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Elektronische Kultur

Kupfer am Limit – Technik, Wünsche und Probleme bei IPTV

telepolis, 18.12.2006

Technik, Wünsche und Probleme bei IPTV

Warum die Aufregung um den Start von IPTV bei den unterschiedlichen Anbietern? Das neue DSL bringt keine völlig neue Netzinfrastruktur, zumindest auf den letzten hundert Metern bleiben die alten Kupferadern in Betrieb. Aber: IPTV ist ein wichtiges Puzzlestück im sogenannten Triple-play, die Netzbetreiber würden es nur zu gerne sehen, wenn nicht nur Internet, sondern eben auch Telefon und TV über sie als Anbieter laufen und sie damit die gesamte Kommunikation im Privathaushalt übernehmen könnten.

Für die Telekom ist das fast überlebenswichtig. Ihr laufen seit Jahren die Kunden davon, um sich bei Mitbewerbern anzumelden. Mit viel Druck wird deshalb VDSL mit „T-Home“ beworben, die Kunden mit einem HDTV-fähigen Receiver mit 80 GB Festplatte und einem WLAN-Router beschenkt – und das bei einer vergleichsweise geringen Mindestvertragszeit von einem Jahr. Das Senderbouquet umfasst an die hundert Programme, es finden sich neben den üblichen Verdächtigen interessante Kanäle wie BBC-Prime und eine Al-Dschasira-Variante, zudem Exoten wie „Bibel TV“ und „Wine TV“ sowie eine Vielzahl an Shopping-Kanälen.

IPTV, also die Übertragung von Fernsehsignalen über geschlossene Netze unter Einsatz des Internet-Protokolls, bietet mindestens 100 Sender, die Telekom hofft auf neue Kundenbindung, auch Anbieter wie Kabel Deutschland, Hansenet, 1und1 und Arcor setzen auf die neue Übertragungsform. In der Schweiz will die Swisscom ebenfalls noch in diesem Jahr mit „Bluewin-TV“ den Markt beglücken. In Hamburg und Lübeck sind zurzeit die ersten 4000 Teilnehmer am „Alice homeTV“ der Firma Hansenet angeschlossen. VDSL ist hier nicht zwingend notwendig, um IPTV zu übertragen, das Programmbouquet wird bei Alice über die bestehenden ADSL-Leitungen geliefert.

Testbetrieb

Die Installation des von Hansenet mitgelieferten DSL-Modems von Siemens (CL-040-I) ist denkbar einfach. Die Verkabelung dahinter bringt schon eher logistische Probleme mit sich: Das Modem beherbergt vier Ethernet-Anschlüsse, einer davon geht zum Router oder eben direkt an den PC. Der für IPTV vorgesehene Slot ist markiert. Von hier aus muss ein Ethernet-Kabel zur mitgelieferten Set-Top-Box laufen, die über SCART an den Fernseher angeschlossen wird. Bei den meisten Anwendern dürften Modem und PC im Arbeitszimmer stehen, es ist also ein stabiles CAT-5 Kabel bis zum Standort des TVs im Wohnzimmer zu verlegen. Es sei denn, man schickt die bewegten Bilder über das Stromnetz mit Powerline-Adaptern in die gute Stube.

Nach Einführung der Identifizierungs-Smart-Card scannt der Receiver die Kanäle. Was nun folgt ist recht unbeschwerter Fernsehgenuss, an die langsamen Umschaltzeiten ist man seit DVB-T eh gewöhnt. Sollte das IP-Signal einmal abreißen ist ein Umschalten auf den integrierten DVB-T Receiver möglich. Die Benutzerführung durch die TV- und Programm Einstellungen ist eingängig, das EPG (elektronischer Programmführer, früher Teletext) läuft etwas hakelig, der Abruf eines Video-On-Demand Dienstes gelingt sofort. Wer hier schon jubelt: Die Box besitzt keine Festplatte.

Die Video-Abteilung ist bei Hansenet zurzeit noch mit wenigen Highlights beseelt, für einen Film werden zwischen 1,90 und 3,90 EUR berechnet, einige Filme und GEO-Reportagen lassen sich unentgeltlich anschauen. Am weitesten ist natürlich die Erotik-Sparte ausgebaut, hier werden diverse Filmchen des Immergleichen angeboten. Ein Hinweis auf die hauptsächlich anvisierte Zielgruppe?

An den Schnittstellen der Settop-Box der Firma ADB zeichnet sich schon die Zukunft ab. Hier ist neben dem herkömmlichen SCART-Ausgang und Cinch-Buchsen zusätzlich ein HDMI-Ausgang implementiert. Noch ist dieser nicht geschaltet, über ihn könnten zukünftig aber die hochauflösenden HDTV-Signale an den Bildschirm geliefert werden. Für die ruckelfreie Übertragung von HDTV genügt ADSL nicht mehr, gerade dann, wenn in einem Haushalt verschiedene Programme laufen oder eine Sendung aufgezeichnet, parallel aber eine anderen Sendung angeschaut wird.

Egal ob bei Hansenet, Telekom oder einem der anderen in den Startlöchern stehenden Anbieter: Damit über die herkömmliche Kupferleitung neben Internet und der Telefonie nun auch noch Fernsehsender übertragen werden können waren einige technische Hürden zu nehmen. Zum einen weist die herkömmliche, paketorientierte Übertragung von Datenströmen über das Internet Protocol (IP) Schwächen auf: Das TV-Programm der Sender wie ARD, SAT1 und anderen muss für den Videostream in IP-Pakete aufgesplittet werden. Im Netz wären diese Pakete dann grundsätzlich anderen Paketen, wie beispielsweise den Auslieferungen von Webseiteninhalten, gleichgestellt. Um einen für den flüssigen Empfang unbedingt notwendigen Durchsatz zu gewährleisten, müssen die TV-Pakete vorrangig behandelt werden. Dieser „Quality of Service“ (QoS) genannte Vorgang ist natürlich einfacher, wenn man Kontrolle über das gesamte Netz hat, von der Einspeisung bis zum Enduser also keine Verzögerungen auftauchen (end to end control).

Hinten anstellen

Trotz ADSL und VDSL kann selbst ein voll kontrolliertes Netz keine 100 TV-Sender parallel in 1000 oder gar Millionen von Haushalten übertragen. Die Signale stehen daher nicht wie beim Empfang über die Satelliten-Schüssel alle frei verfügbar in der Luft, sondern werden erst dann angefordert, wenn der Kunde an der Settop-Box den betreffenden Kanal aufruft. Die Box nutzt dazu das IP Group Membership Protocol (IGMP v2) und sendet in dem Moment einem Aufnahmeantrag für eine neue Multicast-Gruppe an den Provider. Dieser überprüft die Berechtigung des Nutzers und weist erst dann seine Router an, ihn auf die Liste der gewünschten Multicast-Gruppe des TV-Kanals zu setzen. Bis zum DSLAM läuft das Signal dann durch Glasfaser, wird dort demoduliert und in die Kupferader bis zum Kunden eingespeist. Nur IP-Multicast ermöglicht es also, dass in TCP/IP-Netzwerken effizient Daten an viele Empfänger zur gleichen Zeit gesendet werden können.

Alice empfängt auf dem Hansenet-Gelände im Nordosten Hamburgs mit fünf Satelliten-Schüsseln die Mpeg2-Signale der verschiedenen TV-Sender. Pro Fernseh-Kanal ist nun ein Encoder notwendig, um die Signale auf das Mpeg4 AVC Format zu codieren. Eine IPTV-Middleware von Alcatel (5950 Open Media Platform) ist die Steuerzentrale für die gesamte IPTV-Plattform. Die Datenbank verteilt die IP-Ströme an die verschiedenen Kunden. Alcatel hat auch die Schnittstellen zur Einbindung der Abrechnungs- und Verwaltungssysteme entwickelt. Diese Systeme kommunizieren mit der Settop-Box, die der Kunde auf seinem Fernsehgerät zu Hause stehen hat.

Im Gebiet der Hansestadt Hamburg sind Bandbreiten bis 16 Mbit/s möglich. An den Kunden werden mindestens 2,5 Mbit/s in guter Qualität bei PAL-Auflösung ausgeliefert. Dafür ist kein VDSL nötig, ein ADSL-Anschluss mit 4 Mbit/s im Downstream reicht aus.

Graue Eminenzen

Seit rund einem Jahr baut die T-Com ihre Verteilereinheiten in zehn Großstädten Deutschlands durch beeindruckend große DSLAMs (DSL Access Multiplier) aus. Die neuen grauen Kästen am Straßenrand fallen ins Auge. Über Glasfaser sind diese mit den Ortsvermittlungsstellen verbunden. Damit wird es möglich, Teilnehmer mit VDSL2-Anschlüssen zu versorgen, die eine Datenübertragungsrate von 100 Mbit/s und mehr haben können. Zunächst sind 25 Mbit/s geplant, das ist mehr als ausreichend, um das Schlüsselprojekt „Fernsehen über das Internet“ voranzutreiben.

ADSL (auch mit seinen schnelleren Varianten ADSL2 und ADSL2+) ist zwar eng verwandt mit VDSL und VDSL2. Allerdings darf bei VDSL die Entfernung zwischen dem DSLAM auf der Straße und dem DSL-Modem in der Wohnung 1500 Meter nicht überschreiten, danach sinkt das Niveau auf ADSL2+ Niveau herab. Mit anderen Worten: HDTV funktioniert unter Vollast nur dann wirklich störungsfrei, wenn die Kupferaderleitung nicht zu lang ist. So begründet sich die breit angelegte Aufstellung der Outdoor-DSLAMs in den Kerngebieten der Großstädte. Nicht umsonst haben diese Kästen umlaufenden Lüftungsschlitze: Voll ausgebaut beliefern sie mehrere hundert xDSL-Kunden und verbrauchen dabei bis zu 1 kW.

ADSL und VDSL2 nutzen unterschiedliche Transportprotokolle. Bei den herkömmlichen ADSL packt das Modem am PC die Ethernet-Pakete in PPP-Pakete (PPPoE), diese werden wiederum in kleinere ATM-Zellen gekapselt und über die DSL-Strecke verschickt. VDSL verzichtet auf ATM und versendet reine Ethernet-Pakete. Der Vorteil: Die DSLAMs müssen nicht mit einem teurem ATM-IP-Gateway bestückt werden und können mit vergleichsweise preiswerten Gigabit-Ethernet-Glasfaser angebunden werden.

Ausnahmeregulierung

Die IPTV-Signale von Hansenet laufen allerdings nicht über die grauen DSLAMs der T-Com am Bürgersteig, ein Umstand, den der ehemalige Staatskonzern auch so lange wie möglich aufrecht erhalten will. Schließlich hat man viel Geld in den Ausbau der VDSL-Infrastruktur gesteckt, man fordert von der Bundesregierung die vorläufige Ausnahme von der Regulierungspolitik, die es den Mitbewerbern normalerweise erlaubt, die Leitungen der Telekom zu nutzen. Hansenet schickt daher IPTV über sogenannte Kollokationsräume, von denen die Firma rund 120 im Stadtgebiet verteilt hat. Die DSLAMs von Hansenet stehen in diesen Räumen, von dortaus läuft das Signal über die normale Kupferleitung bis zum Kunden.

Das Unternehmen wie Hansenet das Produkt IPTV bisher noch gar nicht bewerben liegt an der Komplexität der erweiterten DSL-Technik: Immer mehr Leitungen im selben Kabelbündel übertragen DSL-Signale, sogenannte „Übersprechungen“ nehmen zu. Dazu kommen Störungen durch Einschaltimpulse elektrischer Verbraucher und durch Funkwellen. Die technischen Maßnahmen gegen Crosstalk und andere Störungen sind zwar ausgereift, müssen ihre Wirksamkeit aber unter Alltagsvollast noch beweisen. Noch kam es im Testbetrieb des Autors an wenigen Fernsehabenden zwei bis drei mal zu halbsekündlichen Aussetzern, die sich in Klötzchenbildern niederschlugen. Hansenet will das Produkt optimieren, bevor das Unternehmen ab Anfang 2007 Home TV in weiteren deutschen Städten anbietet. Alcatel gab an, ab sofort ein Tool bereitzustellen, mit dem gemessen werden kann, ob die Leitung zum Kunden IPTV störungsfrei liefert. Bewusst langsam erweitert man den Kundenkreis, die Versuche der Konkurrenz werden beobachtet. Auch Testversuche mit dem T-Home Angebot der Telekom verliefen zum Teil holprig (‚ct 25/2006, S.182).

Faszinierend bleibt, wie im Zeitalter der optischen Hochleistungs-Übertragungswege die über ein Jahrhundert alte Telefonleitung mit ihrem doppeladrigen Kupferkabel weiterhin als Trägermedium dient. Durch sie werden nicht nur Sprachtelefonie und DSL-Signale parallel versandt. Im Testbetrieb des Autors kam es trotz gleichzeitiger Nutzung von Telefon, FTP-Download, Webseitenaufruf, Tauschbörsennutzung und IPTV zu keinen oberflächlich sichtbaren Beeinträchtigungen einer der Übertragungswege. Und das wohlgemerkt ohne VDSL.

