Quelle für Cannabis auf der ganzen Welt. Der Urlaub bietet für jeden Liebhaber des gepflegten Kiff seit jeher die Gelegenheit ein Stück Rauschkultur des jeweiligen Landes als persönliches Mitbringsel mit in die Heimat zu nehmen. So etwas gab es schon immer, professionalisiert wurde es in den 60er Jahren, als die ersten Hippies wahnsinnsgutes Haschisch aus Indien und Nepal in die Welt brachten. Seither ist diese Luft- und Landbrücke nie wieder abgerissen. Der Zoll nennt es „Ameisenhandel“, andere nennen es „Völkerverständigung“. Leider liegen keine Schätzungen darüber vor, wie viel des weltweit genossenen Cannabis von nahen und entfernten Freunden stammt.

Weltkarte der Cannabis-Routen

 

Grasgeschiebe

Der Handel mit den Blütenständen des Hanfs fokussiert sich auf einige Brennpunkte: Praktisch auf den Flughäfen der gesamten Welt wird Gras aus Kambodscha aus den Rucksäcken der Traveller gepickt. Kein Wunder, kostet das Kilo (!) meist minderwertigen Hanfkrauts in dem Land nur rund fünf Dollar. In der Provinz Koh Kong sollen noch immer recht himmlische Zustände herrschen. Hier ist eine traditionelle Hochburg des Hanf-Anbaus, zudem gibt es einen direkten Zugang zum südchinesischen Meer. Größere Mengen werden über vor der Küste liegenden Schiffen zunächst nach Thailand, später in die Welt distribuiert (siehe Karte). Die Australier verzeichnen seit Jahren einen regen Handel mit südwest-asiatischen Marihuana. Apropos Australien: Down under zeigt sich ein Trend, der sich weltweit durchzusetzen scheint. Über die Hälfte des in den letzten Jahren beschlagnahmten Grases stammte aus der Indoor-Zucht. Ähnliches lässt sich in Kanada und den Ländern der Europäischen Union beobachten. Die vielen Genießer haben mittlerweile erkannt, dass die Aufzucht und Hege von Cannabis nicht nur eine simple Angelegenheit ist, sondern sogar Spaß bereitet.

Neben Kambodscha sind es vor allem Indonesien, Laos, die Philippinen und Thailand, die auf größeren Feldern Hanf anbauen. Die UNO zeigt sich in ihrem letzten Drogen-Bericht sehr besorgt darüber, dass seit einiger Zeit auf Sumatra und Java vermehrt Cannabis angebaut wird. Insgesamt, so die Organisation, seien im Jahr 2002 über 4500 Tonnen Gras weltweit aufgegriffen worden. Wenn man nun berücksichtigt, dass dies schätzungsweise zehn Prozent der tatsächlich gehandelten und konsumierten Menge ist, dann bekommt man eine Vorstellung von dem ungeheuren Ausmaß des globalen Hanfrausches.

Interessant dabei ist natürlich, wo das meiste Marihuana beschlagnahmt wird, gibt dies doch Hinweise auf die (unterbrochenen) Reisewege. Manch´ einer wird es geahnt haben: Fast die Hälfte der jährlich ergatterten Menge wird in Mexiko einkassiert. Nirgendwo auf der Welt wird so viel gekifft wie in den USA und dieser Markt will halt versorgt werden. Ob in Trucks, auf Schiffen oder in Flugzeugen – Marihuana wird auf vielen Wegen über die Grenze ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft. Der fermentierte Geruch von jamaikanischem Gras ist in Deutschland und Europa selten geworden, mittlerweile exportierten die karibischen Inseln das meiste ihres Killer-Weed ebenfalls in die USA.

Neben Mexiko ist Kolumbien der zweitgrößte Anbaustaat auf dem amerikanischen Kontinent. Von hier aus wird das Gras entweder in die USA geflogen oder über die karibischen Häfen (oft: Covenas) nach Europa verschifft. Ansonsten übt sich der südamerikanischen Markt in Selbstgenügsamkeit. Wo der lokale Anbau nicht ausreicht, stehen die zentral gelegenen Länder Bolivien (Region um Cochabamba), Brasilien (Region Bahia und Pernambuco im Nordosten) und Paraguay gerne zur Seite.

