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Drogenpolitik

Das Ende der Akzeptierenden Drogenarbeit?

Juli 2008

Ein Abgesang

Die Akzeptierende Drogenarbeit als Gegenentwurf zum Abstinenzparadigma der herrschenden Drogenpolitik scheint am Ende zu sein. Es ist Zeit Bilanz zu ziehen.

Zunächst ein Rückblick: Während des ersten großen Drogenkonsumbooms in den 60ern und Anfang der 70er keimten in einer Phase der Orientierungslosigkeit auf staatlicher Seite aus der linken Szene gewachsene offene Hilfsprojekte wie „Release“ auf. Für kurze Zeit (1970 bis 1975) konnten sie eine Alternative zur damaligen Psychiatrisierung sprich Einweisung der Konsumenten illegaler Drogen in die Irrenanstalten bieten. Kiffende Weltverbesserer versuchten damals mittels diverser kreativer Projekte Junkies zur Speerspitze der subkulturellen Revolution zu machen. Dank geschickter Selbstdarstellung gelang ihnen eine Zeit lang die Finanzierung über Spenden und staatliche Tagegelder.

Schnell berappelte man sich jedoch auf Behördenseite und förderte praktisch nur noch auf totale Abstinenz setzende therapeutische Unternehmen, die bereit waren mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen zu arbeiten. Das „Drogenhilfesystem“ wurde auf drei Säulen gestellt: Erstens Prävention, sprich Dramatisierung zur Abschreckung, zweitens Strafverfolgung und damit Ausgrenzung der Konsumenten, um diese quasi als Seuchenherde sozial zu isolieren und über die Verschärfung des sogenannten „Leidensdrucks“ zum Ausstieg zu „motivieren“, und drittens rigide Abstinenztherapien, offiziell seit 1982 „statt“ aber defacto als alternative Strafe. Dieses System erwies sich als weitgehend uneffektiv und trug erheblich zu einer Verschlechterung der Verfassung der stigmatisierten Konsumenten bei.

Mit der zweiten Drogenwelle in den Achtzigern und der rasanten Verbreitung der damals nicht effektiv behandelbaren HIV-Infektion bzw. AIDS-Erkrankung trat in Kreisen injizierender Drogengebraucher eine massive Verelendung ein, die von kritisch denkenden Sozialwissenschaftlern und Pädagogen insbesondere freier Träger, Initiativen und der AIDS-Hilfen als unmittelbare Folge einer in eine Sackgasse geratenen repressiven Drogenpolitik interpretiert wurde. Man entwickelte einen Gegenentwurf, eine auf einer „rationalen und humanen Drogenpolitik“ basierende „Akzeptierende Drogenarbeit“, die der Schadensminimierung dienen sollte. 1990 wurde gar ein „Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, akzept e.V.“ gegründet.

Zugute kam dieser neuen drogenpolitischen Ideologie, dass in den Aufbruchsjahren nach der „Wiedervereinigung“ 1989 plötzlich vieles realisierbar erschien, was in den deprimierenden 80er-Jahren der reaktionären „Wende“ unter BRD-Kanzler Helmut Kohl noch als undenkbar galt. In diese Zeit Anfang der 90er fielen auch das Haschischurteil des Bundesverfassungsgerichts, die folgenden Coffeeshop-Experimente in den Großstädten, der Growshop-Boom, die Smart Drugs-, Herbals- und Psilo-Wellen, die von den Autoren Herer/Bröckers angezettelte „Hanf rettet die Welt“-Euphorie mit ihren Hanf-Produkten und Läden und die parallel laufende „Ecstasy“-Party-Seeligkeit der frühen Techno-Jahre inklusive LSD-Revival in der Goa-Szene. Ähnliche Entwicklungen fanden zudem nicht nur in Deutschland statt, sondern in weiten Teilen Europas, insbesondere in den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien und Spanien. Offene Grenzen, das Internet und moderne Kommunikationstechnologien trugen ihren Teil zur Gesamtentwicklung bei.

Die abstinenzorientierte Drogenpolitik wirkte überkommen, realitätsfern und geradezu lächerlich. In der Folge gelang es in Deutschland zahlreiche „niedrigschwellige“ Projekte mit akzeptanzorientiertem Ansatz zu verwirklichen, wie Szene-Cafes mit Spritzentausch, Fixerstuben, Übernachtungsstätten und pädagogisch betreute Wohngemeinschaften. Ein wichtiges Ziel war die Substitutionsbehandlung der Opiatabhängigkeit. Die Möglichkeit der ärztlichen Verschreibung von Methadon/Polamidon, heute auch Buprenorphin/Subutex, wurde schließlich sogar gesetzlich garantiert. Da sich die Konsumenten dafür zeitweise einer „Psychosozialen Betreuung“ unterwerfen mussten, boomten Einrichtungen, die hier zur Stelle waren.

Dennoch schwebte über Allem immer noch der Anspruch staatlicher Drogenpolitik Akzeptierende Drogenarbeit nur für eine Übergangsphase im Leben der Klienten finanzieren zu wollen. Das Ausstiegsdenken war keineswegs vom Tisch. Aus Ratlosigkeit lies man machen, was auf der dienstleistenden Seite eine Art Wildwuchs zur Folge hatte. Da die Finanzierung der entsprechenden Einrichtungen meist nicht pauschal sondern über die Zahl der Klientenkontakte oder Stundenhonorare erfolgte kam es zu undurchschaubaren Abrechnungen. Nicht selten wurden Klienten obendrein in mehreren Einrichtungen gleichzeitig betreut. Zusätzlich wanderten sie ihrem primären Bedürfnis nach Grundversorgung und Obdach folgend nach erfolgten Rausschmissen oft von einer Einrichtung in die Nächste. Es haperte aus Sicht der Kostenträger insgesamt an Zielvorgaben und an Qualitäts- und Effektivitätskontrollen.

