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Drogenpolitik

Ohne Legalisierung geht es nicht

Erschienen in der Telepolis v. 28.12.2014

Vor 25 Jahren wurde ein drogenpolitisches Experiment gestartet, dessen Erfolge frappierend sind

Rund um den Hamburger Hauptbahnhof spielten sich Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre mitunter erschreckende Szenen ab. Es hatte sich eine offene Drogenszene mit sichtbarer Verelendung etabliert. Insbesondere der Stadtteil St. Georg war von der Problematik betroffen und wurde zu Handel, Konsum und Prostitution genutzt. Die Junkies waren intoxikiert oder entzügig, litten unter Krankheiten wie HIV/AIDS und Obdachlosigkeit. Die Bürger reagierten unterschiedlich, empört, verängstigt, betroffen. Die Polizei versuchte zunächst massiv die Abhängigen durch Aufenthaltsverbote, Verhaftungen und andere Maßnahmen zu vertreiben und verdrängte damit allenfalls vorübergehend die Menschen aus dem Fokus ohne damit das Problem zu lösen. Bereits bestehende Drogenhilfeeinrichtungen und Bürger setzten sich für humane Lösungsansätze ein, so auch der Einwohnerverein St. Georg.

Dieser führte vor kurzem einen drogenpolitischen Rundgang durch ein Viertel durch, das mittlerweile zur Hälfte als gentrifiziert gilt, während die andere Hälfte nach wie vor auch durch verbotene Prostitution und Drogenabhängige geprägt ist. Anlass des Rundgangs war eine Veranstaltung, welche die Suchthilfeeinrichtung Palette e.V. anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens organisiert hatte. Die Retrospektive zeigte deutlich auf, was sich seit damals verändert hat.

Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger Jahre setzten Mitglieder der damals bestehenden Suchthilfelandschaft für eine Änderung der Drogenpolitik in Richtung auf Rationalität sowie Akzeptanz der Drogengebraucher ein. Die seit Mitte der Siebziger Jahre fast ausschließlich praktizierte und ab 1982 durch das Betäubungsmittelgesetz festgesetzte Ausrichtung auf das Ziel der Totalabstinenz praktizierte „Clean-Therapie“ galt als weitgehend gescheitert. Nicht zuletzt auch, weil sie durch die Option des Ersatzes von Haftzeit defacto zur Zwangstherapie als Strafe mutiert war. Clean-Therapien erreichten beim Gros der Opiatkonsumenten keine dauerhafte Abstinenz. Mehr als eine Auszeit mit Regenerationsoptionen wurde gerade langjährigen Konsumenten nicht geboten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn der strukturelle Rahmen sich mittlerweile an immer mehr vereinheitlichten klinischen Normen orientiert und damit ein professionelles Vorgehen bei seriösem Erscheinungsbild suggeriert.

In Folge der Strafverfolgung und Brandmarkung der Betäubungsmittelgebraucher war es unter Schwarzmarktbedingungen zu einer massiven Verelendung insbesondere der Opiatabhängigen mit der rasant zunehmenden Verbreitung von Infektionskrankheiten gekommen. Die Sichtbarkeit der gesellschaftlich ausgegrenzten Betroffenen im öffentlichen Raum, ermöglichte es Suchthilfemitarbeitern den nötigen Druck auszuüben, um neue niedrigschwellige Projekte wie Fixerräume und Formen des betreuten Wohnens bei fortgesetztem Konsum zu realisieren. So konnte die geforderte Opiat-Substitutionsbehandlung mit Methadon (Methaddict, Polamidon) und Subutex (Buprenorphin) gesetzlich abgesichert werden – mehr noch, für ausgewählte Gebraucher wurde eine Heroinoriginalstoffvergabe ermöglicht.

Politisch verantwortliche, meistkonservative Protagonisten auf Bundesebene gaben sich damals traditionell alarmiert, da es um einen freieren Zugang zu den so genannten Betäubungsmitteln ging. Man sprach von einem „falschen Signal“ und schob Gesundheits- und Jugendschutz vor. Anders herum wird ein Schuh daraus, betonen dagegen bis heute die Liberalisierungs- und Regulierungsbefürworter, denn gerade dies sei nicht unter den Bedingungen der Kriminalisierung zu gewährleisten.