In Europa selbst hat sich neben den bekannten Gras-Ländern Niederlande und Schweiz Albanien zu einem beachtlichen Anbauland von Marihuana gemausert. Das Bundeskriminalamt schätzt sogar, dass der Staat mittlerweile der „größte Marihuanaproduzent Europas“ sein dürfte. Auch hier wird nicht auf blauen Dunst hin angebaut, sondern für einen Markt, der sich recht unabhängig von den restriktiven Drogengesetzen nach kulturellen Modeerscheinungen ausrichtet. Kiffen ist „in“: Nur darum hat sich in den letzten zehn Jahren sich die Menge des sichergestellten Cannabis in Europa verdoppelt.

Afro-Look

Glaubt man den Zahlen der Drogenkontrollbehörden, aber auch den Berichten der Presse, wird die Anpflanzung von Cannabis in den mittleren und südlichen Länder Afrikas immer beliebter. Für den Verbraucher bleibt meist undurchsichtig, woher genau das Gras kommt. Die prinzipiellen Wege aus den Ländern: Hanfkraut, welches in den kleinen Staaten Lesotho, Malawi und Swaziland angebaut wird über die Straßen nach Südafrika verbracht, um von dort aus entweder mit dem Flugzeug oder aber mit dem Schiff über Kapstadt oder Durban nach Europa transportiert zu werden.

Im Februar 2001 verbrannte die Polizei am Mount-Kenia über 328 Tonnen feinstes Marihuana. In den Worten des UNO-Berichts 2001: „In Ost-Afrika, speziell in Äthiopien, Kenia, Madagaskar, Uganda und Tansania, hat Cannabis, welches bis dahin nur für den lokalen Markt angebaut wurde, die Stellung einer ökonomisch signifikanten Pflanze eingenommen.“ Neben Nigeria, über dessen legendären Hafen Lagos der Hanf aus der Region abtransportiert wird, ist der Kongo ein Hauptanbaugebiet im mittleren Afrika. In der Mindouli-Region im Süden des Landes wird seit Generationen Cannabis großgezogen. Im Kongo ist nach Angaben der OGD (Observatoire géopolitique des drogues), die einen (allerdings recht anekdotisch) jährlichen Bericht zur Situation des Drogenanbaus auf dem Globus gibt, der Anbau von Cannabis schwer umkämpft. Es kommt zu Verletzten und Toten. Die Lari, seit Generationen passionierte Hanfbauern, bestehen trotz internationaler Vereinbarungen auf ihr altes Recht den Hanf zu kultivieren. Der alte Präsident des Kongo, Bernard Kolelas, war Mitglied dieser Ethnie – er stand in der internationalen Politiker-Gemeinschaft seit jeher im Verdacht, den Handel nicht nur toleriert, sondern daran auch kräftig mitverdient zu haben.

Dies ist hier erwähnt, weil ohne die Kooperation hoher Regierungsstellen der gesamte, professionell organisierte Cannabis-Schmuggel auf der Welt zusammenbrechen würde. Ob in Südamerika, Indien, der Türkei oder eben in den afrikanischen Ländern: Nicht nur kleine Zöllner verdienen an der Prohibitions-Politik mit, schaut man einmal hinter die Fassaden der internationalen Plattitüden der Drogenbekämpfungspläne, fällt immer wieder auf, dass lokale Politiker, hohe Beamte und zum Teil eben auch Regierungspolitiker in den Handel involviert sind.

Hasch-Brüder

Damit ist man beim Haschisch angelangt, dessen groß angelegter Schmuggel gerade in Marokko und Spanien ohne die freudige Mitarbeit der offiziellen Kräfte so nicht möglich wäre. Kein Wunder, soll doch die Haschisch-Marge rund 10 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Über die Jahren zeigt sich: Rund 50 % des weltweit beschlagnahmten Haschisch werden in Spanien aufgetan, nur rund 10-15 % in Marokko selbst, weitere rund 5 % in Frankreich, etwa 3 % in den Niederlanden. Diese Zahlen zeigen die herausragende Stellung, die Marokko bei der Harzherstellung spielt. Das die EU-Regierungschefs dagegen nur recht lässig vorgehen, liegt nicht zuletzt daran, dass Marokko als wichtige Barriere gegen den gefürchteten islamischen Fundamentalismus gilt. Hier offenbart sich mal wieder ein schönes Beispiel für die Doppelmoral in der Drogenpolitik. Es bleibt weiterhin zu vermuten, dass zudem einige UNO-Vertreter der Anbauländer die weltweite Prohibition unterstützen, weil diese eine Quelle ihrer Einnahmen ist.