In den letzten Jahren bemühte man sich nun von Behördenseite aus diese Lücken zu schließen. Projekten, die den neuen Kontrollansprüchen nicht genügen konnten oder wollten, wurde die Finanzierung entzogen. Wer im Rennen bleiben will orientiert sich in der Konzeptualisierung seines Unternehmens an scheinbar modernen Leitbildern: Ausufernden Antrags- und Dokumentationssystemen, wie sie die WHO bei ihrem Versuch im Rahmen der Globalisierung ein einheitliches von der westlichen Medizin geprägtes Menschenbild zu konstruieren und zu institutionalisieren vorgibt, Floskeln aus dem Case-Management, therapeutischen Ansätzen aus der Verhaltenstherapie, wie sie mit dem materialistischen auf Genetik und Epigenetik setzenden Menschenbild der US-amerikanischen NIDA konform gehen. Sah man die Arbeit vorher als schadensminimierend und suchtbegleitend, sollen die „Klienten“ jetzt offiziell selbst, wenn sie sterbenskrank sind, „trainiert“ (das klingt „ein Stück weit“ nach Boot-Camp) und „auf Ausstieg orientiert“ werden (aus der „Sucht“ natürlich). Wo vorher in vielen Projekten eine relative Gleichberechtigung unter den Mitarbeitern herrschte, werden Hierarchien aufgebaut, die der klassischen Hackordnung Psychiater, Psychologe, Sozialpädagoge, Hilfspersonal entsprechen.

Teilen des (Führungs-)Personals kommt der rigidere und gängelnde Umgang mit unter Druck gesetzten Klienten durchaus recht. Mittlerweile älter geworden, sehnt man sich nach mehr Distanz zum Objekt, nach strikterem Regelwerk und konzentriert sich ohnehin mehr auf sein Privatleben. Für die Klientel ist so eine Entwicklung bedenklich. Was sich als professionelle Distanz verkleidet, droht in Ignoranz gegenüber im humanen Ansatz immerhin theoretisch gleichwertigen und gleichberechtigten Mitmenschen umzukippen. Aus Akzeptierender Drogenarbeit kann auf diesem Wege eine überheblich auftretende Entmündigende Drogenarbeit werden.

Der Leistungsdruck unter dem nicht nur die Klienten sondern auch die relativ schlecht bezahlten Mitarbeiter stehen führt bei diesen teilweise zu Burn out-Symptomen und Krankheitsausfällen. Qualifiziertes Personal zu finden, dass sich derartige Arbeitsbedingungen reinzuziehen bereit ist, wird schwierig. Die Akzeptierende Drogenarbeit als optimistische Alternative ist am Ende. Doch die Vereinsmitgliedschaft bleibt bestehen. Licht am Ende des Tunnels ist nicht zu sehen.

Welche Fehler führten zu dieser Misere?

Das zentrale Problem aller Drogenkonsumenten ist nach wie vor die Kriminalisierung und die damit zusammenhängende soziale Ausgrenzung. Ihrer Beendigung müsste eigentlich das Hauptengagement gewidmet sein, nicht der Besitzstandswahrung, dem Erhalt pädagogischer „Idyllen“, die keine (mehr) sind. Die Meisten, die ihren staatlich finanzierten Laden bekommen hatten, hielten sich schließlich drogenpolitisch zurück. Mancheine Einrichtung war froh, wenn ihr Kontrollen erspart blieben. Man blieb inkonsequent in der Durchsetzung von Zielen innerhalb der Projekte wie auf der langfristig viel bedeutsameren drogenpolitischen Ebene. Auf dieser ließ man sich mit Kompromissen abspeisen. So auch in der Opiat-Substitution mit Methadon/Polamidon. Nach deren immerhin erfreulichen Realisierung war hinter der Durchsetzung der Originalstoffvergabe, sprich Heroin, nicht mehr der erforderliche Druck.

Inkonsequent war man auch in der Diskussion und Klärung von Fragen, wie man beispielsweise mit Schwerstabhängigen umgehen oder wie man sich gegenüber dem sogenannten „Beikonsum“, insbesondere dem von Kokain („Base“, „Steinen“, „Crack“), verhalten soll. Das Phänomen des süchtigen Verhaltens ist bis heute wissenschaftlich und ethisch nicht hinreichend ergründet worden. Zuverlässige dauerhaft effektive Hilfen gibt es daher nicht. Bedeutende das Leben stabilisierende Faktoren scheinen am Ende ganz banal eine unkomplizierte medizinische Versorgung, gesicherte menschenwürdige Wohnverhältnisse, flexible Arbeitsangebote und vor Allem eine kontinuierliche menschliche Anbindung darzustellen.

Unter den Projekten herrscht obendrein mangelnde Solidarität. Letztlich wurschteln die verschiedenen Einrichtungen unterschiedlicher Träger mehr oder weniger unkoordiniert und bisweilen unambitioniert vor sich hin. Die Träger stehen gegenüber den staatlichen Geldgebern zueinander in starker Konkurrenz. So lässt sich drogenpolitisch nichts durchsetzen. Von einer Lobby kann nicht die Rede sein.

Leider herrscht bei den Mitarbeitern selbst nicht selten Ignoranz gegenüber dem Menschenbild und den Idealen der Akzeptierenden Drogenarbeit. Die Leitlinien von einem parteiischen akzeptierenden, respektierenden, an der Menschenwürde orientierten, die Selbständigkeit des Individuums fördernden, die Handlungsspielräume erweiternden Umgang mit Drogengebrauchern sind vielfach auch mit dem Älterwerden der Mitarbeiter aus dem Fokus geraten. Dass auch drogenpolitisches Engagement zu den Aufgaben der Akzeptierenden Drogenarbeit gehört ist Vielen gar nicht mehr bewusst.