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24244/1.html

 

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Gesundheitssystem

Werbeslogans und Verpackungsangaben werden sich radikal ändern

telepolis, 09.12.2006

Wucht und Wahrheit in Tüten

Nach einem Beschluss der EU werden sich die Werbeslogans und Verpackungsangaben der Lebensmittelbranche radikal ändern müssen

Künftig sollen sich Verbraucher darauf verlassen können, dass die vollmundig-kryptische Werbung für Lebensmittel zutrifft. Die Verordnung über gesundheits- und nährwertbezogene Angaben der Europäischen Union legt fest, welche Substanz-Mengen ein Produkt enthalten muss oder darf, um mit bestimmten Slogans werben zu dürfen. Bislang war gesetzlich nicht geregelt was mit unscharfen Begriffen wie „zuckerarm“ oder „hoher Ballaststoffgehalt“ gemeint war. Zukünftig dürfen sie nur benutzt werden, wenn festgelegte Werte erfüllt sind. So muss ein Lebensmittel mindestens sechs Gramm Ballaststoffe pro 100 g enthalten, um mit der Angabe „hoher Ballaststoffgehalt” werben zu dürfen. Um als natrium- bzw. kochsalzarm zu gelten, muss ein Produkt weniger als 0,12 g pro 100 g oder 100 ml enthalten.

Das auf Packungen beliebte „fettarm“ wird ebenfalls genauer definiert: Erst bei weniger als drei Gramm Fett in 100 g und 1,5 Gramm Fett in 100 ml gilt Nahrung als fettarm. „Fettfrei“ darf sie sich schon nennen, wenn sie weniger als ein halbes Gramm pro 100 g enthält. Auch die für Diabetiker wichtige Bezeichnung „zuckerfrei“ operiert nicht mit dem Nullwert, sondern mit einem halben Gramm pro 100 g.

In der vom EU-Parlament genehmigten Fassung blieb der Artikel 4 über die umstrittenen sogenannten „Nährwertprofile“ erhalten. Danach darf eine nährwertbezogene Angabe nur gemacht werden, wenn das betreffende Lebensmittel ein bestimmtes Profil, beispielsweise einen geringen Gehalt an Salz, Fett oder Zucker aufweist. Diese Profile werden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) in den kommenden zwei Jahren festgelegt.

Die deutsche Ernährungs-Industrie wird die Erarbeitung dieser Nährwertprofile kritisch begleiten. Aus ihrer Sicht herrscht nun erst einmal Rechtsunsicherheit, denn bis zur Festlegung der Nährwertprofile – so meinen die deutschen Hersteller – kann man nicht sicher sein, ob ein Produkt einem bestimmten Nährwertprofil entspricht und ob er dann bestimmte nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben verwenden darf oder nicht. Jochen Schütz, Geschäftsführer der „Organisation Werbungtreibende im Markenverband“ (OWM), äußert sich entsetzt: „Das sind für Wirtschaftsunternehmen unzumutbare Unwägbarkeiten und machen eine vorausschauende Planung unmöglich.“Beim „Verbraucherzentrale Bundesverband“ (vzbv) sieht man das anders. Angelika Michel-Drees, Referentin für Ernährung beim vzbv, ist zuversichtlich, dass die Nährwertprofile mehr Transparenz bringen werden. Denn: „Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben für Produkte, die viel Zucker, Fett oder Salz enthalten wie beispielsweise Bonbons, Süßwaren und Knabberartikel können zukünftig nicht mehr künstlich aufgewertet werden, indem ihnen ein gesundes Image verliehen wird. In den letzten Jahren konnte wir gerade bei den angesprochenen Produktgruppen ein hohes und meist auch beabsichtigtes Täuschungs- und Irreführungspotential beobachten.“

Lange Zeit sann man in der deutschen Lebensmittelindustrie darüber nach, wie man mit dem Verbot der Gesundheits-Werbung kreativ umgehen kann. Im ersten Absatz von § 12 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch ) ist nämlich beschrieben, dass auf Lebensmittelpackungen oder in der Werbung keine Aussagen getroffen werden dürfen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen.

Rechtlich zulässig waren hingegen sogenannte „gesundheitliche Anpreisungen“, die nicht zu Täuschung Anlass gaben, wie etwa Hinweise über Natur und Funktion essentieller Stoffe. So konnte auf jeder Packung ein allgemeiner Satz stehen wie „Kalzium ist gut für die Knochen“. Zukünftig werden sich die Marketing-Strategen absichern müssen, denn ein solcher Satz muss in der EU mehrere Hürden nehmen: Er darf nur noch verwendet werden, wenn (1) die Angabe wissenschaftlich belegt, (2) nach einem eigens festgelegten Verfahren genehmigt und (3) in eine Gemeinschaftsliste zugelassener Angaben aufgenommen worden ist.
Zunächst bringt die EU-Verordnung dem Verbraucher mehr Informationssicherheit. In einem zweiten Schritt droht aber seine erneute Verwirrung im Gestrüpp wissenschaftlicher Expertisen und Gegenexpertisen.

Für werdende Mütter wird es sicher bald Vollkornprodukte mit dem Slogan geben: „Kieselsäure unterstützt das gesunde Wachstums des Fötus.“

Wo der Zusammenhang zwischen Batterieversorgung und Schwangerschaft noch weithin unbestritten ist, wartet auf die EU-Experten eine Vielzahl von Fällen, in denen denen der Einsatz oder Zusatz einer Stoffgruppe zu einem Nahrungsmittel umstritten ist.

Die Folgen liegen auf der Hand: Kleinere Unternehmen werden zunächst auf unsichere, nicht wissenschaftlich nachgewiesene Werbefilms verzichten müssen, die multinationalen Konzerne werden sich wissenschaftliche Studien leisten, um sich ihre Versprechungen absichern zu lassen.

Gottschalks Süßwaren werden auch weiterhin „Kinder froh“ machen, koffeinhaltige Drinks dürfen weiterhin „Flügel verleihen“, aber eine allgemeine „Halbierung der Kalorienaufnahme“ wird der Kunde bald nicht mehr auf den Packungen versprochen kriegen. Auch Angaben wie „baut Stress ab“, „erhöht die Aufmerksamkeit“ oder „verlangsamt den Alterungsprozess“ sind aus Sicht der EU zu vage, um im Regal zu landen. Kluge Ratschläge von Ärzten, zurzeit gerne mit Konterfei versehen, dürften in Zukunft ebenfalls von der Packung verschwinden. Die Begründung der EU: Solche Angaben suggerieren, dass die Nichteinnahme des spezifischen Produkts zu Gesundheitsproblemen führen kann.

Die Industrie hat sich Übergangsfristen erbeten. Frühestens 2009 wird mit der Gesamtliste der zulässigen gesundheitsbezogenen Angaben gerechnet, bis dahin können die alten Slogans und Aufdrucke weiter verwendet werden. Für Firmen und Konzerne aus der europaweiten Ernährungsbranche steht Arbeit an, die sich aber auszahlen wird: Waren die Anpreisungen von Heilerfolgen bisher gänzlich verboten, können zumindest bald solche aufgedruckt werden, welche die von den EU-Experten aufgestellten Hürden genommen haben.

Damit führt die EU ein, was in den USA schon seit längerem Usus ist. Dort überprüft die Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) die Formulierungen auf den Verpackungen, ein eigenes Gesetz (NLEA, nennt die Mengenvorgaben, ab wann ein Produkt beispielsweise als „gute Quelle für Vitamin C“ genannt werden darf. Die FDA gibt den Herstellern sogar Beispiele vor, wie ein guter Claim aussehen kann. Die EU-Verordnung ist schon jetzt deutlich an den NLEA angelehnt. Folgt man dieser Linie wird es demnächst in Europa – wie heute schon in den USA – Werbung geben, die neben den funktional-strukturellen Angaben auch auf gesundheitliche Vorteile hinweist. „Vitamin A fördert gesunde Augen“ ist eine Beispiel, „Protein baut ihre Muskeln auf“ ein anderes.

Gerade diese „health-claims“ stehen unter Beobachtung der FDA, mit den Weihen der Wissenschaft lassen sich hohe Umsätze generieren. Nach einer Erhebung aus dem Jahre 2001 trugen nur 4,4 % der Lebensmittel-Packungen Angaben über einen gesundheitlichen Vorteil.

Der von der EU noch zu erarbeitende Katalog mit den wissenschaftlich zurzeit nachgewiesenen Zusammenhängen zwischen Krankheitsvermeidung durch spezifische Inhaltsstoffe in Lebensmittel (zu finden hier: ist in den USA lang. Er erstreckt sich von Kalzium und Osteoporosis, über Folsäure und embryonalen Neuralrohrdefekten, dem bekannten Effekt von Natrium auf den Bluthochdruck bis hin zu den positiven Eigenschaften von Soja-Proteinen bei koronalen Herzerkrankungen.

Damit aber nicht genug. Durch den FDA Modernization Act (FDAMA,<http://www.fda.gov/cber/fdama.htm) von 1997 ist ein weiterer Index entstanden. Dieser weist auf die Gefahr von zu kaliumhaltiger Ernährung und Herzschlag sowie den Vorteilen einer Vollwertkorn-Ernährung hin. In einem weiteren Schritt etablierte die FDA 2003 eine Initiative, die in sogenannten „Qualified health claims“ und einer weiteren Aufstellung mündete. Hiernach dürfen auch vorsichtig formulierte Behauptungen aufgestellt werden, zu denen noch keinen abschließende wissenschaftliche Meinung vorliegt. In dieser Liste (http://www.cfsan.fda.gov/~dms/lab-qhc.html) tummeln sich Phospholipide wie Phosphatidylserin (http://www.cfsan.fda.gov/~dms/ds-ltr36.html), das den Verlauf der Alzheimer-Krankheit verlangsamt und bereits als Getränkezusatz eingesetzt wird, aber auch diverse Nüsse ), die gegen Herzerkrankungen helfen sollen.

Das neue Glück

Ob durch Expertisen abgesichert oder nicht: Alle diese Packungsangaben dürfen keinen Hinweise auf den Grad der Risikominimierung geben, die Hersteller spielen mit dem Konjunktiv. Und: Eine simple Zusammenpanschen von ein paar Ingredienzien reicht in USA nicht aus, um den Segen der FDA zu erhalten. Die Lebensmittel müssen zusätzlich mindestens 10% der Tagesration von einem oder mehr sechs wichtiger Nährstoffe (Vitamin A, Vitamin C, Eisen, Kalzium, Protein, Ballaststoffe) enthalten, die nicht angereichert sein dürfen. Zudem sind Grenzen bei gesättigten Fettsäuren, Cholesterin und Natrium einzuhalten.
Die Zukunft der europäischen Frontseiten-Werbeslogans und die der Angaben auf den Verpackungsrückseiten ist zwar stark reglementiert, die Verordnung gibt aber zugleich eine Richtung vor, die im Bereich des sogenannten „functional food“ zu höheren Umsätze führen wird. Wie sich diese Entwicklung mit der ebenfalls vorhanden Lust der Verbraucher auf „Bio“ verträgt muss sich noch zeigen. Ob „Qualität“ auf Dauer tatsächlich das „besten Rezept“ ist?

 

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Interview with Charles Grob

HanfBlatt Nr. 102

Hallucinogens and Higher Wisdom

Interview with Charles S. Grob

Charles S. Grob, M.D., is Professor of Psychiatry and Pediatrics at the Harbor-UCLA Medical Center. He is one of the rare breed of scientists that was allowed to conduct studies with empathogens and psychedelics in the recent years. In his case he was able to work with MDMA, Ayahuasca and Psilocybin. He published two
books („Hallucinogens“ and „Higher Wisdom“), that allow readers to dive into the  knowledge of emminent psychedelic researchers. We interviewed him during the „Spirit of Basel“-LSD-Symposium celebrating the 100th birthday of Albert Hofmann.

Charles Grob

adh/az: What kind of studies did you conduct with MDMA?

CG: I did a normal volunteers safety study with 18 subjects in 1994-95. There we looked at psychological and physical reactions and did some brain scans before and after MDMA. That was our only study with MDMA. After that we conducted a study with ayahuasca and psilocybin. We did separate studies, first with ayahuasca and later with psilocybin. Keep in mind that the psilocybin and ayahuasca studies were very dfifferent from one another.

adh/az: What was the reason for changing from MDMA to psilocybin?

CG: We were permitted to do a study with MDMA with normal volunteers, which we accomplished. It took a couple of years to do that. By the time we were applying again for approval to do a study with cancer patients, the field had become much more sensationalized, and also
recreational use had become more widespread among youth in the U.S.. By then the neurotoxicity issue had also become very politicized, so we decided for that reason and also because we felt psilocybin would be physiologically gentler and safer than MDMA in patients with serious medical illness, to switch our application from MDMA to psilocybin.

adh/az: Did you follow up the discussion about the neurotoxicity of MDMA?

CG: Yes. The neurotoxicity issue was flawed by very poor methodologies, statistical errors, manipulation of the data and conclusions that are not warranted. The conversant study of George Ricaurte has a number of flaws.
adh/az: Is there in the scientific community a discussion of the results of Rainer Thomasius, reputed in Germany for his „ecstasy“ studies?