Die Zahl der Opiatabhängigen hatte Anfang der 90er Jahre einen Höhepunkt erreicht, in Hamburg schätzte man sie auf zwischen 5.000 und 10.000 ein. Auf 1.000 bis 2.000 schätzte man die Zahl derjenigen, die sich dabei in einer besonders prekären gesundheitlichen Verfassung und sozialen Situation befanden. Besonders im betroffenen Stadtteil St. Georg suchten Anwohner und Verwaltung gemeinsam nach einem Ausweg. Der damalige Bürgermeister der Stadt, Henning Voscherau (SPD), unterstützte unter öffentlichem Druck und aus persönlichem Engagement neue Drogenhilfeprojekte, die den besonders schwer Betroffenen durch niedrigschwellige Angebote helfen sollten, aus dem Kreislauf aus Beschaffung, Konsum, Haft, Obdachlosigkeit und Krankheit herauszukommen und die Folgen der sozialen Ausgrenzung zu lindern (Ende für die erfolgreiche Heroinabgabe?).

Spritzenvergabe, Fixerräume, betreute Übernachtungsmöglichkeiten und Wohnformen, offene Beratungs- und Unterstützungscafes sowie psychosoziale Betreuung wurden etabliert. Nach dem Vorbild des Pioniers der Substitutionsbehandlung mit Codein, dem Kieler Arzt Gorm Grimm, erhielten schließlich mit Unterstützung Hamburger Ärzte wie Klaus Behrendt die ersten Opiatabhängigen Ersatzsubstanzen wie Polamidon und Methadon. Die Hamburger Apotheker erklärten sich bereit, diese in ihren Räumen abzugeben. Die Substitutionsbehandlung wurde letztendlich bundesweit gesetzlich verankert.

Gegen zunächst erheblichen Widerstand etablierte sich der Ansatz der „Akzeptierenden Drogenarbeit“ als auf von Kostenträgerseite aus zuträgerisch gedachte Ergänzung für die weiterhin unter dem Abstinenzparadigma agierenden Einrichtungen. Viele Träger traten in den Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik „akzept e.V.“ ein und stellten sich damit hinter dessen Ansätze. Heute haben sich einige von ihnen aus Sachzwängen heraus wieder von Niedrigschwelligkeit entfernt und agieren in der Praxis verstärkt bevormundend oder geben wieder vor, verstärkt die Abstinenz in den Fokus genommen zu haben.

Mittlerweile ist durch mehrere Untersuchungen belegt, dass sowohl Kriminalitätsraten, Todesfälle und familiäre Belastungen durch die Substitutionstherapie verringert werden. Dies gilt besonders für kurzfristige Erfolge innerhalb eines Jahres. Der Ersatz der bis dahin illegal erworbenen Opioide durch die tägliche Abgabe eines Medikaments birgt mehrere Vorteile: Zum einen enthalten die eingesetzten Substanzen keine Verunreinigungen und die angegebene Wirkstoffmenge. Die Gefahren des intravenösen Drogenkonsums wie Spritzenabszesse, chronische Entzündungen sowie die Übertragung von Hepatitis C und B und HIV werden vermieden. Die Betroffenen werden zum anderen zeitlich und finanziell entlastet, Prostitution und Beschaffungskriminalität werden meist deutlich reduziert. Nicht nur in Hamburg sind gebrauchte Spritzen von Spielplätzen weitgehend verschwunden. Heute sind über 4.000 opiatabhängige Menschen allein in Hamburg in einer Substitutionsbehandlung. Die Zahl der sogenannten Drogentoten ist gesunken. Die professionelle Erreichbarkeit problematisch Konsumierender ist gestiegen.

Das Ideal der Abstinenz

So deutlich die Erfolge sind, so schwierig sind die noch zu lösenden Probleme. Das Hauptproblem der fortgesetzt konsumierenden wie der abstinenten Klientel ist heute mehr denn je fehlender Wohnraum, allenfalls bescheidene subventionierte und befristete Möglichkeiten der beruflichen Teilhabe, das permanente Damoklesschwert des justiziellen Ärgers im Umgang mit Betäubungsmitteln und die fehlende gesellschaftliche Bereitschaft Menschen mit Suchtproblematik im Alltag zu akzeptieren.