Generell fehlt die Bereitschaft zu einer ehrlichen (selbst)kritischen Bestandsaufnahme sowohl der tatsächlich geleisteten Drogenarbeit mit all ihren Pleiten und Pannen, wie auch der Auswirkungen der Drogenpolitik in den vergangenen Jahren unter Herbeiziehung aller Beteiligten inklusive der Betroffenen. Aber so locker funktioniert Drogenpolitik nun mal nicht, schon gar nicht in Zeiten des Neoliberalismus. Dieser verlangt gleichermaßen nach der Kontrolle Aufmüpfiger und staatlicher Knauserei bei den Bedürftigen wie nach Schaffung maximaler Freiheiten für die Aktionen kapitalistischer Unternehmen.

Es bleibt zu hoffen, dass die in Folge dieser Hinwendung zu einer tendenziell auf Bevormundung und Überwachung setzenden Drogenpolitik zu erwartenden Verelendungsprozesse bei den Betroffenen und damit zusammenhängende Frustrationserfahrungen bei in der Drogenarbeit Tätigen irgendwann doch noch einmal zu einem dann koordinierteren nachhaltigeren Engagement für einen menschlicheren Ansatz in der Drogenpolitik wie in der Gestaltung des Hilfesystems führen mögen.

 

 

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Gesundheitssystem Psychopharmakologie

Placebos: Warum der Schein besser wirkt als nichts

DIE WELT, 11.Juli 2008

Jörg Auf dem Hövel

Auch ohne den naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung können Placebos den Patienten heilen: Wie genau der Effekt entsteht, ist unklar, da die Gesundung nicht unbedingt auf die Einnahme eines Placebos zurückzuführen ist. Doch Mediziner versuchen von den Erfolgen der Scheinbehandlungen zu lernen.

Eine Mutter aus Maryland (USA) hat einen kleinen Internet-Shop eröffnet: „Efficacy Brands“. Im Sortiment gibt es nur ein Produkt – Dextrose-Tabletten mit Kirschgeschmack. Pillen ohne wirksamen Inhaltsstoff, Placebos. Jeder kann hier ein Medikament kaufen, das keines ist. 50 Tabletten kosten umgerechnet 3,20 Euro. Sie sollen Eltern helfen, ihre Kinder von einer eingebildeten Krankheit zu befreien, aber auch echte Beschwerden zu lindern. In den USA herrscht Aufregung, Medizinethiker wie Howard Brody von der Universität Texas geben zu bedenken, dass Placebos „unberechenbar“ seien, manche Menschen würden „dramatisch stark“ auf ein solches Mittel reagieren, andere gar nicht. Die Diskussion zeigt die Unsicherheit gegenüber einem faszinierenden Phänomen. Obwohl der Placeboeffekt seit Jahrhunderten erforscht wird, ist immer noch unklar, warum er entsteht. Nun wollen Mediziner von der sogenannten Scheinbehandlung lernen.

Placebos sind alle Maßnahmen, die ohne naturwissenschaftlichen Nachweis einer Wirkung dennoch eine positive Reaktion beim Patienten bewirken. Die meisten Ärzteverbände verbieten den Einsatz von Placebos. Dass Ärzte sie dennoch einsetzen, bewiesen zuletzt die dänischen Forscher Asbjørn Hróbjartsson und Michael Norup. Sie befragten über 700 Ärzte. Knapp die Hälfte der Allgemeinärzte hatte in den letzten Jahren mindestens zehn Mal ein Placebo verschrieben – um den Patienten zu helfen, aber auch um herauszufinden, ob jemand simuliert.

Ärzte greifen dann zum Scheinmedikament, wenn der Patient nach einer Behandlung verlang. Der lateinische Ausdruck Placebo heißt übersetzt: „Ich werde gefallen“. Eine weitere Funktion haben die Scheinpillen bei zufallskontrollierten und doppelblinden Studien: Sie helfen der Wissenschaft herauszubekommen, ob eine andere Substanz oder Methode wirklich wirkt. Schon hier ist ein erstes Problem sichtbar. Durch die weltweit größte Akupunktur-Studie Gerac hat sich vor Kurzem herauskristallisiert, dass eine Placebobehandlung durchaus besser als eine Nichtbehandlung sein kann. Hans-Christoph Diener vom Universitätsklinikum Essen stellte fest, dass „eine Scheinakupunktur fast genauso wirksam“ wie eine klassische chinesische Akupunktur sein kann.

Untersuchungen zum Placeboeffekt

Um dem Placeboeffekt auf die Schliche zu kommen, setzt man heute oft eine Kontrollgruppe ein, die weder Behandlung noch Placebo erhält. Antonella Pollo und ihr Team von der Universität Turin gaben Schmerzpatienten beispielsweise zunächst ein starkes Schmerzmittel. Parallel dazu injizierte man eine Kochsalzlösung. Diese zweite Infusion wurde aber durch die Ärzte mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen: Der ersten Patientengruppe wurde nichts von einer schmerzstillenden Wirkung dieser Infusion erzählt. Der zweiten Gruppe wurde erzählt, dass die Kochsalzinfusion entweder ein kräftiges Schmerzmittel oder aber ein Placebo sein kann. Der dritten Gruppe wurde dargelegt, dass die Infusion ein Schmerzmittel sei. Die Behandlung aller drei Gruppen war also auf physischer Ebene gleich, denn alle erhielten eine Schmerzmittel und parallel dazu unwirksame Kochsalzlösung. Aber die damit zusammenhängende Erklärung war unterschiedlich. Das Ergebnis: Die zweite Gruppe forderte weniger Schmerzmittel nach als die erste Gruppe, der nichts erzählt worden war. Am wenigsten Opiat wollten aber die Probanden der dritten Gruppe haben, diejenigen, die dachten, sie hätten zusätzlich ein starkes Schmerzmittel erhalten.