CG: They say he does the same as George Ricaurte has done manipulating the data. Some scientists are searching for negative data, because that’s the way they get funded.

adh/az: How high are the psilocybin-doses that you use in your study? And what kind of psychotherapy-model do you use?

CG: We got an approve for a modest dose of 0,2 mg per Kilogram (equivalent to 14 mg for a 70 kg-person). Later I hope to climb up to 0,3 mg per Kilogram (equivalent to 21 mg for a 70kg-person). As a preparation we inform the patient about the study. We know them and they know us. The session itself is based  on the model of Stanislav Grof, mostly just guiding the patient through the experience. They lie down, put eye-shades and some head-phones attached to a CD-Player on. I just encourage them to go deeply into the experience. Every hour I check in, controlling the blood pressure and asking how they are doing. Some people may want to sit up
and talk about the experience but after a while I encourage them to lie down again. There is a lot of time for talking after the session.

adh/az: So after all the years it is still the almost 40-year old work of Grof guiding the therapists using psychedelics?

CG: Yes, he wrote and spoke more effectivly than any other I am aware of.

adh/az: You did research on the UDV (Uniao do Vegetal) in Brazil, one of three religious communities that are allowed to take ayahuasca as a sacramental drug.

CG: Yes, and I was surprised how well the people are developing. Their psychological testing was very good. In fact on certain measures they performed much better than the control group. Their personality structures looked very healthy. Some of them have had several pathologies in the past, like alcoholism, drug addiction, serious mood regulation disorders, and the current assessment was quite healthy. And all these conditions appear to be in remission. I would like to do a study which analyses the use of  ayahuasca in the treatment of alcoholics and drug addicts.

adh/az: Do you think the methods of the UDV can be an example for the sensible
use of entheogens?

CG: There are aspects of this religious group which are unique for Brazil. So for the brazilian culture it works very, very well. There are efforts to transplant it into the USA and it is more controversity here, but I think the proof is in the outcome. Many of the people transform their lives in a positive direction. There is great potential in our culture to examine how it might incorporate religious structures who use psychoactive sacraments.You need a ritual context to get good results. The compounds of ayahuasca alone might be not enough. More than other psychedelics ayahuasca is group work medicine.
adh/az: How far can we go in using psychedelics or entheogens? Are they really necessary in our society?

CG: Our cultures are in great crisis in social, economic and ecologic prospect. Horrible wars are going on. It is a very troubled world we live in. Psychedelics offer the potential to send some light and facilitating the
healing process. They have the potential to play an important role in the future going back to the planetary roots which have been damaged for centuries. This work is exhausting but a foundation for the generation
following us. To awaken for this potential accepting, open, legally  protected manners is important. Perhaps the shamanic model is providing a strong container for psychedelics.

adh/az: The shamanic model and the ritual model of groups like the UDV depend on the responsibility of their leader or leaders?

CG: Yes, that is a problem. His ethics have to be at the highest level. There is always a risk getting to people, setting themselves up as the all-knowing, all-wise gurus, who misuse and abuse their patients or followers. In the jungle of south america a lot of disreputable ayahuasceros are in it for the money. And in the western society this
problem will be getting worse, because of the seductions of the modern culture.

adh/az: You just edited a book called „Higher Wisdom. Eminent Elders Explore the Continuing Impact of Psychedelics“. What can the elders teach the psychedelic greenhorns?

CG: First, the elders of the psychedelic movement have great stories to tell, because they were the pioneers of a fascinating time in history. Second, people from one generation to the next don’t have to reinvent the wheel. Everone should learn from the lessons of the past. This is one problem of our culture, forgetting the lessons of the past and we keep making the same mistakes in the future.

adh/az: Which leads to the mistakes of the sixties.

CG: Sure there were mistakes. Pretty wild, pretty out of control. Efforts to create safe protected structures failed. In part because the culture wasn’t ready. Things got crazy and out of the hand. There were cases in which
unprepared people took very powerful drugs in an inadequate context without people supporting them, perhaps mixing it with alcohol or other drugs. People really didn’t understand to safeguard the experience. They looked
at it as a recreational drug which LSD and other psychedelics are not. These are powerful therapeutic tools, powerful transformative tools, powerful facilitators of religious experiences.

adh/az: Is for example Timothy Leary still a cultural hero for you?

CG: For me personally? Well, he is a fascinating figure. I met him on several occasions and was impressed by his intelligence and his sense of humor. And he articulated the concept of set and setting very early. But Tim
Leary also had a tremendous need to be in the spotlight, to get attention. Also he was a provocateur and had an animosity towards the establishment. This perhaps unneccessarily alienated parts of the culture that might have been potential allies. He wanted it all as soon as possible and for all the people. Beside that if not Tim Leary someone else would have filled that role. He is a tragic figure.

adh/az: Aldous Huxley preferred it the other way round.

CG: Yes, his concept was to introduce these drugs quiet and slowly to the leaders of the society, than there will be a ripple down effect. Leary thought that everone should have this experience.

adh/az: How would you define something called the psychedelic movement?

CG: There are young and old people who strongly identify with the counterculture of the sixties or the experience they had with psychedelics. From their perspective it is neccessary to stick together and build something like a community with analog values. The psychedelic communities from the sixties never died of and the rave and techno scene is anoffshoot of the psychedelic movement too.

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Elektronische Kultur

Die IT-Struktur von Sabre

Computer Zeitung, 09.10.2006

Drei Datenbankgenerationen wirken zusammen

Jörg Auf dem Hövel

(Als Original PDF)

Trennung von Info und Applikation ist bei Sabre nicht durchgehend – Synchronisations-Tool verwaltet Zusammenspiel verschiedener IT-Philosophien

Es ist mittlerweile über 12 Jahre her, dass der Reisereservierungs-Gigant Sabre über einen Umzug seines Buchungssystem von der bewährten IBM Mainframe auf eine neue Plattform begann nachzudenken. Bis dato hatten die Techniker die Anwendungen und Middleware intern programmiert, Reisebüromitarbeitern wurden am System geschult, die meisten Abfragen mündeten in Buchungen. Aber die Anforderungen an das System waren gestiegen: Nicht nur immer mehr Reisebüros und Fluggesellschaften griffen auf die Datenbank zu, durch den Ausbreitung des Internet-Zugänge war man auch mit einer zunehmenden Anzahl von Endkunden konfrontiert. Diese verlangten viele Suchoptionen bei kurzen Antwortzeiten. Die Kosten stiegen, seither befindet sich Sabre in einer ständigen Modifikation ihres IT-Systems.

Mit Stolz verweist Sabre darauf, dass man mehr Transaktionen pro Sekunde verarbeitet als die New Yorker Börse. Die Zahlen sind tatsächlich beeindruckend: Die Pricing-Applikationen hält ständig 20 Millionen Tarife und deren Bedingungen sowie 1,5 Millionen Flugpläne auf dem aktuellsten Stand. Es erhält 350 Millionen Nachrichten am Tag, in Spitzenzeiten 18.000 per Sekunde. 2005 wurden 340 Millionen Buchungen vorgenommen.

In den 60er Jahren hatten IBM und American Airlines in einem Projekt Hard- und Software aufeinander abgestimmt, um das anspruchsvolle Projekt eines ständig verfügbaren Reservierungssystems zu bewältigen. Entwickelt wurde das TPF (transaction processing facility), das nur auf Großrechnern von IBM lief. Spätestens mit dem Eintritt des versierten, optionshungrigen Websurfers stiegen die Anforderungen an die CPU, die das TPF kaum noch erfüllen konnte. In der IT-Abteilung sprach man „shopping problem“. Dazu kam: Das System galt schon immer als teuer im Unterhalt und äußerst schlecht Skalierbarkeit.

Im Jahr 2000 startete Sabre daher zusammen mit Compaq einen Versuch, die damals entwickelte Himalaya „NonStop“ Plattform für Sabre nutzbar zu machen. Das Ziel: Kostenminimierung bei gleichzeitiger Erhöhung der Skalierbarkeit und Flexibilität des Systems. Zwei Jahre später, Compaq war mittlerweile von Hewlett Packard übernommen, wurden die ersten 17 Stück der S8600 NonStop Server als fehlertolerante Hauptdatenbank aufgeschaltet. Die Rechner verfügen über eine redundante Prozessor-Architektur und gewährleisten hohe Ausfallsicherheit. Beim ersten Anlaufen war man überrascht: Die NonStop Server bewältigen die gesamte operationale Last mit gerade einmal 7 Prozent ihrer Prozessorkapazität. Bei Sabre war man dermaßen überzeugt von dieser Leistung, dass man auch andere Anwendungen wie das Ticketing auf die NonStop Plattform schob.

Diese dient heute vor allem da, wo read/write Prozesse gefordert sind, so beispielsweise bei Kundendaten. Ein kompletter Umzug der Datenbank auf NonStop ist nicht geplant, gerade bei read-only Daten wie Flugpreisen sei man weiterhin sehr zufrieden mit TPF. Dies bedeutet, dass sich bei Sabre unterschiedliche Architekturen mischen. Während grundsätzlich ein Mehrschichtenmodell herrscht, das die Geschäftsebene von der Datenbank trennt, gibt das Betriebssystem von IBM-TPF die parallele Anordnung von Applikations- und Datenbankzugang vor.

Einen ersten Schritt Richtung Open-Source wagte Sabre vor 15 Jahren. Die CPU- und speicherhungrigen Preisabfragen wurden auf 45 Vierwege rx5670 von HP (Intel 64-bit Itanium Prozessoren, 32 GB RAM) ausgelagert, auf denen eine SQL-Datenbank unter Red Hat Linux lief. Sabre setzt eigenen Angaben nach auch heute immer dann gerne auf Linux, wenn horizontales Skalierung gefragt ist, also durch die einfache Zuschaltung weiterer Server die Kapazität erhöht werden kann. Die Schnelllebigkeit der Branche führte dazu, dass man momentan dabei ist, die rx5670 Maschinen auszumustern und zu ProLiant DL585 Servern mit (dual-core) Opteron-Prozessoren zu wechseln.

So entstand eine hybride Architektur mit hochmodernen Servern und bewährten „Altlasten“: Auf der einen Seite ein Cluster mit NonStop Servern, auf der anderen Seite die IBM-Großrechner der zSerie mit TPF. Hier werden die wichtigen back-end Aufgaben erledigt und die Transaktionsdaten bearbeitet. Dazu kommt eine stetig wachsende Farm von preiswerten Linux-Systemen, die die CPU-hungrigen Abfragen und die SQL-Datenbank beherbergt.

Das Zusammenspiel der beiden Ebenen garantiert die Firma „GoldenGate“. Deren Synchronisations-Software registriert jedwede Modifikation in der NonStop Datenbank, transformiert sie für die SQL-Datenbank und leitet sie zu der Server-Farm. Die SQL-Datenbank beinhaltet 150 Tabellen, die NonStop Plattform 280. Stündlich kommen bis zu 300.000 Updates zustande, im Durchschnitt beherbergt ein Server rund 50 Gigabytes an Daten. Zählt man die verschiedenen Datenbanken zusammen, kommt Sabre auf über 50 Terybytes an Daten.

Ende der 90er Jahre standen einem Benutzer bei Sabre neun Buchungs-Optionen zur Verfügung, 2004 waren es schon 19, heute sind es Hunderte: Preisvergleiche, Flugalternativen, Mietwagen, Hotelzimmer, integrierte Reiserichtlinien. Die Komplexität des Systems ist deutlich: Für eine einzelne Abfrage eines Kunden muss die Shopping- und Pricing-Applikation über 3 Millionen mögliche Tarif-Kombinationen berücksichtigen. Mehr als drei Sekunden Wartezeit gelten bei Web-Surfern heute schon als unakzeptabel, rechnet man die Transitzeiten hinzu, müssen die Sabre-Server also in Millisekunden reagieren.

2001 gab Sabre das gesamte Management seiner IT-Systeme an EDS (Electronic Data Systems) ab, die Firma, die 1962 vom späteren Milliardär und Präsidentschaftskandidaten Ross Perot gegründet wurde. Der Vertrag hat eine Laufzeit von zehn Jahren und ein Volumen von immerhin 2,2 Milliarden US-Dollar. Rund 4.200 Mitarbeiter der IT-Abteilung von Sabre wechselten zu EDS. EDS sorgt auch dafür, dass die redundanten Datencenter per Glasfaserstrecken miteinander verbunden sind.

Die Sabre Holding ist heute in drei Geschäftsbereiche aufgeteilt: „Sabre Travel Network“, „Travelocity” und “Sabre Airline Solutions”. Das Sabre Travel Network mit seinem oben beschriebenen globalen Reservierungs– und Distributionssytem (GDS und CRS) verbindet Reisebüros und Lieferanten mit Kunden. Mindestens 50.000 Reisebüros sind hier weltweit angeschlossen, dazu über 400 Fluglinien, 72.000 Hotels, 32 Mietwagenfirmen, 35 Bahngesellschaften und 11 Kreuzfahrlinien. In Deutschland ist hier auch die Geschäftsreise-Online-Booking-Engine “GetThere” angeschlossen. Travelocity ist die für jedermann online verfügbare Internet Booking Engine, zu der auch lastminute.com und holidayautos.com gehören. Die Sabre Airline Solutions stellt Service für Airlines bereit. Alle diese drei Geschäftsbereiche greifen auf die in den USA verteilte Datenbanken zu.