Aber zur Sache: An den Hängen des Rif-Gebirges hocken seit Jahrzehnten Einheimische und ausländische Geschäftsmänner zusammen. Zum Teil ernten sie gemeinsam, sodann wird das „Kif“ an die Küste gebracht und von dort entweder mit Privat-Yachten, Fischerbooten oder zu auf Reede liegenden Großschiffen gebracht. Beliebt soll es neuerdings sein, schwächeren Schmugglergruppen die Ware mit Waffengewalt abzunehmen und dann selber weiter zu vertreiben. So oder so verdienen die lokalen Amtmänner an den Transporten mit. Nach Aussage von Stefan Haag, Autor von „Hanf weltweit“, bieten manche Händler sogar einen Lieferservice an, für Zusatzkosten von rund 2500 Euro pro Kilo kommt das Haschisch frei Haus via Amsterdam nach Mitteleuropa. Die Kleinschmuggler nutzen die Fähren zwischen Tanger oder Ceuta nach Algeciras (Spanien) und die Fähren von Melilla nach Malaga und Almeria.

Wie es dann weiter geht, dass zeigte plakativ ein Vorfall im Herbst 1999. Ein Verkehrsunfall in der südspanischen Region Andalusien führte Drogenfahnder auf die Spur international operierender Cannabis-Händler. Ein Lastzug einer deutschen Spedition stürzte nahe Malaga auf regennasser Straße um – neben Ost und Gemüse auch mit 526 Kilo Haschisch an Bord. Die Ermittlungsgruppe machte schnell zwei Speditionen im Landkreis München und im Landkreis Freising als Transporteure ausfindig. Sie schmuggelten im Auftrag einer italienischen und einer spanisch-marokkanischen Organisation Cannabisharz quer durch Europa. Marokkanisches Haschisch wurde von Spanien aus zunächst an Abnehmer in Norditalien geliefert. Von dort aus wurde es in kleineren Portionen nach ganz Europa distribuiert. Es wird vermutet, dass es ohnehin meist die rund 1,5 Millionen Menschen umfassende marokkanische Diaspora in Europa ist, die den Verkehr mit dem Rauschgold aus ihrem Heimatland organisiert.

Die im obigen Fall angesprochene Gruppe transportierte auch Heroin und Kokain von Mazedonien via München nach England. Damit ist man bei der Frage, in wie weit der Cannabis-Schmuggel von den gleichen Menschen organisiert wird, die nicht nur andere Drogen lukrativ an den Mann bringen möchten, sondern realer Teil des Schreckgespenstes „Organisierte Kriminalität“ sind, das von den staatlichen Ermittlungsbehörden seit einigen Jahren so vehement propagiert wird. Legenden wie Howard Marks halten seit jeher das Bild der chaotisch-liebenswerten Haschisch-Brüder aufrecht, die ohne Waffen und Gewalt den Menschen in der Welt gute Lebens-Mittel beschaffen. Ob der international mit großen Mengen operierende Güteraustausch tatsächlich so harmlos abläuft, darf bezweifelt werden. Um es wage zu formulieren: Wo es um viel Geld geht, dürften Gier und Neid nicht fern sein. Zugleich steht fest, dass zumindest Teile der fester strukturierten Gruppen neben Cannabis auch mit Heroin (Asien) und Kokain (Südamerika) handeln und damit bewusst die Sucht ihrer Kundschaft in Kauf nimmt.