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Ist also ein Placebo gegenüber einer Nichtbehandlung immer die bessere Wahl? Nicht unbedingt. 2001 zeigte Asbjørn Hróbjartsson zusammen mit Peter C. Götzsche, dem Direktor des Nordic Cochrane Center in Kopenhagen, dass viele Experimente, die die Placebo- mit Nichtbehandlung verglichen hatten, methodisch auf schwachen Beinen stehen. Ihre Meta-Analyse über 114 Studien fand „wenig Beweise“ dafür, dass Placebos gegenüber Nichtbehandlung große Vorteile haben. Aber diesem Fazit widersprechen Forscher immer wieder.

Selbst wenn der Placeboeffekt nicht zuverlässig arbeitet, unstrittig ist: Er existiert. Die Frage ist nur warum? Bis heute ist unklar, weshalb in manchen Situationen der Placebo wirkt, in manchen nicht. Gibt es überhaupt einen bewährten und wiederholbaren Placeboeffekt? Die Beweislage ist dürftig.

Leicht zu erforschen ist der Effekt nicht, was unter anderem daran liegt, dass beispielsweise nicht jede Gesundung nach Einnahme eines Placebos auf dieses zurückzuführen ist. Viele Symptome bessern sich nach einiger Zeit ohnehin. Einige weitere Rätsel: Offenbar wirken Scheinmedikamente besser, je häufiger sie eingenommen werden, und wenn sie einen Markennamen tragen. Blaue Beruhigungspillen helfen besser als rote, es sei denn, man ist Italiener, dann ist es genau umgekehrt. Deutsche können ihre Magengeschwüre effizient mit Placebos behandeln lassen, in der restlichen Welt ist die Erfolgsquote aber nur halb so gut. Das liegt nicht daran, dass die Deutschen besonders placebosensibel sind. Denn bei Blutdruck-Placebos ist es umgekehrt, hierauf sprechen die Deutschen weltweit am schlechtesten an.

Die Placebo-Sensiblen sind ein Problem für die Arzneimittelentwicklung, viele Studien beginnen daher mit einer reinigenden Maßnahmen, indem sie erst einmal allen Studienteilnehmern ein Placebo verabreichen und die darauf besonders Ansprechenden vom weiteren Verlauf ausschließen. Das Problem ist, dass bis heute keine verlässliche Methode existiert, um diese sogenannten Placebo-Responder zu identifizieren. Es gibt keine typischen körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften einer Person, die besonders gut auf ein Placebo reagiert. Menschen reagieren zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, zu einem anderen Zeitpunkt kaum auf ein Scheinmedikament. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass viele der eingesetzten Placebos wie Speisestärke, Kochsalzlösungen und Milchzucker durchaus physiologische Eigenschaften besitzen.

Schon das Design von Placebo-Studien ist schwierig: Einige Placebo-Forscher sind nicht davor gefeit, die Überlegenheit von Scheinbehandlungen bereits in ihrem Untersuchungsdesign zu formatieren. Ein Beispiel ist die oft zitierte Arthroskopie-Studie von Bruce Moseley. Seine Bilanz damals, die seither in der Welt steht: Nur angedeutete Kniegelenksoperationen führen ebenso zum Erfolg wie korrekt durchgeführte. Mosley hatte Arthroskopien durchgeführt, bei acht der Patienten allerdings nur einen Schnitt gesetzt, damit die Narbe zur Gesundung beiträgt. Sechs Monate später waren sowohl die Scheinoperierten als auch die korrekt Operierten zufrieden mit dem Ergebnis. Aber anstatt zu schließen, dass die Patienten die OP gar nicht nötig gehabt haben oder der chirurgische Eingriff nutzlos war, weil das Knie auch ohne Eingriff geheilt wäre, zog Moseley einen anderen Schluss: Die Heilung der acht Scheinoperierten sei durch den Placeboeffekt verursacht worden, die anderen Patienten hätten sich besser fühlten, weil sie richtig operiert wurden.

Das dopamingesteuerte Belohnungssystem

Spielt sich der Placeboeffekt nur im Kopf ab? Die Frage ist falsch gestellt, negiert sie doch den Fakt, dass jede psychische Begebenheit ein körperliches Korrelat hat. Im Falle der Placebos deuten das obige Experiment und die anderen Erfolge mit Schmerzpatienten darauf hin, dass die körpereigenen Opiate eine wichtige Funktion übernehmen. Vanda Faria, Doktorandin an der Universität in Uppsala, hat vor Kurzem 24 Studien zu den neuronalen Veränderungen durch Placebogabe überprüft. Danach spielen Endorphine, Cortisol und anderer körpereigene Substanzen beim Placeboeffekt eine Rolle. Schein- und Normalbehandlung können dabei ähnliche neuronale Mechanismen auslösen. Zusätzlich scheint das dopamingesteuerte Belohnungssystem wichtig zu sein.

Unklar ist, inwieweit das Wissen um den Placeboeffekt dessen Wirkung beeinflusst, ob also ein hohes Maß an richtiger Lageeinschätzung und an korrekter Selbsteinschätzung die Erfolgschancen verringern oder erhöhen. Für beides gibt es Hinweise. Unklar ist auch, wie sich messen lässt, ob der Patient überhaupt geheilt werden will.