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Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Charles Grob

HanfBlatt Nr. 102

Halluzinogene und höhere Weisheit

Interview mit dem Psychiater Charles S. Grob

adh/az

Charles S. Grob ist Professor für Psychiatrie und Kinderheilkunde am Harbor-UCLA Medical Center in Los Angeles. Er gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die in den letzten Jahren in den USA die Wirkungen empathogener und entheogener Substanzen an Freiwilligen legal beforschen durften. In seinem Falle waren dies MDMA, volkstümlich als „Ecstasy“ bekannt, und Psilocybin, dem Wirkstoff der sogenannten „Zauberpilze“. In Brasilien untersuchte er die Rolle des halluzinogen Pflanzencocktails Ayahuasca als Sakrament in der Religionsgemeinschaft UDV (Uniao do Vegetal). Dabei handelt es sich um eine der drei Gruppen, denen dort der Gebrauch von Ayahuasca erlaubt ist.

Grob hat neben diversen wissenschaftlichen Aufsätzen zwei Bücher („Hallucinogens“ und „Higher Wisdom“) herausgebracht, in denen er wichtige Schriften bedeutender Persönlichkeiten zur Thematik und Problematik der Halluzinogene (Psychedelika bzw. Entheogene) und Empathogene (Entaktogene) versammelt. Wir interviewten ihn auf dem LSD-Symposium anläßlich des 100sten Geburtstages von Albert Hofmann in Basel. Grob ist als Interviewpartner heiß begehrt, gleichwohl nimmt er sich viel Zeit für uns.

Charles Grob Hb: Professor Grob, welche Art von Studien haben Sie mit MDMA durchgeführt?

Charles S. Grob: Ich führte in den Jahren 1994 und 1995 mit 18 normalen Freiwilligen eine Sicherheitsstudie durch. Wir beobachteten die psychischen und physiologischen Reaktionen und machten einige Gehirnscans vor und nach Einnahme von MDMA. Das war unsere einzige Studie mit MDMA. Danach führten wir eine Studie mit Ayahuasca und eine weitere mit Psilocybin durch. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese beiden Studien sehr unterschiedlich waren.

Hb: Was war der Grund dafür, von MDMA zum Psilocybin zu wechseln?

CG: Wir hatten mehrere Jahre gebraucht, bis man uns erlaubte, an gesunden Freiwilligen die Studie mit MDMA durchzuführen. Zu dem Zeitpunkt als wir schließlich die Erlaubnis für eine weitere Studie mit Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium beantragten, war das Thema MDMA mittlerweile sehr dramatisiert worden. Auch der Freizeitgebrauch von „Ecstasy“ unter Jugendlichen in den U.S.A. hatte sich weiter verbreitet. Die Neurotoxizitäts-Problematik war stark politisiert worden. Aus diesem Grunde, und weil wir der Auffassung waren, dass Psilocybin bei Patienten mit schweren Erkrankungen physiologisch sanfter und sicherer als MDMA sein würde, beschlossen wir unseren Antrag von MDMA auf Psilocybin umzustellen.

Hb: Haben Sie sich über die Neurotoxizitäts-Diskussion auf dem Laufenden gehalten?

CG: Ja. Die Neurotoxizitäts-Thematik wurde verfälscht durch sehr schwache Methoden, statistische Fehler, Manipulationen der Daten und Schlussfolgerungen, die nicht berechtigt waren. Die umstrittene Studie von George Ricaurte weist eine Reihe von Fehlern auf.

Hb: Gibt es in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Diskussion der Ergebnisse von Rainer Thomasius, der in Deutschland für seine „Ecstasy“-Studien bekannt ist?

CG: Sie sagen, dass er dasselbe macht, was George Ricaurte getan hat: Manipulieren der Daten. Einige Wissenschaftler suchen nach negativen Daten, weil sie auf diese Weise finanziert werden.

Hb: Wie hoch sind die Psilocybin-Dosen, die Sie in ihrer Studie verwenden? Und welches psychotherapeutische Modell verwenden Sie?

CG: Wir erhielten die Erlaubnis für eine maßvolle Dosis von 0,2 mg pro Kilogramm Körpergewicht (entsprechend einer Dosis von 14 mg bei einer 70 kg-Person). Später hoffe ich auf bis zu 0,3 mg (entsprechend 21 mg bei einer 70 kg-Person) steigen zu können. Zur Vorbereitung klären wir die Patienten über die Studie auf. Wir kennen sie, und sie kennen uns. Die Sitzung selbst basiert auf dem Modell von Stanislav Grof, im Wesentlichen heißt das einfach den Patienten durch die Erfahrung zu geleiten. Sie legen sich hin und setzen Augenklappen und an einen CD-Spieler angeschlossene Kopfhörer auf. Ich halte sie dazu an, tief in die Erfahrung einzusteigen. Stündlich schalte ich mich ein, kontrolliere den Blutdruck und frage nach, wie es ihnen geht. Einige Leute möchten sich aufrichten und über die Erfahrung sprechen, aber nach einer Weile rege ich sie dazu an, sich wieder hinzulegen. Nach der Sitzung ist reichlich Zeit zum Reden vorhanden.

Hb: So ist es immer noch die nun mehr fast 40 Jahre alte Arbeit von Grof, die den Psychedelika einsetzenden Therapeuten als Anleitung dient?

CG: Ja, er schrieb und lehrte effektiver als irgend jemand sonst, der mir bekannt ist.

Hb: Sie haben die UDV (Uniao do Vegetal) in Brasilien untersucht, eine von drei religiösen Gemeinschaften, denen es erlaubt ist, das DMT-haltige Ayahuasca als sakramentale Droge zu nutzen.

CG: Ja, und ich war überrascht, wie gut sich die Menschen dort entwickeln. Ihre psychologischen Testergebnisse waren sehr gut. Tatsächlich schnitten sie in bestimmten Kategorien besser ab als die Kontrollgruppe. Ihre Persönlichkeitsstrukturen sahen sehr gesund aus. Einige von ihnen hatten in ihrer Vergangenheit verschiedene Pathologien gehabt, wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, schwere Stimmungsregulationsstörungen, und der aktuelle Befund war ziemlich gesund. Und all diese Konditionen scheinen in Remission zu bleiben. Ich würde gerne eine Studie machen, die den Gebrauch von Ayahuasca in der Behandlung von Alkoholikern und Drogenabhängigen analysiert.

Hb: Glauben Sie, dass die Methoden der UDV ein Beispiel für den vernünftigen Umgang mit Entheogenen sein können?

CG: Einige Aspekte dieser religiösen Gruppe sind ziemlich einzigartig für Brasilien. Für die brasilianische Kultur funktioniert sie sehr, sehr gut. Es gibt Bestrebungen, sie in die U.S.A. zu verpflanzen, und es ist hier kontroverser, aber ich glaube, dass am Ende zählt, was dabei rauskommt. Viele der Menschen verändern ihr Leben in einer positiven Richtung. In unserer Kultur besteht ein großes Potential darin zu untersuchen, wie sie religiöse Strukturen, die psychoaktive Sakramente benutzen, inkorporieren kann. Man braucht einen rituellen Kontext um gute Ergebnisse zu erhalten. Die Bestandteile des Ayahuascas allein dürften nicht genügen. Mehr als jedes andere Psychedelikum ist Ayahuasca Gruppenarbeits-Medizin.

Hb: Wie weit sollte man im Gebrauch von Psychedelika oder Entheogenen gehen? Sind sie für unsere Gesellschaft wirklich notwendig?

CG: Unsere Kulturen sind in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht in einer großen Krise. Schreckliche Kriege finden statt, wir leben in einer sehr problembelasteten Welt. Psychedelika bieten das Potential etwas Klarheit zu bringen und den Heilungsprozess zu fördern. Sie haben das Potential in der Zukunft eine wichtige Rolle dabei zu spielen, uns wieder an die planetarischen Wurzeln zu führen, die seit Jahrhunderten beschädigt werden. Diese Arbeit ist anstrengend, aber eine Grundlage für die Generationen, die nach uns kommen. Für dieses Potential akzeptierende, offene, legal geschützte Bedingungen zu schaffen ist wichtig. Vielleicht bietet da das schamanische Modell eine gute Grundlage für die Psychedelika.

Hb: Das schamanische Modell und das rituelle Modell von Gruppen wie der UDV hängt von der Verantwortlichkeit ihres Führers oder ihrer Führer ab.

CG: Ja, das ist ein Problem. Seine Ethik muss auf dem höchsten Niveau sein. Da besteht immer ein Risiko für die Menschen, sich selbst als allwissendende, allweise Gurus aufzuspielen, die ihre Patienten und Anhänger missbrauchen und erniedrigen. Im Regenwald Südamerikas sind eine Menge verrufener Ayahuasceros nur des Geldes wegen bei der Sache. Und in der westlichen Gesellschaft wird das Problem auf Grund der Versuchungen der modernen Kultur noch schlimmer werden.

Hb: Sie haben gerade ein Buch herausgebracht mit dem Titel „Higher Wisdom. Eminent Elders Explore the Continuing Impact of Psychedelics“. Was können die Alten den psychedelischen Greenhorns lehren?

CG: Erstens haben die Altvorderen der psychedelischen Bewegung großartige Geschichten zu erzählen, weil sie Pioniere in einer faszinierenden Zeit der Geschichte waren. Zweitens müssen die Menschen von einer Generation zur Nächsten nicht das Rad neu erfinden. Jeder sollte von den Lektionen der Vergangenheit lernen. Das ist ein Problem unserer Kultur, dass man die Lektionen der Vergangenheit vergisst und die gleichen Fehler in der Zukunft wiederholt.

Hb: Was uns zu den Fehlern der Sechziger führt.

CG: Sicher gab es da Fehler. Ziemlich wild, ziemlich außer Kontrolle. Bemühungen sichere geschützte Strukturen zu schaffen scheiterten, teilweise, weil die Kultur dafür nicht bereit war. Dinge wurden abgedreht und entglitten. Es gab Fälle, in denen unvorbereitete Leute sehr machtvolle Drogen in unangemessenen Kontexten einnahmen, ohne Menschen, die sie unterstützten, vielleicht auch noch gemischt mit Alkohol oder anderen Drogen. Die Leute verstanden nicht wirklich, die Erfahrung zu schützen. Sie betrachteten sie als Freizeitdrogen, was LSD und andere Psychedelika nicht sind. Es handelt sich dabei um mächtige therapeutische Hilfsmittel, mächtige transformierende Werkzeuge, mächtige Förderer religiöser Erfahrungen.

Hb: Ist Timothy Leary noch ein kultureller Held für Sie?

CG: Für mich persönlich? Nun ja, er ist eine faszinierende Figur. Ich traf ihn bei verschiedenen Gelegenheiten und war von seiner Intelligenz und seinem Sinn für Humor beeindruckt. Und er artikulierte sehr früh das Konzept von Set und Setting. Aber Tim Leary hatte auch ein enormes Bedürfnis im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Obendrein war er ein Provokateur und hatte eine Abneigung gegenüber dem Establishment. Das verschreckte vielleicht unnötigerweise Teile der Kultur, die potentielle Verbündete hätten sein können. Er wollte alles so schnell wie möglich und für alle Menschen. Unabhängig davon, wenn nicht Tim Leary, dann hätte jemand anderes diese Rolle eingenommen. Er ist eine tragische Figur.

Hb: Aldous Huxley bevorzugte es anders rum.

CG: Ja, sein Konzept war es, diese Drogen ruhig und langsam den Führenden der Gesellschaft nahe zu bringen, dann würden die positiven Auswirkungen nach unten durchrieseln. Leary war der Auffassung, jeder sollte diese Erfahrung haben.

Hb: Wie würden Sie das definieren, was man die „psychedelische Bewegung“ nennt?

CG: Es gibt junge und alte Menschen, die sich stark mit der Gegenkultur der Sechziger identifizieren oder den Erfahrungen, die sie mit Psychedelika machten. Aus ihrer Perspektive ist es notwendig zusammen zu halten und so etwas wie eine Gemeinschaft mit analogen Werten zu bilden. Die psychedelischen Gemeinschaften der Sechziger sind nicht ausgestorben, und die Rave- und Techno-Szene ist auch ein Spross der psychedelischen Bewegung.

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Reisen

Fincahotels im Hinterland: Das andere Mallorca

www.aufdemhoevel.de, September 2006

Jenseits der Küste – das andere Mallorca

Ballermann, Sangria und proppenvolle Strände? Mallorca ist ganz anders, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Juli 2006, Hochsaison, Ankunft in Palma de Mallorca und wir haben keine Unterkunft. Aber einen Mietwagen, den wir recht preiswert über www.doyouspain.com reserviert hatten. Abfahrt vom Flughafen Richtung Stadt, es ist spät. Wir sind in Top-Laune und müssen nur eine Nacht überbrücken, bevor wir auf ein Finca-Hotel im Landesinneren ziehen dürfen. Über zwei Wochen lang wollen wir verschiedene kleine Fincas, Hotels und Pensionen ansteuern, dabei möglichst gut Essen und viel Lesen.

