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Die Weisheit der Informierten

Erschienen in der Telepolis v. 07.05.2014
Von Jörg Auf dem Hövel

Große Gruppen entscheiden nicht unbedingt besser

Die „Weisheit der Vielen“ ist spätesten seit dem Erfolg des gleichnamigen Werkes von James Surowiecki ein Paradigma. Die Masse ist klüger als ihre Mitglieder. Kollektive Entscheidungsprozesse, so die Theorie, führen zu besseren Ergebnissen. Das dafür immer wieder zitierte Experiment wurde bereits vor 100 Jahren durchgeführt. Francis Galton ließ auf einem Jahrmarkt das Gewicht eines Ochsen schätzen. Viele Experten tippten zwar gut, der Durchschnittswert kam dem korrekten Ergebnis aber am nächsten. Zwei Wissenschaftler von der Princeton-Universität haben nun mit Hilfe eines mathematischen Modells geprüft, ob die Überlegenheit des Kollektivs immer gilt.

Iain Couzin und Albert Kao rekurrieren dafür auf die klassische Arbeit von Marquis de Concordet aus dem Jahr 1785. Dieser hatte sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts dem Problem gewidmet, unter welchen Bedingungen die Chance steigt, dass die Entscheidungsqualität mit der Gruppengröße steigt. Concordet führte drei solcher Bedingungen an:

1. Die Entscheidung muss binär, mithin eine Wahl zwischen zwei Optionen sein.

2. Die Chance, die richtige Entscheidung zu treffen, muss bei jeder Person bei über 50 Prozent liegen.

3. Die Gruppenmitglieder müssen voneinander unabhängig zu ihrer Einzelmeinung gelangen.

Es gilt seit Concordet: Je größer die Gruppe, desto besser das Ergebnis. Zahlreiche Experimente im Tierreich und unter Menschen haben das gezeigt. So wählen beispielsweise Honigbienen regelmäßig unter vielen Möglichkeiten tatsächlich den besten Baustandort für ihren Stock.

Couzin und Kao haben sich nun zwei der Bedingungen der modernen Erforschung der „Wisdom of the Crowd“ näher angeschaut. Dabei stellten sie fest, dass Concordets dritte Bedingung in der Realität selten zum tragen kommt: Gruppen kommen oft nicht unabhängig voneinander zu ihren Meinungen und treffen ihre Entscheidungen aufgrund ähnlicher Hinweise. Über die Medien vermittelte politische Steuerungsversuche suchen sich genau dies zunutze zu machen. Und das Phänomen der gleichgeschalteten Informationsgrundlagen greift auch bei Tieren. In einer großen Herde sehen beispielsweise zwei Rinder, die sich auf der linken Seite der Herde befinden, ein ähnliches Bild.

Zusätzlich untersuchten die beiden Autoren das Studiendesign der Experimente, die die „Weisheit der Vielen“ testen. Dabei präsentieren die Wissenschaftler den tierischen oder menschlichen Probanden meist einen einzelnen Hinweis, um eine Entscheidung zu treffen. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Einer Herde wird ein visueller Hinweis gezeigt und sie müssen sich festlegen, ob es ein Raubtier ist. In der Natur dürfte das anders ablaufen, sind Tiere dort doch einer Vielzahl von Informationen ausgesetzt, die sie über ihre verschiedenen Sinne aufnehmen. Dabei müssen sie entscheiden, welche dieser Sinne sie trauen. Und manche dieser Sinne dürfte mit ihren Gruppenmitgliedern in Wechselbeziehung stehen, andere nicht. Das Autorenduo war klar, dass diese komplexen Faktoren die Entscheidungsprozesse in der Gruppe beeinflussen. Aber wie?

Um dies heraus zu bekommen, entwarfen die beiden eine Reihe von mathematischen Modellen, die diverse Hinweise und Wechselbeziehungen enthielten. In einem Modell mussten Tiere zwischen zwei Optionen wählen. Die Hinweise waren allerdings nicht verlässlich, genauso wenig wie sie in gleichwertiger Wechselbeziehung standen. Selbst unter diesen härteren, realistischeren Voraussetzungen funktionierte die Weisheit der Vielen. Die Autoren testeten darauf hin, ob bei steigender Gruppengröße die Weisheit zunahm und entdeckten etwas für sie überraschendes. Kleine Gruppen schnitten besser als Individuen ab, große Gruppen allerdings schlechter als kleine Gruppe. Die beste Leistung wurde von Gruppen mit fünf bis 20 Mitgliedern erbracht.

Das Problem großer Gruppen liegt auf der Hand: Eine Fraktion folgt Hinweisen, die für sie ähnlich aussehen. Sind diese Hinweise nun falsch, biegt die Herde sozusagen in die falsche Richtung ab, weil ihre Information die richtigen Informationen überschreiben. Kleine Gruppen umgehen dies, weil das Risiko, das viele Mitglieder falschen Hinweisen folgen, geringer ist.

Insgesamt zeigt die Arbeit von Couzin und Kao die Sensibilität von Gruppenprozessen für Störungen, die durch die Gruppengröße nicht aufgefangen, sondern noch verstärkt werden können. Ein interessantes Feld ist im Entstehen, in dem die Verhaltensforschung untersuchen wird, unter welchen Bedingungen welche Gruppengrößen zu optimalen Entscheidungen führen. Dabei wird auch geklärt werden müssen, ob die etwaige Gesetzmäßigkeiten nur für vergleichweise simple Entscheidungen („rechts- oder linksrum“) oder auch für kreative Prozesse gelten.

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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