Fest steht: Der Kontext, in dem ein Medikament vergeben oder eine Methode angewandt wird, spielt bei der Wirkung eine entscheidende Rolle. Heilung besteht aus mindestens drei Faktoren: der Wirkung von Medikament, Operation oder anderer Intervention, durch die biochemische Prozesse angeschoben oder krankhafte Veränderungen im Körper eliminiert werden. Zum anderen wirken die Selbstheilungskräfte des Patienten. Und dann ist da noch die wichtige Interaktion zwischen Patient und Arzt. Diese auch „Bedeutungserteilung“ genannte Interaktion ist ein entscheidender Faktor.

Schon 1985 war man der Bedeutungserteilung bei der Medikamentenvergabe auf der Spur. Ein Team um Richard Gracely nahm sich einige Patienten vor, denen die Weisheitszähne entfernt worden waren. In einer Doppelblindstudie konnten diese daraufhin einen Placebo, ein Schmerzmittel (Fentanyl) oder sogar einen Schmerzblockadehemmer erhalten. Der Clou: Einer Hälfte der beteiligten Ärzte wurde erzählt, es gäbe ein technisches Problem, daher würden die Patienten kein Fentanyl erhalten können. Diese Finte führte in der Placebo-Gruppe zu einer denkwürdigen Konsequenz: Obwohl ihnen von den Ärzten nichts über die vermeintlich technischen Probleme mitgeteilt wurde, stieg die Schmerzstillung bei denjenigen Placebo-Patienten erheblich, deren Ärzte daran glaubten, sie könnten Fentanyl injiziert bekommen. Eine der besten Erklärungen für dieses Phänomen ist: Die Ärzte haben ihr Wissen um die mögliche Schmerzmittelinjektion nonverbal an die Patienten kommuniziert.

Eine anhaltende Gesundung eines Menschen ist umso wahrscheinlicher, je eher die physikalisch-chemische Therapie und die Bedeutungserteilung durch Arzt und Patient in die gleiche Richtung zielen. Der Placeboeffekt rüttelt nicht nur ein weiteres Mal an der überkommenen Vorstellung der Trennung von Körper und Psyche, er kann als Instrument dienen, um der Zeicheninterpretation auf die Spur zu kommen, die ein Arzt gegenüber einem Patienten leisten muss. Diese Interpretation kann nicht allein auf einer Deutung der biochemischen Ereignisse in dessen Körper beruhen. Der Arzt muss den Patienten befragen, um seine individuelle Vorgeschichte zu erfahren und zudem seinen kulturellen Kontext berücksichtigen. Doch das kostet Zeit. Wie die Versuche mit Schmerzpatienten zeigen, hätte eine gründlichere Erklärung des Placeboeffekts einen weiteren Vorteil: Es wären weniger Medikamente nötig, um Heilung zu erzielen.

 

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Drogenpolitik Psychoaktive Substanzen

Eine kurze Geschichte der Orgie

HanfBlatt Nr. 115, Juli 2008

Sex, Drogen, alles außer Rand und Band

Eine kurze Geschichte der Orgie

Kaum jemand kann sich der Faszination der Orgie entziehen, sei es aus Begeisterung, sei es aus Abscheu. Die lustvolle Hemmungslosigkeit beflügelt die Phantasie. Welche Funktion hatte die Orgie in der Geschichte? Und spielt sie heute noch eine Rolle in der Gesellschaft?

Die klassischen Griechen hatten schon Jahrhunderte vor dem Erscheinen von Jesus Christus einen speziellen Gott, nämlich Dionysos. Dieser war für Rausch, Ekstase und den Wein zuständig. Ein wilder Kerl. Jedes Jahr feierten die Griechen Dionysos mit mehreren Festspieltagen. Dort wurde aber nicht gesoffen und gefummelt, sondern hohe Kultur zelebriert: Dichter trugen ihr Kunst vor, Komödien und Tragödien wurden aufgeführt, Satyrspiele abgehalten. Satyrn sind mythologische Figuren, halb Mensch, halb Tier, die wie Dionysos immer feierbereit waren. Der Sage nach scharten sie sich um den Gott, um mit ihm zusammen allerhand Schabernack zu treiben. Der prominenteste Vertreter dieser Gattung ist Pan. Die weiblichen Fans von Dionysos waren die sogenannten Mänaden. In der griechischen Welt vermengten sich der Mythos der Dichtungen, tatsächliche historische Figuren und gelebter Alltag auf heute kaum noch vorstellbare Weise. So sind die Mänaden nicht nur die erdachten Begleiterinnen von Dionysos, sondern auch die Anhängerinnen eines Kultes, der lange Zeit sein Wesen trieb. Ursprünglich waren Orgien religiöse Festspiele, erst später wurden sie zu Anlässen trunkener Wildheit.

Eine besondere Rolle in der Geschichte der Orgie spielt ein kleines Örtchen in der Nähe von Athen mit Namen Eleusis, heute ein Vorort der Millionenmetropole. Hier spielten sich die legendären „Mysterien von Eleusis“ ab. Im antiken Griechenland waren diese Mysterien über einen Zeitraum von annähernd 2000 Jahren ein wichtiger Kultkomplex. Auch sie waren keine Orgien im engeren Sinne. Die Teilnahme war einem Griechen nur ein einziges mal im Leben gestattet. Die Gesetze verlangten bei Androhung der Todesstrafe absolutes Schweigen über die Vorgänge in Eleusis. Es ist bis heute unklar, was genau dort passierte, die überlieferten Schriften zeugen allerdings davon, dass viele Teilnehmer hier beeindruckende spirituelle Erfahrungen gemacht haben. Da während der Mysterien auch ein Trank eingenommen wurde, spekuliert man bis heute darüber, dass dieser Trank halluzinogene beziehungsweise entheogene Substanzen enthalten haben muss.Der Chemiker Albert Hofmann hat mit anderen Autoren dazu eine Theorie vorgelegt. Stichhaltige Beweise fehlen aber. Denn mutterkornbefallener Roggen oder Wildgrasmutterkörner sind schwer dosierbar und führen oft eher ins Delirium als denn ins Götterreich. Wahrscheinlicher ist der Einsatz von Bilsenkraut oder Schlafmohn. Auf der anderen Seite dürfte die Empfänglichkeit der antiken Menschen für spirituelle Erfahrungen durch Lebenswelt sowie Set und Setting sehr hoch gewesen sein, so dass vielleicht schon kleine Mengen einer Droge zu außergewöhnlichen Erfahrungen geführt haben. Wie auch immer, zu sexuellen Massenakten ist es während dieser antiken Techno-Party nicht gekommen. Dionysien und die Eleusis-Mysterien waren eng an naturgegebene Vorgänge gebunden, sie fanden zumeist im März zu Beginn der neuen Vegetationsperiode statt.