In einem Anfall von Übermut steuern wir Richtung El Arenal. Etwas Kalkül ist auch dabei, denn die Zimmer sind vielleicht billig, sicher aber preiswert vor Ort. Vom Flughafen aus sind es nur ein paar Minuten bis in die Hochburg deutscher Auslandskultur. Nichts los rund um den Ballermann, trotz Hauptreisezeit wirkt es trostlos, ein paar Besoffkis, ein paar Bauchnabel.

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Wir halten vor einem kleinen Hotel in einer Nebenstraße, Pool vor der Tür, ich öffne die Eingangstür und stehe im Inferno: Ein riesiger Köter kommt auf mich zugewatschelt, aus den Boxen tönt Hühnerstall-Techno, auf dem Riesen-TV in der Ecke läuft RTL, vor dem Bartresen ein paar dumpfe Gestalten, der Geruch vom „Kleinen Feigling“ liegt in der Luft. Hinter der Bar ein freundliches Lächeln, ja, hier sei noch was frei, eine Nacht?, o.k., zahlbar im voraus, Frühstück von 8 bis 14 Uhr. „Nehmen wir!“ Koffer hoch, der Hund schnuppert an mir rum.

Lockeres Buffett, etwas schwitziger Käse, aber alles lecker. Und natürlich: Wärme auf der Terasse, endlich Sonne. Wenig Gründe hier längern rumzulungern, wir fahren Richtung Norden. Vor uns spannt sich der Bergrücken der Serra de Tramuntana. Da müssen wir rüber, um Richtung Soller zu kommen. Wir fahren lieber hindurch, der Tunnel kostet ein paar Euro, aber egal, man spart sich den Bergpass. Erst mal einen Cafe und ein paar Encimadas. Soller sollte als Blaupause für mallorcinische Kleinstädte dienen, dann wäre alles gut. Umgeben von Berggipfeln öffnet es sich Richtung Meer.

Ein typisches Großdörfchen, auf dessen Kirchplatz sich schon Morgens die Einwohner zum Plausch treffen. Kinder spielen, Stühle werden für eine abendliche Fiesta aufgebaut. Am Bahnhof fährt gerade eine antike Bahn ein, die, wie ich später erfahre, kein Touristengag ist, sondern regelmäßig (6 x täglich) zwischen Palma und Soller pendelt. Eine Siemens-Lok aus dem Jahre 1927 zieht die Wagons, pitturesk. Das Ding wird noch immer „Roter Blitz“ genannt. Unweit vom Bahnhof fährt ein genauso schräges und altes Gefährt, die Straßenbahn von Soller nach Port de Soller. Wir sind begeistert, als wir durch die engen Gassen stromern, ich komme mit einer Künstlerin ins Gespräch, die in ihrem offenen Atelier aus Olivenbäumen organische Kunstwerke formt. Sie empfiehlt uns ein Lokal am rechten Rande des Marktplatzes, in dem wir Tage später gute Tappas essen werden.

Steilküste bei Deia
Steilküste bei Deia

„Willkommen auf Can Coll“, sagt der Mann zu mir. Es ist Daniel Seeling, der zusammen mit seiner Frau das Finca-Hotel am Hang leitet. Es wirkt paradiesisch vor Ort: Palmen, Öl- und Feigenbäume, Zitrusfrüchte. Vom Pool aus, der zwischen alten Olivenbäume liegt, hat man einen Blick auf Soller, hier suche mir meine Liege aus und nehme mir vor, sie die nächsten drei Tage nicht mehr zu verlassen. Willkommen in Wellville von T.C. Boyle ist der Plan. Real und im virtuellen Raum. Die Hütte ist mehr als gepflegt: Grafiken an den Wänden, Bildbände, eine Bodega, eine offene Küche. Top-Styling, mir etwas zu durchdacht, aber für viele garantiert die Erfüllung aller Urlaubsträume.

Die diverse Teesorten überfordern mich zum Frühstück. Earl Grey funktioniert immer, dazu frisch gepressten Orangensaft. Luxus, lange wollen wir uns das nicht leisten. Wir schauen uns die anderen Zimmer an, alle nach Früchten und Düften benannt. Fernsicht, die Suite im Obergeschoss ist mit Teleskop ausgestattet. Am Pool liegt ein rund 50-jähriger Mann mit seiner Frau, der mir schon beim Frühstück aufgefallen war. Sie bewohnen die Suite, Morgens ist er heiß auf die FAZ. Erfolgreicher Geschäftsmann mit trockenem Zynismus, der erst im Urlaub richtig zur Geltung kommen, dann, wenn alles gut läuft und es trotzdem immer was zu verbessern gibt. Die griesgrämige Fresse konterkariert wunderbar mit der Badehosen, die mit Inka Mustern in Neonfarben überrascht. Beim Eincremen scheint er von seinem eigenen Körper angewider zu sein. Um besser drauf zu kommen, kümmere ich mich um den Sonnenschutz bei meiner Frau.

Strandbeben

Immerhin ist die Inselküste 555 Kilometer lang. Aber in der Hauptsaison ist es so gut wie unmöglich einen einsamen Strand auf Mallorca zu erwischen. Aber: Die Steilküste im Norden bietet schwer zugängliche Abschnitte, die zwar kein Sand-Feeling, dafür aber Einsamkeit und klares Wasser bieten. Zwischen Soller und Deja (Deia) windet sich eine Serpentine, die wenig befahren und höchst attraktiv ist. Teilweise ist Schritttempo angesagt, wir genießen die Langsamkeit und den vollklimatisierten Wagen – bis wir merken, dass die Klima-Anlage Mengen an Sprit verbraucht. Fahrtwind tut es auch. Bei „Es Canyaret“ und einem Hotel mit Namen Costa d’Or steigen wir hinab. Ein langer Kletterpfad führt hinunter, Trittsicherheit ist hier gefragt. Unten relaxen ein paar Spanier, Felssteine bieten Sichtschutz, gut so, die meisten sind nackt. Ein Tag Sonne. Auf dem Rückweg schauen wir uns das Hotel näher an, Wahnsinnslage mit Blick aufs Meer, sehr einsam gelegen. Wir merken uns das vor – wenn wir mal wieder volle Kassen aufweisen können.
Deia selbst gilt als sogenanntes „Künstlerdorf“. Das verspricht den Ausverkauf der Kreativität. Einige Promis haben sich hier und in der Nähe niedergelassen, Michael Douglas wird hier gesichtet, der Chef von Virgin-Recors. Na ja, ich würde ja lieber Lukas Podolski begegnen, der soll laut „Mallorca Magazin“ auf der Insel sein.

Im Gegensatz zu Orten wie Port d‘ Andratx hat Deia seinen Charme behalten, keine Neubau-Siedlungen verschandeln das Dorf. Wir schlendern zu einem Restaurant, was uns von einer Freundin empfohlen wurde, das Xelini. Wir Essen nur Tapas, davon aber viele. Klassiker wie die Gambas in Öl sind genauso lecker wie eingelegtes Hühnchen. Dazu der Wein des Hauses und alle sind zufrieden.

Schön, weil nicht benötigt: Zahnarztpraxis in La Palma
Schön, weil nicht benötigt: Zahnarztpraxis in La Palma

Nach ein paar Tagen suchen wir uns eine neue Unterkunft. Wir kommen im „El Encinar“ unter, einem Finca-Hotel in der Nähe von Arta. In der Nähe befinden sich gleich vier, der für Mallorca inzwischen obligaten Golfplätze. Uninteressant für uns, wir unternehmen Tagesausflüge an die Küste. Wie stolpern an einige Strände an der Ostküste, aber egal wie sie heißen, Cala Estany, Cala Nao oder Cala Bona, sie sind voll. So ein, zwei Mal haben wir nichts dagegen, zwischen eingeölten Leibern zu liegen, die ihren Kinder damit drohen, dass es „heute kein Eis gibt, wenn ihr jetzt nicht Ruhe gebt“, aber dann haben wir genug.
Die Cala Falco ist da ein Tipp, sie ist schwer zu finden: in der Nähe von Son Forteza Vell, kurz vor der Abzweigung nach Manacor, eine 300 Meter langer Feldweg, wir parken vor einem Tor, vier andere Autos stehen da. Nach einer zehnminütigen Wanderungen durch herrliche Landschaft erreichen wir die Bucht. Feiner Sandstrand, sechs Menschen, ein Traum. Bis in den Abend hinein sitzen wir hier.

Den nächsten Tag genießen wir die Finca, ich spiele mit dem Hund. Abends geht’s nach Capdepera, einem Bergdorf hinter Arta. Wir klettern auf die nahe Burg, der Hunger treibt uns ins Kikinda, ein Restaurant. Als ich sehe, dass drinnen ein Holzkohleofen brennt, vor dem ein symphatischer Spanier Pizzen belegt, weiß ich, was zu tun ist. Volltreffer.

Das Autofahren ist auf Mallorca kein Abenteuer mehr, es wird erheblich ruhiger gefahren als beispielsweise auf der Nachbarinsel Ibiza. Mehrere Autobahnen durchziehen die Insel, nicht schön, aber praktisch. Es wird immer weiter gewühlt, um auch den letzten Winkel bequem erreichbar zu machen. Wir schaukeln über die 220 nach Port de Pollenca (Puerto de Pollensa), um ein paar Freunde zu treffen. Der Strand ist lang, die Straße zwar direkt dahinter, aber das stört nicht. Die Strandpromenade ist niedlich, immer wieder durchbrechen kleine Buchten die Sicht, in denen sich deutsche, englische und spanische Familien tümmeln. Der Ort ist irgendwie reizend, wirkt mediteran. Wir verbingen den Tag spielend im Wasser, Abends fallen wir nur zwei Luftmatratzenlängen weiter in ein Hotel mit Namen „H. Bahia“, auf deren Terrasse wir köstliches erwarten. Wasser und Wein schmecken auch gut, die kalte Tomatensuppe geht noch durch, die Paella allerdings ist undiskutabel. Das ficht uns nicht an, wir beobachten die Scharen von versandeten Strandgängern, die erst mal zu Hause duschen wollen, bevor das leichte Hemd übergeworfen und das Restaurant der Wahl angesteuert wird. Quirlig hier, die Promenade wird immer voller, Musikanten spielen auf, die Sandburgerbauer lassen Münzen in ihre Objekte werden, überall im Blickfeld Billig-Uhren und Sonnenbrillen.

Tage vergehen, wir schauen uns aus Interesse noch ein paar Fincas und Landhotels an. Gut gefällt uns das Can Verderol in der Nähe von Inca. Die hohen Räume geben großzügige Gefühle, alles wirkt trotz der schweren Steine und des dunklen Holzes sehr licht. Leider sind die deutschen Herren ausgebucht.
Palma de Mallorca besuchen wir gleich mehrmals. Die Stadt freakt angenehm vor sich hin, natürlich auch hier die Touristenströme, aber in den ruhigeren Ecken der Stadt ist davon nichts zu merken. Gleich hinter dem Mühlenhügel erinnert es an das Hamburger Schanzenviertel. Zur Mittagszeit landen wir zufällig Bon Lloc, einem vegetarischen und politisch verdammt korrekten Restaurant. Sehr preiswert, sehr gut. Abends sitzen wir über Stunden im Celler Sa Premsa, einem urgemütlichen Schuppen mit unkomplizierter Hausmannskost.

Fazit: „Mallorca hat auch schöne Seiten“, das ist zwar ein Allgemeinplatz, aber die Insel bietet alleine schon aufgrund ihrer Größe tatsächlich einen ewigen Fundus für Entdecker. In Bettenburgen braucht sich keiner mehr quälen, die vielen Finca-Hotels und kleinen Ressorts sind zwar meistens nicht ganz billig, bieten aber dafür Ruhe, Natur und nette Gäste. Strandleben, dass heißt auf Mallorca eng zusammenrücken. Nur an den steinigen Steilküsten findet man ruhige, aber auch schwer erreichbare Plätze.

 

Tipps für Mallorca

Reiseführer
Mallorca
Dumont Verlag, 2006
Rund 12 EUR.

Webseiten
Bei der Suche nach Fincas und Landhotels ist www.mallorcadream.de zu empfehlen. Übersichtlich, gute Auswahl der stilvollsten Ressorts, die Beschreibungen der Anlagen sind stimmig.

Restaurants
Bon Lloc
Sant Felin 4
Palma de Mallorca
Tel: +34 971-718617
Das klingt ja meist schon abschreckend: „vegetarisch“, aber das Bon Lloc in Palma de Mallorca ist lecker. Auf dem Speiseplan stehen täglich wechselnde Menus, preiswertes, gesundes Essen wird serviert. Viele Studenten und Künstler, gerade Mittags gut gefüllt.

Celler Sa Premsa
Plaza Obispo Berenguer de Palou 8
Palma de Mallorca
Tel. +34 971 723 529
www.cellersapremsa.com
Uriges Lokal, umgeben von alten Weinfässers sitzt man unter stetig schaufelnden Ventilatoren. Einfaches, gutes, spanisches Essen. Amüsante Kellner. Preiswert.