Nordafrika ist aber selbstredend nicht der einzige Großproduzent von Haschisch. Rund 10 % des weltweit beschlagnahmten, wohlriechenden Harzes landet in Pakistan auf dem drogenprohibitiven Scheiterhaufen. In dem Land laufen einige Kanäle aus dem Orient zusammen. Nicht nur landeseigene Produkte, sondern auch das Cannabis aus Afghanistan wandert zu einem Teil zunächst über die südliche Grenze. Dreh- und Angelpunkt in Vorderasien ist nach wie vor Karachi, über dessen Seehafen die dunklen Sorten mit den blumigen Namen in die Welt gehen.

Seidenweich

Der Bosporus galt lange als die Meerenge, welches das in Europa genossene Haschisch überwinden musste. Ob „Libanese“ oder „Afghani“ – an den türkischen Zöllnern führte kein Weg vorbei. Opium, Heroin, Haschisch, die Türkei wurde als strategisch wichtiger Basis angesehen, um den ungehemmten Substanzfluss auf der sogenannten „Balkanroute“ zu gewährleisten. Noch heute prahlen libanesische Haschisch-Dealer damit, dass ihre Kontakte türkischer Zöllner so ausgezeichnet seien, dass die Beförderung nach Europa kein Problem wäre. Früher einer der größten Haschischproduzenten der Welt, dümpelte im Libanon die Erzeugung im vergangenen Jahrzehnt etwas vor sich hin – nun wird aber wieder vermehrt angebaut. Im Hauptanbaugebiet im Bekaatal bei Baalbek rollen wieder die Traktoren durch die Hanffelder.

Zwei Faktoren haben über die letzten Jahre die „Balkanroute“ zumindest für den Haschisch-Transport uninteressanter werden lassen. Da ist zum einen das rigide Eingreifen der iranischen Behörden, die zunehmend keinen Lust verspüren als Transit-Land für „gotteslästerliches Teufelszeug“ zu fungieren. Zum anderen dienen die uns immer noch recht fremden zentralasiatischen Staaten mit Namen Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan nur allzu gerne als Transit- und Produktionsländern. Dies ist die klassische „Seidenroute“. Gerade in Kasachstan wächst das Gras in jedem Kuhdorf. Allein im legendenumwebenden Chu-Tal soll der Hanf auf einer Fläche von 138 Tausend Hektar wachsen. Schmiermittel und Kompetenzgerangel zwischen den Drogen-Behörden, dazu der Umstand, dass die Grenzen zwischen den genannten Staaten und auch dem großen Nachbarn Russland so gut wie unkontrolliert sind, führen zu einem ansteigenden Fluss von Haschisch und Marihuana über diese Seidenroute. Begünstigend kommt hinzu, dass die Verkehrsinfrastruktur relativ gut ist. Ob in Russland, in dessen Weiten quasi überall Hanf wächst, oder den baltischen Staaten, die als Transit-Stationen genutzt wird: Überall hier wird mehr und mehr Cannabis beschlagnahmt.

Diese Beschlagnahmungen durch die Polizei sind aber nicht immer der beste Indikator für einen regen Handel. So steht fest, dass in Europa die Städte Amsterdam und auch London ein Hauptumschlagsplatz für Cannabisprodukte sind. Selbiges gilt für Kopenhagen, von wo aus diese skandinavischen Ländern aus versorgt werden. Gleichwohl wird die Polizei hier nicht exorbitant fündig, was nur zum Teil an ihrer Verblödung, mehr noch an einer bewusst laxen Einstellungen gegenüber dem Haschisch-Schmuggel liegen dürfte. Viel spricht dafür, dass Amsterdam die Drehscheibe für Haschisch in Europa ist. Dies liegt nicht nur an der toleranten Drogenpolitik des Landes, sondern auch an der geographischen Position und ihrer Tradition als Kolonialmacht, die seit jeher mit Transport und Verteilung vertraut ist.

Eine weithin unbeleuchtete Rolle im internationalen Drogenhandel spielen Personen, die für ihre Regierungen tätig sind. Für den Kokain- und den Heroin-Handel steht mittlerweile fest, dass Mitarbeiter von Geheimdiensten (beispielsweise des CIA) und Armeeangehörige ihre Stellung nutzen, um von dem zu profitieren, was sie eigentlich bekämpfen sollen. Noch steht der Beweis aus, dass dies auch beim Cannabishandel eine maßgebliche Rolle spielt.