Die Römer übernahmen viele der griechischen Traditionen, so auch der Gott Dionysos. Er hieß ab jetzt Bacchus. So entstanden die Bacchanalien und allmählich die Art der zügellosen Orgien, die bis heute in unseren Vorstellungen präsent sind. Mengen von Alkohol, wahrscheinlich aber auch Laudanum und anderen berauschenden Substanzen gehörten von nun an zu den Festen dazu. Man verkleidete sich, der Mummenschanz erhöhte die Hemmungslosigkeit – hier gibt es Berührungspunkte zum Karneval.

Im 2. Jahrhundert v. Chr. steigerten sich die Bacchanalien zu volksfestartigen, vollkommen entfesselten Massenorgien. Es bildete sich die Grundstruktur der Orgie heraus, wie wir sie bis heute kennen und definieren. Alle Beteiligten streben danach, einander durch möglichst sinnliche Handlungen gegenseitig zu überbieten und erotisch zu reizen. Die Partner einer Orgien treten in eine ständige Wechselwirkung, sie sind gleichzeitig Handelnde und Zuschauer. Es gilt in einem Rausch der Sinne zu versinken, durch ständige Reizung und Überreizung alle Grenzen fallen zu lassen. Alle dafür nötigen Mittel sind legitim. Damals wurden dabei die Grenzen zu menschenverachtenden Methoden immer wieder überschritten. Sklaven konnten sich nicht wehren, Kinder auch nicht. Selbst Tiere wurden missbraucht. Im Jahre 186 v. Chr. wurde es schließlich dem römischen Senat zu bunt. Er erließ einen Beschluss über die Bacchanalien und verbot sie. Um klar zu machen wie ernst man es meint, ließ man mehrere Tausend Teilnehmer hinrichten.

Von hier an trieb man es um Untergrund weiter. Ein Phänomen, das sich bis heute gehalten halt. Der Mythos der Bacchanalien wurde in zu einem bevorzugten Thema der bildenden Kunst. Ursprünglich zeigten die Maler die eigentlichen Bacchusfeiern, mit der Renaissance erweitert sich der Darstellungskreis. Er umfasste von da an alles, vom fröhlichen Gelage bis zur entfesselten Orgie. Kaum einer der großen Künstler der Neuzeit blieb vom Stoffgebiet der Bacchanalien unberührt. Die Wiedergabe der orgiastischen Hemmungslosigkeit ist das eigentliche künstlerische Problem, denn zuviel zeigen durfte man oft nicht. Zuletzt zeigte Georges Grosz in seinem Bild „l’orgie“ scheißende Damen und überlaunige, schwerstbesoffene Herren in der für ihn typischen Art des dekadenten Verfalls.

Vögelei

Von den Geschichtsschreibern überliefert sind meist nur die Ausschweifungen am Hofe. Berüchtigt in der Neuzeit waren die Orgien, die der Regent von Frankreich, Philipp II. von Orléans (1674–1723), veranstaltete. Als überzeugter Atheist hielt er sie gerne an christlich-religiösen Festtagen ab. Bestechend liebenswürdig, rasant frivol, künstlerisch begabt; Philipp sah im eigenen Vergnügen die einzige Richtschnur des Handelns. Er und seine Freund erdachten immer neue Ausschweifungen, die im Paris des 17. Jahrhunderts das bewundernd-schaurige Stadtgespräch bildeten. Es herrschten Verhältnisse, die heute undenkbar scheinen. Mit seiner eigenen Tochter unterhielt Philipp eine leidenschaftliche und öffentlich bekannte Liebesaffaire. Inzest war damals ohnehin in hohen Kreisen nichts ungewöhnliches, selbst das „gemeine Volk“ stieß sich nicht daran. Auch die anderen, üblichen Grenzen des Geschlechtsverkehrs wurden wenig beachtet. Kinderschändung war niemals wieder so verbreitet wie in diesem Zeitalter, das heute Rokoko genannt wird. Nach einigen Herzanfällen begriff er als 47-Jähriger, dass seine exzessive Lebensweise ihren Tribut forderte und gab sein nächtliches Lotterleben auf.

Mit der Angebotsvielfalt steigerte sich auch die Zahl der während Orgien konsumierten Drogen. Heute dürfte bei sexuell ausgelassenen Festen neben dem Alkohol vor allem Kokain eine Rolle spielen. Das Pulver gilt als Rammelgarant. Schade, das die Klavitatur der Liebesmittel heute meist nur auf chemischen Wege angeschlagen wird. Die Natur bietet viel. Es ist wenig darüber bekannt, ob heute Rituale existieren, die mit Hilfe psychoaktiver Substanzen und sexuell-erotischer Spielarten ein ekstatischen Erleben für alle Teilnehmer generieren wollen. Die schwülen und muffelnden Hinterzimmer der vorstädtischen Swinger-Clubs und die reglementierten Dark-Rooms der schwulen Szene kommen zwar der Orgie noch am nächsten, haben aber kaum zum Ziel sich im Wollusttaumel zu verbrüdern.