Portixol
Hotel und Restaurant
Calle Sirena 27
Palma de Mallorca
Tel: + 34 971-271800
www.portixol.com
Fein designtes Hotel, die Segler kommen vom nahen Hafen rüber. Liegt etwas am Rand von Palma. Hervorragendes Restaurant. Blick auf’s Wasser. Das alles hat seinen Preis.

Restaurant Kikinda
Placa de L’orient 6
Capdepera
Tel: +34 971-563014
Unkompliziertes Restaurant auf dem kleinen Dorfplatz von Capdepera. Spezialität: Pizza aus dem Holzofen. Restaurant Xelini
Archiduque Luis Salvador
Deià
Tel. +34 971-639 139
www.xelini.com
Vielleicht die besten Tapas der Insel. Die Promis in Deia wollen’s halt wissen.

Hotels
Sardeviu
Carrer Vives 14
7100 Soller
Tel: +34 971-638326
www.sollernet.com/sardeviu
Das S’Ardeviu ist ein gemütliches Hotel im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe des schönes Hauptplatzes. Suchen sie sich ein gutes Zimmer aus, die sind unterschiedlich.

Can Verderol
Ctra. De Santa Maria a Portol
07320 Santa Maria del Cami
Tel: +34 971-621204
www.canverderol.com
Sehr ruhig gelegenes Finca Landhotel zwischen Palma und Inca. Schöner Pool, gediegene Räume, alles sehr großzügig. Anwesen aus dem 15. Jahrhundert. 9 Doppelzimmer und 2 Junior-Suiten.

Can Coll
Cami de Can Coll 1
07100 Sóller
Tel.: +34 971 633 244
www.cancoll.com Hostal Bahia
Paseo Vora Mar
07470 Pollenca
www.hopoesa.es
Kleines Hotel am Hafen von Pollenca. Direkt an der Fußgängerpromenade. Strand vor der Tür. Das Essen ist nicht berühmt, am man sitzt gut.

El Encinar
Ctra. Son Servera
ARTÀ (PM 404 – 1)
Bei km 3 in die CAMÍ DEL RAFAL
TEL: + 34 971-18 38 60
www.elencinardearta.com
Malerisch gelegenes Fincahotel in der Nähe von Arta. Panoramablick auf die Berge und das Meer. Pool. Netter Besitzer. Nur 10 Zimmer, die gut verteilt in mehreren Häusern liegen.

 

 

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz

Abenteuer Künstliche Intelligenz, Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine, Auszug aus Kapitel 5

 

Jörg Auf dem Hövel

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine

 

Auszug aus Kapitel 5:

Zivilisationshype: Amerikanische Träume
Was die Forscher am MIT so stark macht und was sie in die Irre treibt. Mit Joseph Weizenbaum in der Hotellobby.

 

Die Fahrstuhltür schiebt auf und heraus kommt ein rotes Tuch. Einigen Autoritäten schwillt der Kamm, wenn das Gespräch zu ihm und seinen Ansichten führt, andere halten ihn für die Kassandra eines Fachbereichs, wieder andere erheben ihn zu dem KI-Philosophen, weil er die Amoralität einer Branche aufgedeckt. Die wenigsten aber winken gelangweilt ab, denn der Mann ist eine lebende Legende, einer der wenigen Gelehrten der Informatik und Künstlichen Intelligenz, der weit über die Grenzen des Forschungsgebiets prominent ist. Dementsprechend werfe ich mich in der Hotellobby verbal auf die Knie, was ihn mehr irritiert denn kalt lässt. Er hilft mir auf, ich stammle noch was von „eine Ehre Sie hier zu treffen…“, dann gehen wir zur Sitzgruppe über.

Mir gegenüber sitzt Joseph Weizenbaum, unter dessen Namen in Fernsehinterviews oft das Wort „Computerpionier“ flackert – er arbeitet bereits 1955 am ersten Computersystem für die Bank of America mit. Als er zwischen 1964 und 1966 die Tastatur-Psychaterin ELIZA programmiert ahnt er nicht, dass selbst einige seine Kollegen das Programm für voll nehmen werden. Der Schock darüber wirkt bis heute nach. Eine Maschine mit menschlichen Eigenschaften? Das ist für Weizenbaum seit ELIZA nur ein Kategorienfehler des Betrachters.

Wir wärmen uns mit einen Plausch über den letzten Streifen von Steven Spielberg auf, der den programmatischen Titel „A.I.“ trägt. „Etwas über A.I. lernen kann man durch den Film nicht, es geht um eine rührige Mutter-Kind Beziehung“, ärgert sich Weizenbaum. Ich frage nach der vorbehaltlosen Liebe gegenüber seiner menschlichen Mutter, die dem Jungen einprogrammiert ist, Weizenbaum lächelt neckisch: „Ach, wissen Sie, bedingungslose Liebe, die haben wir ja bereits in dieser Welt: Wir nennen es Hund. Ob wir das noch mal als künstliches Produkt brauchen? Ich bin da unsicher.“

Das Schlagwort der Künstlichen Intelligenz wird seit der historischen Konferenz 1956 in Dartmouth von einem Glatzkopf visualisiert, an dem sich alle behaarten Antagonisten reiben können, Marvin Minsky. Um es vorweg zu nehmen: Vieles, ja, fast alles, was heute von den Primadonnen der Künstlichen Intelligenz wie Hans Moravec und Ray Kurzweil als neue Hauptspeise auf der Menukarte publiziert wird, ist eine aufgewärmte Suppe, welche der Meisterkoch des Posthumanismus schon vor 40 Jahren erhitzt hat.

Um ehrlich zu bleiben, ja, dieses Kapitel will ihnen diese Suppe versalzen, sich der Demontage des Gerüsts widmen, das die sogenannten „KI-Päpste“ hochgezogen haben. Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Eine Demontage kann auf zweierlei Wegen geschehen. Zum einen kann die Unmenschlichkeit der Entwürfe heraus gearbeitet werden; eine Aufgabe, der sich Ethik-Liebhaber wie der Mann in der Hotellobby verschrieben haben. Leider interessiert Ethik diese spirituellen Führer kaum. Darum ist es sinnvoll, sie dort abzuholen, wo ihre interne Logik greift, ihnen das Heimspiel anzubieten und mit ihnen gemeinsam das Match nach ihren Regeln zu spielen.

Gemeinsam mit John McCarthy gründet Marvin Minsky 1959 das KI-Labor am schon damals renommierten, zungenbrecherischen „Massachusetts Institut for Technology“, kurz MIT. Ist die Wahl dieses Ortes Zufall? Nein, sie konnte gar nicht anders ausfallen. Schon ab dem 18. Jahrhundert ist der Bundesstaat Massachusetts mit seinen Universitäten in Boston und Harvard das geistige Zentrum Nordamerikas. Von dort aus predigt zunächst der Pfarrer Jonathan Edwards seine Philosophie, die im Anschluss an Augustinus alles Geschehen als „god´s acting“ betrachtete. Später soll es wissenschaftlicher zugehen, und das MIT und die Philosophie des Pragmatismus erleben zusammen ihre erste Blüte. Es mutet seltsam an, dass sich kaum einer der frühen und heutigen MIT-Koryphäen der Tatsache bewusst ist, dass die Steine ihrer Universität mit dem heißen Geist der Philosophie eines William James gebacken sind.

Minsky und seine Nachfolger predigen die Anti-Philosophie, stellen jede Reflektion über Sein und Werden als okkulten Humbug dar, als ob nicht auch der Fluss ihre Sätze in das Bett einer sozialen Umwelt eingebettet ist. In einer rhetorisch fantastischen Umkehrung nennt Minsky Philosophie und Religion „einen Aberglauben“, dessen Akzeptanz dazu führe, das man sich um die „Chance des ewigen Lebens“ betrügen würde. Aber: Die gesamte technische Theorie der Amerikaner wurzelt tief in der Philosophie von William James, John Locke und David Hume, die ihrerseits wiederum in Francis Bacon wurzeln. Und dort, wo nix wurzelt, existiert zumindest eine Grundeinstellung, die in der Natur einen zu besiegenden Gegner sieht, der dem Planwagen-Treck des Fortschritts im Wege steht. Wer aber ist dieser William James?

Im Hörsaal herrscht dichtes Gedränge, Akademiker und Studenten, aber auch interessierten Laien feiern den Philosophen William James wie einen neuen Propheten. Nur 20 Gehminuten vom MIT-Campus entfernt, an der Harvard Universität, hält James 1907 seine umjubelten Vorlesungen zum Pragmatismus. Was ist es, was diese Denkschule so attraktiv macht? Hume hat es einmal in aller wünschenswerten Klarheit ausgedrückt:
„Nehmen wir ein beliebiges theologischen oder metaphysischen Werk zur Hand und fragen wir: enthält es irgendeine theoretische Untersuchung über Quantität oder Zahl? Nein. Enthält es irgendeine experimentelle Untersuchung über empirische Tatsachen? Nein. Nun, dann werfe man es ins Feuer, denn dann kann es nur Sophistik und Spiegelfechterei enthalten.“

Seither gleichen sich die bis zur Ermüdung wiederkehrenden Leitmotive des pragmatischen Denkens: Die Erfahrung ist der Koran, in dem alle Wahrheiten aufgezeichnet sind. Die wissenschaftliche Methode schlechthin ist dabei die Induktion, dass heißt der Schluss vom besonderen Einzelfall auf das allgemein Gültige, das Gesetzmäßige. Die Induktion ist die möglichst lückenlose Beweisführung, die alle Widerlegungen im Keim erstickt.

Eine Grundfrage der Philosophie, nämlich die nach der Wahrheit, beantwortet James forsch: Das Kennzeichen der Wahrheit sei ihre Nützlichkeit. Folglich sei Wahrheit die Summe dessen, was vom menschlichen Kollektiv als nützlich anerkannt worden ist. „Die verschiedenen Arten, wie wir empfinden und denken“, sagt James, „sind so geworden, wie wir sie kennen, wegen ihres Nutzens für die Gestaltung der Außenwelt.“ Es ist schnell bemerkt worden, dass dieser Konzeption mehr als nur ein Hauch von Darwin anhaftet, sie läuft Gefahr, das Opportune für das Legitime zu halten. Ein Baum, so kann man den Pragmatismus verdichten, ist dazu da um uns Früchte zu schenken.

Ganz klar, in James und dem Pragmatismus verkörpert sich die Neigung der Neuen Welt zum Unmittelbaren, Gegenwärtigen und Praktischen. Zugleich wird ein markanter Charakterzug deutlich, den Hans-Joachim Störig „skeptische Unbefangenheit“ nennt. Diese hält sich möglichst alle Optionen offen und ist zugleich immer bereit, die Möglichkeiten bis an ihr Ende zu denken. Es ist eben dieser stets nach vorne gerichtete „Westwärts!“-Optimismus, der die amerikanischen Wissenschaften so erfolgreich macht. Eng damit verbunden ist die Ablehnung der Herleitung der realen Welt aus irgendeinem grundlegenden Prinzip. Und wo kein grundlegendes Prinzip mehr herrscht, steht es dem Menschen frei, die Welt nach seinem Willen und seinen Kräften zu formen. Jedwede Intuition, das Gefühl, spielt für dieses Denken und die wissenschaftliche Erkenntnis keine Rolle. Das sind Blasen und Schäume, die im frommen Waschbecken zu blubbern haben, denn nach James haben die Gefühle nur eine Funktion: Sie führen zur Religion.

Und noch etwas liegt dieser Perspektive zugrunde: Das konstant und immer wirkende Prinzip einer linearen Kausalität, wonach jede Wirkung eine Ursache hat. Seine letzte Reinform hat dieses Prinzip, wie beschrieben, im Behaviorismus gefeiert. Input – Operation – Output sind die Modi einer Maschine, und es liegt gedanklich nahe, dass auch lebende Wesen nach diesem Schema funktionieren.

 


„Mens et Manus.“ Das von privaten und industriellen Kräften finanzierte „Massachusetts Institute of Technology“ zeigt in seinem 1864 entworfenen Siegel, wohin die Reise gehen wird – Hand und Hirn sollen fruchtbar zusammenarbeiten. Damit ist nicht nur die für Europa ungewöhnliche enge Verbindung von Industrie und Wissenschaft symbolisiert, in dem Logo lebt auch die cartesianische Trennung von Körper und Geist weiter.
Über Minsky, heute über 70 Jahre alt, zerreißen sich seit Beginn seiner Karriere die Medien das Maul. Dies liegt weniger an seinen wissenschaftlichen Verdiensten, als vielmehr an seinen Sentenzen zur Zukunft der Menschheit. Dabei könnte die Kluft zwischen den Leistungen seines MIT-Labors und seinen Vorhersagungen nicht größer sein. Ende der 60er Jahre stellt sein Team einem Roboter eine schlechterdings kinderleichte Aufgabe. Mit einer Kamera und Greifarmen ausgerüstet soll die Maschine aus Bauklötzchen einen Turm bauen. Die Forscher staunen selbige, als der Roboter mangels gesunden Menschenverstands anfängt den Turmbau an der Spitze zu beginnen. Die Verfolgung des programmierten Pfads führt zum ungenauen Ablegen der Klötze, zudem haben die Kamera-Augen Probleme bei dem Erkennen von hinter- oder übereinander liegenden Objekten. Der Fehlschlag hält Minsky nicht davon ab, vom Debugging evolutionärer Fehlkonstruktionen im Menschen zu fabulieren. Und obwohl seine Predigten abstrus erscheinen, frohlockt die junge KI-Gemeinde, setzt Minsky ins virtuelle Papamobil und schiebt ihn durch die Straßen des Erfolgs. Davon angespornt verstrickt er sich mit der Zeit in seinen flammenden Reden immer tiefer in die Verkündung des Techno-Evangeliums. Was aber erzählt der Mann?