Opioidabhängige, ob in oder ohne Substitution, nehmen meist weitere legale und illegale Substanzen zu sich. Das wird „Beikonsum“ genannt, ist aber oftmals ein Kernproblem. Gerade gerauchtes und injiziertes Kokain beschleunigt etwaige Verelendungsprozesse. Seit Jahren ist dieses Problem bekannt, Lösungsansätze fehlen. Eine Kokainvergabe will niemand öffentlich fordern. Das Phänomen des süchtigen Verhaltens ist bis heute wissenschaftlich nicht hinreichend ergründet worden. Momentan, in den Zeiten des Biologismus, findet man den Homunculus im sogenannten Belohnungssystem des Hirns. Und so günstig die kurzfristigen Erfolge der Substitutionstherapie sind, so unberechenbar sind die Langzeitverläufe. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle, ein allgemeines wissenschaftlich anerkanntes Modell, um negative oder positive Entwicklungen von Opiatabhängigen vorherzusagen, existiert nicht.

Dies gilt für abstinenzorienterte ebenso wie für akzeptierende Ansätze. Die Ergebnisse der PREMOS Studie zeigen, dass von den immer wieder durchgeführten Maßnahmen zur Erreichung einer Abstinenz nur ein sehr geringer Teil der Patienten auch tatsächlich zeitweilig abstinent wird. Mehr noch, eine Abstinenz über mehrere Jahre ist nur vereinzelt zu beobachten. Die Crux: Werden Abstinenzversuche forciert, ist der programmierte Rückfall mit erheblichen Komplikationen verbunden, und dann dauert es lange, bis wieder eine stabile Substitution erreicht wird.

Damit ist man bei der Kernfrage angelangt, die zugleich den Übergang zur allgemeinen Diskussion um Rauschmittel bildet. Soll die Drogenabstinenz, obwohl klar ist, dass sie in der Realität nicht zu erreichen ist und zu negativen Effekten führt, als Ideal die Drogenpolitik auch weiterhin maßgeblich bestimmen? Oder sucht man die Erziehung des Menschen zum mündigen schadensminimierenden Umgang mit Drogen?

Max Goldt spann einmal die Geschichte eines alljährlichen Sanatoriumsaufenthalts in den Schweizer Bergen, bei dem unter ärztlicher Aufsicht Heroin gespritzt wird und alle gut erholt nach Hause fahren. Man kann die obige Frage kurz beantworten: Die Kollateralschäden auf dem Weg zum Ideal „Abstinenz“ sind zu groß. Eine völlige Rauschmittelfreiheit, die ja ohnehin nur auf der wissenschaftlich fragwürdigen rechtlichen Unterscheidung in legale und illegale Substanzen beruht, impliziert nicht nur den totalitären Staat, sie beraubt sich der Potentiale, die in der korrekten Anwendung von Drogen/Medikamenten stecken. Sieht man als Nutzer parallel noch ein, dass Enthaltsamkeit oft kein schlechter Berater ist, kommt man einem vernünftigen Umgang mit Drogen auf der individuellen Ebene schon nah.

Seit Jahrzehnten leidet die drogenpolitische Diskussion unter der sich gegenseitig verstärkenden Kombination der Illegalisierung der Konsumenten und dem Abstinenzparadigma. Dabei kann nicht nur für den Bereich des Heroins angenommen werden, dass die Illegalität die meisten Probleme erschafft, die sie verhindern soll. Die verhärteten Fronten sind durch die Erfolge der Substitutionstherapie kaum aufgeweicht. Alle paar Jahre melden sich entweder Juristen, Ärzte oder Sozialwissenschaftler zu Wort und bitten erneut höflich darum, doch endlich einmal etwas Neues und Radikaleres in der Drogenpolitik auszuprobieren, eine Wende, die über uneffektive Prävention, sisyphosartige Behandlungsansätze und sozial ausgrenzende Strafverfolgung hinausführt.

Muss man das deshalb gleich Legalisierung nennen? Nicht unbedingt, der erste Schritt wäre eine Entkriminalisierung des Besitzes aller psychoaktiven Substanzen für den eigenen Bedarf. Länder wie Portugal und Tschechien, die dies erprobt haben, berichten von Erfolgen. Doch die politischen Akteure sehen wenig Grund Lernprozesse anzustoßen. Noch immer übt man sich daher in pragmatischen Lösungsansätzen, die nur angewandt werden, wenn Missstände sichtbar sind. Dabei wären die Konsequenzen einer Entkriminalisierung durchaus überschaubar, die Dammbruchtheorie ist in den Zeiten der reibungslosen Bestellvorgänge über das Internet ohnehin obsolet.

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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