Heute ist die wilde Orgie domestiziert. Zum einen durch wissenschaftliche Einsicht, denn man weiß, dass Freiwilligkeit zum Erleben dazu gehören muss und erotische Exzesse mit Minderjährigen bei diesen mentale Narben hinterlassen. Zum anderen ist die Orgie durch moderne Regeln und Tabus domestiziert. Denn trotz aller Freizügigkeit ist die beklagte Pornographisierung weithin virtuell, sei es im Internet, sei es in literarischen Feuchtgebieten. Auch der am Ende des alten und Anfang des neuen Jahrhunderts vielgescholtene Hedonismus (Stichwort: Spaßgesellschaft) zeigte eher die soziale Tendenz, sich mit einer dauerhaften, aber dadurch halbschlaffe Erektion zufrieden zu geben. In diesem Sinne leben wir in einer ständigen semi-orgiastischen Zustand, umgeben von Gewaltorgien, Medienorgien und Konsumorgien.

Die Abgrenzung zwischen einer ordentlichen Orgie und der Perversion ist schwer. Menschen haben Macken aller Art, das macht uns aus. Das reicht vom Spleen, immer nur bei Sinatra vögeln zu können, über Bondage und justierbaren Krokodil-Brustklammern bis hin zu Lustgewinn durch menschlichen Kot, Koprophilie genannt. Was es nicht alles gibt. Und: Erlaubt ist was gefällt. Die Orgie muss nicht unbedingt Zeichen einer degenerierten, rohen Lustwelt sein. Der Begriff der Sublimierung trifft es schon ganz gut: Sublimierung kann eine Erhöhung der Sinne sein, trägt aber immer auch die Gefahr einer Umlenkung von Wünschen in sich, die untergründig und unbewusst in jedem von uns schlummern. Sie ab und zu auszuleben ist die eine Sache, sich ihrer bewusst zu werden eine andere.

 

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Cannabis Gesundheitssystem

Das Ying und Yang der Cannabis-Psychose

HanfBlatt Nr. 115, Juli 2008

Die Mischung macht’s

Das Ying und Yang der Cannabis-Psychose

Mittlerweile gilt in Wissenschaftskreisen als gesichert, dass Cannabis-Konsum eine latent vorhandene Psychose zum Ausbruch bringen kann. Zwar ist nur etwa ein Prozent der Bevölkerung anfällig für diese Krankheit, wer allerdings in dieser Gruppe kifft, erhöht sein Risiko, dass eine Psychose tatsächlich ausbricht. Nun finden sich unter Psychosepatienten häufig Cannabiskonsumenten. Dies wurde bislang als Beweis für die schlechte Eigenschaft von Cannabis angesehen. Andererseits wurde zugleich darauf hingewiesen, dass viele Patienten die Substanz als Selbstmedikation nehmen, weil die beruhigende und sedierende Wirkung von Cannabis schätzen. Zwei britischen Wissenschaftler haben sich in einer neuen Untersuchung (British Journal of Psychiatry, 192/2008, S. 306-307) auf die Spur dieses widersprüchlichen Phänomens gemacht.

Ihre Ausgangsvermutung: Je höher der Anteil des sogenannten Cannabidiol in dem Gras, desto geringer die Chance ein unangenehmes Erlebnis beim Kiffen zu haben. Neben dem bekannten, psychoaktiv wirkenden THC gilt Cannabidiol als ein nicht psychoaktives und daher vernachlässigbares Cannabinoid. Celia Morgan und Valerie Curran analysierten die Haare von Cannabiskonsumenten. Danach teilten sie die Gruppe in drei Subgruppen auf: Diejenigen, die nur THC im Haar hatten (N=20, 7 Frauen, 13 Männer, Durchschnittsalter=26), diejenigen, bei denen sowohl THC als auch Cannabidiol im Haar gefunden wurde (N=27, 21 Männer, 6 Frauen, Durchschnittsalter=27) und solche, die keine Cannabinoide im Haar hatten (N=85, 27 Frauen, 58 Männer, Durchschnittsalter=26). Die Konsumneigung in den beiden Subgruppen mit Cannabinoiden im Haar war etwa gleich stark ausgeprägt. Mit einer psychologischen Testbatterie überprüften die Autoren sodann die Neigung der Probanden zu unangenehmen Erlebnissen währen des Rausches. Und siehe da: Die Subgruppe, die nur Spuren von THC und keine Cannabidiole im Haar sitzen hatten, berichteten eher von unschönen Sinnestäuschungen sowie Freud- und Lustlosigkeit. Anders herum formuliert: Ein hoher Anteil von Cannabidiol im Cannabis lässt den Rausch sicherer werden.

Die Autoren sehen in ihrer Studie einen Beweise dafür, dass der „Konsum unterschiedlicher Sorten von Cannabis zu unterschiedlichen psychologischen Erlebnissymptomen führt.“ Man kann noch einen Schritt weiter gehen. Seit Jahren beschweren sich einige Cannabis-Connaisseure über Gras mit zu hohem THC-Gehalt, gemeinhin als „Psycho-Gras“ bezeichnet. Zeitgleich wurde immer deutlicher, dass zum einem neben dem THC andere Cannabinoide zur ausgewogenen Gesamtwirkung von Cannabis beitragen, zum anderen das Cannabidiol höchstwahrscheinlich antipsychotische Eigenschaft besitzt. Wer den Bogen noch weiter spannen will, der kann sogar darauf hinweisen, dass Morgan und Curran kaum Unterschiede in der Psychose-Empfänglichkeit zwischen den THC-Cannabidiol- und den Ganz-Ohne-Was-im-Haar-Probanden fanden.