Die Grundannahme Minskys ist die der sogenannten „harten KI“: Zwischen dem Denken im menschlichen Hirn und der Informationsverarbeitung in der Maschine besteht kein Unterschied. Auf Basis dieser Prämisse klackert seit Geburt der klassischen, harten KI, ein Satz durch die Gebetsmühle: Die Konstruktion eines Maschinengehirns scheitert nur an technischen Unzulänglichkeiten.

Kollegenschelte ist unbeliebt und so hält sich Joseph Weizenbaum zurück. Das Gespräch verläuft schleppend, was wohl daran liegt, dass er fast alle meine Fragen an anderer Stelle schon einmal beantwortet hat, trotzdem überlegt er vor jeder Antwort verdammt lange. „Wissen Sie“, fängt er an, „Marvin und ich sind trotz unserer Differenzen gut befreundet, auch wenn er Lust auf seltsame Scherze hat. In einer öffentlichen Podiumsdiskussion wurde er einmal gefragt, was er von einem gewissen Argument von mir hält. Seine ernste Antwort war sinngemäß, dass man zunächst einmal wissen muss, dass ich Kommunist sei“. Weizenbaum muss selber lachen, obwohl so eine Zumutung in den USA wahrlich kein Scherz ist. Als Weizenbaum ihn später auf den Vorfall anspricht, winkt Minsky nur lachend ab und sagt: „Ach, du kennst mich doch.“

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Aber zurück zum missionarischem Eifer des 21. Jahrhunderts. Es ist anzunehmen, dass die Utopie der totalen Beherrschung der Natur und des Menschen, wie alle bisherigen Utopien, nicht an ihren Gegnern, sondern an ihren eigenen Widersprüchen und ihrem Größenwahn scheitert. Auf der anderen Seite steht die Tatsache der technischen Evolution. Je mehr das technische Vermögen anwächst, um so selbstbewusster wird das ingenieurhafte Bewusstsein. Damit werden seit jeher die Fantasien beflügelt, welche die Metamorphose des irdischen Raums in eine perfekte, maschinale Ordnung anstrebt. Dass Gott, wenn es ihn denn gibt, ein Mathematiker sein muss, ist seit Platon Idee, seit dem 17. Jahrhundert technisch unterfütterte Überzeugung. Und das wiederum heißt, dass das Wesen der Welt nur in einem mathematischen Code aufbewahrt sein kann.

Der Einzug der maschinalen Ordnung in den Raum der Natur zeigt die stete Hoffnung, dass diese sich dem Zugriff der gestaltenden, gottähnlichen Potenz des Menschen nicht entziehen wird. „Tut sie aber doch“, wird der Liebhaber natürlicher Wildnis jetzt einwenden, „und zwar vor allem dort, wo sich die Technik gegen die Natur stellt und sich nicht ihren Gesetzen anpasst.“ Aus Sicht der Techno-Utopiker ist das vorsintflutliches Wehgeschrei, mystisch angehauchtes Gejammer, denn ihr Plan ist bestechend: Man beachtet die natürlichen Gesetze, indem man sie benutzt, weiterentwickelt und anschließend überwindet. Sie entwerfen eine „Theologie des Schleudersitzes“, der die Menschheit nicht nur aus ihren sozialen und ökologischen, sondern auch ihren spirituellen Bestimmungen rauskatapultieren soll.

Wenn auf der einen Seite die digitalen Evangelisten stehen, dann sind die ewigen Warner und Mahner, die stets behaupten, dass mit jeder neuen Entwicklung Sinnverlust und Uneigentlichkeit einher gehen, nicht weit. Aus obrigkeitsgeschwängerter Sicht gefährdet jedes neue Medium die Moral der Bürger. Vor der Lektüre von Romanen wird im 18. Jahrhundert ebenso vehement und mit denselben Argumenten gewarnt, die heute gegen das Fernsehen ins Feld geführt werden. Wohl gemeinte Ratschläge zur Bewahrung der Volksgesundheit sind die andere Seite. In einem frühen Fall von Technologiefolgeabschätzung warnt das „Königlich Bayrische Medizinalkollegium“ um 1835 vor den Gesundheitsrisiken beim Benutzen der Eisenbahn. In dem Gutachten heißt es: „Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, <delirium furiosum> genannt, hervorzurufen.“ Seither muss dieses Beispiel für die Irrungen der Fortschrittsbremser herhalten. Das Problem dabei ist nur, dass neuere Forschungen ergeben haben, dass dieses Gutachten nie existiert hat, sondern schon damals von den Befürwortern der Eisenbahn eingesetzt wurde, um die Gegner lächerlich zu machen.

Bei genauerer Betrachtung waren die damaligen Ängste vor der Eisenbahn nicht unbegründet: Bei einem der ersten großen Zugunfälle kamen bei Belleville in Frankreich 50 Menschen ums Leben, im Jahre 1889 wurden allein in Deutschland 602 Personen bei Eisenbahnunfällen getötet, in den USA waren es nicht weniger als 6000 Tote und über 29.000 Verletzte. Zugleich war die Eisenbahn die erste Maschine, die wirklich öffentlich sichtbar wurde. Die Dampfmaschinen in den Fabriken kannte man nur vom Hörensagen, mit der Lokomotive wurde die neue Zeit greifbar. Ihre Schnelligkeit, ihre schier unaufhaltsame, schienengeleitete Fahrt machten sie zum positiv wie negativ besetzten Symbol. Politisch stand sie für die einen für Demokratie und Republik, die sich unter Volldampf durchsetzen würden, für die anderen für die eiserne Unerbittlichkeit, die alle althergebrachten Traditionen überrollt.

Bis zur Aufklärung wird Technik ohnehin nicht als Menschenwerk, sondern infernalische Innovation abgelehnt. Bis in das 16. Jahrhundert hinein gelten Technik und Magie als weitgehend identisch. Mit Beginn der Industrialisierung ändern sich die Argumente. Dahinter steht zum einen oft die begründete Angst, durch den technischen Fortschritt den Arbeitsplatz zu verlieren, zum anderen sind es apokalyptische Urbilder, die in den Technikmäklern nach oben gespült werden. Hier wirkt das mythische Modell des Zauberlehrlings, der die herbeigerufenen Geister nicht mehr los wird. Das Prinzip der Furcht gleicht sich seitdem: Die technisch perfekte Maschine überholt und beherrscht ihren Erfinder, den imperfekten Menschen. Selbst Karl Marx benutzt Metaphern, die die Industrie als monströses Ungeheuer darstellen.

Das Schlagwort des „Maschinenstürmers“ müssen sich heute alle diejenigen um die Ohren hauen lassen, die den ständigen Innovationen der Technik feindlich gegenüber stehen. Dabei ist bis heute umstritten, ob der „Maschinensturm“, diese prügelnde Protestbewegung von Arbeitern in England und auf dem europäischen Kontinent, nur eine blinde Aversion gegen das Neue oder ein Protest gegen das System der maschinell gestützten Arbeitsteilung war. Wahrscheinlich beides. Fest steht, dass der Einzug der Maschinen in die Fabriken von den Arbeitern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht zwangsläufig als bedrohlich angesehen wurde. Die Opposition war erst dann besonders ausgeprägt, wenn die Meister, Unternehmer und Fabrikanten die Webstühle, Druckerpressen und Förderanlagen dazu nutzten, herkömmliche Qualitätsstandards zu senken und die Löhne zu drücken.

Auf der anderen Seite rüttelte die Kraft der Maschine an den vertrauten Statusgrenzen der ständischen Ordnung. Die spannende Frage von heute ist nun, welche Grenzen die Wissenschaft und Praxis von der maschinellen Intelligenz überschreitet. Auch ihr wird die Kraft zugesprochen (zu) schnelle Veränderungen herbeizuführen. Traditionen behindern nicht nur Fehlentwicklungen, sondern Entwicklungen überhaupt. Aber welche Traditionen sind in Gefahr? Aus Sicht der Kritiker stehen die humanistischen Traditionen auf dem Spiel, aus Sicht der Förderer nur der Größenwahn des Menschen, der nicht einsehen will, dass auch er nur ein wohl geordnetes Prinzip ist, eine chemisch-physikalisches Verfahren, das damit prinzipiell nachbaubar ist.

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz Bücher

Abenteuer Künstliche Intelligenz Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine Auszug aus Kapitel 2:

 

Jörg Auf dem Hövel

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine

 

Auszug aus Kapitel 2:

Erste Zwischenlandung: Schach matt!
Das 8×8 Felder große Universum, Alan Turing und die Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz.

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Übersichtlicher ist es, die Idee der Mechanisierung von menschlicher Intelligenz von der Möglichkeit ihrer praktischen Realisierung zu unterscheiden. Mit einfachen Worten: Rumspinnen kann man viel, wann aber rückte die Konstruktion von Maschinen mit Denkvermögen in greifbare Nähe? Wer legte als erster ein überzeugenden Konzept eines Apparats vor, der so schnell, so sicher und so flexibel denken und eventuell sogar handeln konnte wie ein Mensch? Erst ab diesem Zeitpunkt kann von Künstlicher Intelligenz gesprochen werden, alles andere ist Ebnung des Weges, Vorgeschichte, gleichwohl aber relevant, denn die frühen Idee der Mechanisierung des Menschen fungieren noch heute als Blaupause für die Konstruktion künstlicher Intelligenzen.

Ein Mann steht sicher im Pantheon der Wissenschaft von der Künstlichen Intelligenz. Ein Mann, der nicht als Romanautor, sondern als Mathematiker den Geist in die Maschine bringen sollte. Ein Mann, wie ihn die Geschichtsschreibung liebt: Vertrottelt, nachlässig gekleidet, ungeschickt im sozialen Umgang, exzentrisch, aber ein begnadeter Zahlenjongleur, der vom britischen Verteidigungsministerium in das Team berufen wurde, welches den Code der deutschen Funkspruch-Chiffriermaschine Enigma knacken sollte. Ein Homosexueller, der seine Leidenschaft vor seinen Kollegen verbergen musste, und von einem Gericht aufgrund einer publik gewordenen Affäre dazu verurteilt wurde, entweder ins Gefängnis zu gehen oder sich ein Jahr lang Östrogen zur Beruhigung seiner Libido injizieren zu lassen. Ein Mann, dessen Fähigkeiten so sehr überzeugten, dass er eine abhörsichere Verbindung zwischen Churchill und Roosevelt aufbauen sollte, ein Mann, den seine Kollegen als eifrig, wissbegierig, begeisterungsfähig, als zornig und einzelgängerisch empfanden. Ein Mann, der dafür sorgte, dass Männer wie Frederic Friedel heute ihre Brötchen verdienen, ein Mann, dessen verschiedene Schriften den Grundstein zur Informationstheorie, Informatik, neuronalen Netzen, Chaosforschung und vor allem zur theoretischen und praktischen Wissenschaft von der Künstlichen Intelligenz legten. Kurzum, eine wahre Geistesgröße, ein Genius und darum nicht von dieser Welt. Wobei das nicht einmal stimmt, denn der Mann war eine Sportskanone und wurde nur durch eine Verletzung davon abgehalten, als aktiver Teilnehmer zu den Olympischen Spielen zu reisen. Der geneigte Leser wird den Namen wissen, der Unbeleckte ihn schon gehört haben, der Oberschlaue hat das Buch eh schon aus der Hand gelegt: Alan Turing. Um ganz korrekt zu sein Alan Mathison Turing, der erste Hacker.

Universität Cambridge, 1935. Der 23 Jahre alte Turing sitzt in einer Vorlesung des Geometrie-Professors Maxwell Newman und hört, dass eine vom deutschen Mathematiker David Hilbert gestellte Frage noch immer ihrer Antwort harrt. Gibt es eine immer gültige definitive Methode oder einen Prozess, um zu entscheiden, ob eine aufgestellte mathematische Behauptung überhaupt beweisbar ist? Dies ist das sogenannten „Entscheidungsproblem“. Mit anderen Worten: Existiert ein Verfahren, das für jede Aussage deren Wahrheit beziehungsweise Falschheit feststellt? Turing setzte sich an sein Schreibpult und tat das, was er in seiner Freizeit mit seinen Freunden eh gerne tat – er knobelte. Turing beantwortet diese Frage und zeigte, dass das Problem unlösbar ist. Er weiß natürlich, dass es Fragen ohne Antworten gibt, die Frage nach dem Ursprung des Universums ist eine solche, die nach dem Sinn des Lebens ebenso. Auf der anderen Seite weiß er, dass es durchaus Probleme gibt, die sich eindeutig entscheiden, das heißt lösen lassen, beispielsweise arithmetische Aufgaben. Dies ist aber nicht das Brisante, denn Turing geht in seiner Antwort weit über das spezielle Problem hinaus, denn er liefert eine exakte Definition des Begriffs „Verfahren“. Er erkennt zunächst, dass die Kapazität eines Menschen für das Durchdenken eines solchen Prozesses allein durch die Zeit begrenzt ist. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, welche die abstrakte Frage im abstrakten Raum der Mathematik belassen, geht Turing allerdings davon aus, dass ein solches Verfahren ohne höhere Einsicht ausgeführt werden muss, um nicht zu sagen, rein mechanisch. Turing greift daher die Idee früher Rechenmaschinen auf und entwirft zur Lösung des Entscheidungsproblems eine theoretische Maschine, die das Hilbertsche Problem lösen soll.

 


Die Turing-Maschine
Warum sollte nicht, so Turing, eine Maschine existieren, die aus zwei Teilen besteht: Einem endlosen Papierstreifen, unterteilt in Felder, auf denen Symbole, beispielsweise das Alphabet, aufgedruckt sind und einem Lesekopf, der – sich nach links und rechts bewegend- die Symbole auf dem Papierstreifen lesen und löschen und wieder beschreiben kann? Turing denkt weiter: Der Papierstreifen darf nur eine begrenzte Anzahl von unbeschriebenen Feldern haben und zu jeder Zeit muss der Lesekopf in einer Position über dem Band schweben, die ihr das Lesen und Schreiben erlaubt. Eine simple Serie von Instruktionen treibt diese Maschine an: Ist-Zustand, Ist-Symbol, Neuer Zustand, Neues Symbol, links/rechts. Die Arbeitsweise einer Turing-Maschine wird durch diese sogenannte Maschinentafel bestimmt. Diese Tafel definiert für jeden möglichen Ausgangszustand der Maschine in Abhängigkeit von dem jeweils gelesenen Symbol eine bestimmte Operationsvorschrift. In dieser Vorschrift werden festgelegt: Der neue Zustand der Maschine, das neue Symbol, das die Maschine in das Feld schreibt, das sie gerade gelesen hat, sowie die Richtung, in der sich der Schreib/Lese-Kopf um ein Feld vorwärtsbewegt (links/rechts). Man mag es kaum glauben, aber mit diesem Regelset lässt sich theoretisch der Teil der Welt, der sich durch Berechnung erschließen lässt, durchkalkulieren. Theoretisch! Da die Turing-Maschine über keinen internen Speicher verfügt, benötigt sie selbst für eine einfache Aufgabe relativ komplexe Operationsvorschriften. Bei der Multiplikation von 3×4 führt die Maschine 323 Operationen aus, bis das Ergebnis feststeht. „Computer“, so wurden Anfang des 19. Jahrhunderts die Hilfskräfte mit ihren Rechenschiebern genannt, die nautische Berechnungen auf Basis umfangreicher Tabellen durchführten. So einfach sie auch ist, aus logischer Sicht hat die Turing-Maschine die Kraft eines heutigen digitalen Computers.

 

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Die ersten 13 Schritte der Turing-Maschine bei der Multiplikation von 3×4. Der gesamte Rechenverlauf ist unter zu bewundern. Die exakte Erklärung der vorgehensweise steht unter . Bei dieser Rechenaufgabe ist jede positive natürliche Zahl n durch den „unären Code“ dargestellt, das heißt als eine Folge von n+1 aufeinanderfolgenden Einsen. Die Zahl 3 wird so als 1111 kodiert, wobei jede 1 in einem eigenen Feld steht. Der Vorteil der unären Codierung liegt darin, daß so Verwechslungen der Null mit leeren Feldern vermieden werden, denn die Null wird durch 1 kodiert. Im ersten Schritt rutscht der Schreibkopf ganz nach rechts und schreibt eine 1. In einem zweiten Schritt hängt der Turing-Maschine für jede „1“ der ersten Zahl (bis auf die erste) alle 1-en der rechten Zahl (bis auf die erste) rechts an. W, X und Y und Z sind nur Markierungen, um sich zu merken, was schon kopiert wurde und was noch nicht.

 

Es ist die Korrespondenz dreier Faktoren, welche die Einzigartigkeit des Entwurfs von Turing ausmachen: logische Instruktionen, das menschliche Denken und die Aktion einer virtuellen, im Prinzip aber baubaren Maschine. Die damit verbundene Definition einer definitiven Methode ist der Durchbruch für die Idee der mechanischen Berechnung – der maschinell abarbeitbare Algorithmus, die Software, ist geboren. Mit einem Regelset ausgestattet kann diese mythische Maschine eine unbegrenzte Anzahl von Rechenaufgaben lösen, um nicht zu sagen: Jedes Problem, für welches es eine Lösung gibt, stellt für die Turing-Maschine kein Problem dar. Der Clou: Bei einem unlösbaren, weil nicht berechenbaren Problem hält die Maschine einfach an oder rechnet für ewig, unermüdlich den Papierstreifen verarbeitend. Aber das Grauen einer jeden Theorie, nämlich die Anwendung auf sich selbst, übersteht diese theoretische Maschine nicht: Sie selbst ist ein Beispiel für eine nicht lösbare Aufgabe, denn ein unendliches Band, wer will das herstellen?

Jeder Schüler zerlegt eine kompliziertere Rechenaufgabe in Einzelschritte und arbeitet sie einzeln und nacheinander, sequentiell, ab. Turings Gedankenmaschine leistet genau das. Das Schöne für Mathematiker: Die rechnerische Leistung seiner Maschine ist nicht zu übertreffen, denn Turing trieb die Zerlegung algorithmischer Prozesse in einfache Schritte an die äußerste Grenze. Sie geben ein Statement ab und wollen wissen, ob es wahr oder falsch ist? Nicht denken, nicht diskutieren, die Lösung liegt in der Auflösung in die kleinstmöglichen Bestandteile und deren mechanischer Verarbeitung. Damit zieht zugleich der technisch fundierte, binär codierte Pragmatismus in das Denken der zukünftigen Techno-Elite ein. Darum steht Alan Turing so sicher im Pantheon, denn er erbrachte die Definition von Berechenbarkeit mit Hilfe der Beschreibung des mathematischen Modells eines mechanischen Apparates. Zugleich fielen seine Ideen in eine Zeit, in der die technische Realisierbarkeit seiner Entwürfe in naher Zukunft möglich schien. Nicht mehr klickernde Zahnräder sollten summieren und subtrahieren, sondern elektronische Bauteile, die schnell und sicher mit nur zwei Werten hantierten, 0 und 1. Die Idee der Berechenbarkeit menschlicher Intelligenz steht und fällt mit dem binären Code.

Aber soweit ist es zunächst noch nicht. Turing veröffentlicht seine Ideen und ist fasziniert von dem Gedanken nicht nur das Rechnen, sondern auch andere Aktivitäten des menschlichen Verstands mit der von ihm erdachten universellen Maschine repräsentierten zu können. Die Vorstellung ist revolutionär: Eine Maschine, die jedes Problem in seine Bestandteile zerlegt und damit entzaubert, der absolute Zerhäcksler, eine Maschine für alle nur denkbaren Aufgaben. Denn obwohl seine Ausführungen zum Hilbertschen Entscheidungsproblem die Grenzen des Berechenbaren gezeigt haben, ist er als Forscher naturgemäß eher davon angezogen was ein praktisch realisierte Turing-Apparat wohl alles berechnen könnte, als davon, was er nicht kann. Die dahinter stehende Frage ist nur: Was alles ist berechenbar? Gibt es unzerlegbare Probleme? Turing weiß nur zu gut, dass er damit an den Grundfesten der Philosophie rüttelt, und hält sich zunächst bedeckt. In einem weiteren Aufsatz lässt er die Tür für das Unberechenbare noch einen Spalt offen. Die menschliche Intuition könnte, so Turing, das sein, was in einer mathematischen Argumentation als nicht-berechenbarer Schritt gilt.

Etwas Geschichte, um den spannenden Stoff etwas trockener zu gestalten? Im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Nachrichtentechnik sprunghaft, elektronische Technologie galt als schnell und zuverlässig. Konrad Zuse baute 1941 seinen Z3-Rechner noch mit schwerfälligen, aber preiswerten Relais. In den USA ging der erste Computer 1944 in Betrieb; „Mark I“ bestand aus 3304 Relais und einem überwiegend mechanischen Rechenwerk, das sogar noch im Zehnersystem arbeitete. Schon damals spielte „Big Blue“ seine Rolle: Eine großer Teil des Projekts wurde von IBM finanziert. Zwei Jahre später wurde ein 20 Tonnen schweres Monster mit dem Namen „Eniac“ geboren, in welchem bereits 18.000 Vakuumröhren dampften. Für Turing waren diese Fortschritte deutliche Zeichen dafür, dass sein virtueller Computer Praxis werden kann. 1944 spricht er gegenüber seinen Kollegen Donald Bayley zum ersten Mal davon „ein Gehirn zu bauen“.

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz

IX Rezension zu: Jörg Auf dem Hövel Abenteuer Künstliche Intelligenz

 

IX. Magazin für professionelle Informationstechnik 8/2003 Rezensionstext IX 8/2003

 

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Bücher Elektronische Kultur

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Buchcover Abenteuer Künstliche Intelligenz. Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine
Ist Künstliche Intelligenz machbar oder scheitert sie an natürlicher Dummheit? Was treibt Forscher dazu kluge Maschinen bauen zu wollen, was treibt sie zum Nachbau des Menschen? Was ist überhaupt ein intelligentes Artefakt, und was überhaupt ist Intelligenz?

Die Antworten auf diese Fragen berühren nicht nur das technische, sondern auch das soziale, kulturelle und religiöse Selbstverständnis des Menschen. Denn durch KI will der Mensch nicht nur die Gesetze der Natur, sondern auch sich selbst erkennen.

Jörg Auf dem Hövel
Abenteuer Künstliche Intelligenz
Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine
Hamburg 2002
ISBN: 3-9807330-4-1
194 Seiten, Broschur
EUR 14,00
Discorsi Verlag

 

REZENSIONEN

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.05.2003
„Einfache Antworten gibt Jörg auf dem Hövel nicht – wohl aber eine Reihe ebenso geistreicher wie amüsanter Denkanstöße.
Auf dem Hövel hat ein lehrreiches Buch mit vielen Anhaltspunkten zum Nachdenken geschrieben, das auch für den Technik-Laien verständlich ist.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

IX. Magazin für professionelle Informationstechnik 8/2003
„Es gelingt ihm, die Grundlagen in einem zweitweise an Spiegel-Artikel erinnernden Ton zu diskutieren, ohne flach zu werden. Seine Reiseberichte packt er in eine kraftvolle, metpahernreiche Sprache, die sich meist süffig liest, aber immer wieder von dicht formulierten Abschnitten unterbrochen ist – schließlich handelt es sich um ein Lehrbuch der ganz anderen Art.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

de:bug November 2003
„Jörg Auf dem Hövel will so etwas sein wie der Peter Lustig der Künstlichen Intelligenz, kurz KI.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Mac Profiler 12/2002
„Ein intelligentes und ein bisschen verrücktes Buch, das um ein paar Ecken zu verblüffenden Perspektiven auf den Computer verhilft.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

rtv magazin 22/2003
„Fachkundig, neugierig, hochinformativ & zugleich unterhaltsam. Eine seltene Mischung.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Buch des Tages 5. April 2003
„Unterhaltsam und kompetent“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Chessbase
„Wäre „Abenteuer Künstliche Intelligenz“ von kein Buch, sondern ein Film, so wäre es wohl ein Roadmovie.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

 

INHALT

0. Nullpunkt. Fasten your seatbelts
Das Kartenmaterial. Wie man sich zielbewusst auf eine Reise vorbereitet.

1. Wer erklärt wen für dumm?
Am Tisch mit nachweislich intelligenten Menschen, oder auch: Definitionen der eigenen Scharfsinnigkeit.

2. Erste Zwischenlandung: Schach matt!
Das 8×8 Felder große Universum, Alan Turing und die Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz.

3. Alte und Neue Intelligenz
Von der reinen Berechnung zum autonomen Roboter: Jeder Geist braucht einen Körper. Zu Besuch im Schweizer Zentrum des neuen Paradigmas. Und was überhaupt ist Bewusstsein?

4. Zweite Zwischenlandung: Abseits!
Bei den Bonner Fussball-Robotern und ihre antiken Vorfahren. Reflexionen des Geistes in der Maschine: Automaten und Androiden in Literatur und Kino.

5. Zivilisationshype: Amerikanische Träume
Was die Forscher am MIT so stark macht und was sie in die Irre treibt. Mit Joseph Weizenbaum in der Hotellobby.

6. Dritte Zwischenlandung: Ich will Technik sein!
Mechanisch, organisch, wer will das unterscheiden? Wie intelligente Technik übers Kinderzimmer in den Alltag wandert. Gespräch mit einem Cyborg, der noch keiner ist.

7. Im Kreis geflogen oder zurück in die Zukunft?
Möglichkeiten und Grenzen des maschinellen Denkens. Wenn der Mensch sich als Maschine deutet.

 

Fragen, Kommentare, Anregungen? Mail an den Autor: joerg@aufdemhoevel.de