Eine wichtige Einschränkung der Studie existiert allerdings: Die Studienteilnehmer wurden alle aus einer Langzeitstudie von aktueller und ehemaliger Ketamin-Konsumenten rekrutiert. Um die Ergebnisse zu erhärten soll die Studie daher mit Personen wiederholt werden, die nur Cannabis konsumiert haben. Ansonsten gilt weiterhin: Es existiert ein Beziehung zwischen Cannabis und dem Ausbruch einer Psychose, aber eben keine kausaler Zusammenhang. Das Eintrittsalter und die genetische Veranlagung spielen eine wichtige Rolle. Eine Studie mit 3500 Jugendlichen zeigte 2005, dass die Personen, die Cannabis bereits im Alter von unter 16 Jahren konsumierten, ein signifikant höheres Psychoserisiko auswiesen als Jugendliche, die erst später kifften. Eine weitere Studie konnte zeigen, dass die Menschen, die eine bestimmte Variante des COMT (Catechol-O-Methyl-Transferase)-Gens besitzen,ebenfalls ein höheres Risiko tragen, an einer Psychose zu erkranken, wenn sie in ihrer frühen Jugend Cannabis konsumieren.

 

 

 

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Rezensionen

Rezension Bommi Baumann: Rausch und Terror

HanfBlatt Nr. 117

Bommis innerer Terror

Wer nur grünen Tee und ab und zu eine Sportzigarette gewöhnt ist, der sollte dieses Buch mit Vorsicht genießen. Nüchternheit sollte man nicht erwarten. Der heute 61-jährige Michael „Bommi“ Baumann führt den Leser auf einen schmalen Grad. Auf der einen Seite liegen die vehement beschriebenen Abgründe seiner Drogensucht und seines Persönlichkeitszerfalls, auf der anderen Seite faszinierenden Reiseberichte aus dem Afghanistan der 70er Jahre und die zeitweise erhellende Analysen der damals entstandenen und bis heute herrschenden Drogenökonomie. Baumann war einer der Mitbegründer des „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“. Der Name war eine Verballhornung von Mao’s Traktat „Über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen“ und zugleich eine ironische Abgrenzung gegenüber der stark politisierten Studentenbewegung. Es folgten die befreienden 68er, später die Zeiten des Terrors. 1981 wurde er in London verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Mediales Interesse konnte Baumann mit seinem 1975 erschienenen und verbotenen Buch „Wie alles anfing“ auf sich ziehen. Nun hat er mit „Rausch und Terror“ die Fortsetzung geschrieben.

„Mit Drogen wollten wir eine neue Sensibilität erreichen. Sie wurden als Vehikel zur Bewusstseinsveränderung gesehen und damit auch zur Veränderung der eigenen Persönlichkeit und der Umwelt. »Wenn Nixon auf LSD gewesen wäre, hätte er niemals den Vietnamkrieg geführt«, war eine weit verbreitete Haltung.“ Baumann beschreibt, wie er als Mitglied der fröhlichen Kiffer-Szene trotz Bewusstseinsveränderung und politischen Engagements den Weg der Selbstzerstörung einschlägt. Das aufgeklärte Denken vieler Menschen damals betraf die gesellschaftlichen Verhältnisse, umfasste aber nicht Wirkmächtigkeit verschiedener Drogen. So wurde damals kaum ein Unterschied gemacht, genommen wurde, was da war: Cannabis, LSD, Rohopium, Morphium, später Heroin. Stoned-Marxismus und Steine werfen auf LSD. Baumann weiß beredt vom Orientalisten Rudolf Gelpke, dem Knast, dem sagenumwobende Hippie-Treck nach Afghanistan und dem Haschisch-Schmuggel zu berichten. Profund analysiert er die verschiedenen Arten des Opiumkonsums und schildert Land und Leute. Das fesselt. Lange hielt er sich in der Region auf, die heute im Fokus militärischer Interessen steht, die Tribal Areas zwischen Afghanistan und Pakistan. Diese Insiderwissen ist wertvoll, Baumann zieht seine Schlüsse. Der „Krieg gegen den Terror“ ist aus seiner Sicht eine Verlängerung und Verschärfung des Ende der 60er begonnenen „Krieges gegen die Drogen“. Das Ergebnis ist ein System der Kontrolle, das politische und ökonomische Interessen unter dem Deckmantel humanistischer Aktionen versteckt. Indirekt bewachen die NATO-Truppen die Opiumplantagen in Afghanistan, denn die Karsai-Regierung ist nachweislich in den Handel verstrickt. Der Bruder des Präsidenten gilt als größter Dealer des Landes.

Sein Fazit daher: Alle Drogen legalisieren, denn sonst wird es nur noch schlimmer. Aber je länger man in dem Buch liest, umso erschreckender wird der mental-körperliche Abstieg Baumanns deutlich und umso mehr verwischen sich sein Erleben und seine Analysen. Irgendwann ist unklar, welcher Trip da geritten wird. Sollte es wirklich die Drogen und das „Turn On, Tune In, Drop Out“ statt der Revolutionäre gewesen sein, das den Westen der 60er Jahre umgekrempelt hat? Das ist doch eine arge Verkürzung der Geschichte. Baumanns Verdienst ist es gleichwohl, den Blick für die Zusammenhänge von Rausch und 68er-Bewegung neu geschärft zu haben. Von daher ist das berauschte Buch mehr zu empfehlen als viele der dicken Wälzer in politikwissenschaftlichen Seminaren, die nüchtern die Zeit der außerparlamentarischen Opposition abhandeln.

 

Bommi Baumann: Rausch und Terror. Ein politischer Erlebnisbericht.
Berlin: Rotbuch 2008
ISBN: 3867890366
256 Seiten, Broschiert
EUR 17,90