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Drogenpolitik

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain

Telepolis, 7. Januar 2006

Update am 17.07.2009

Mal ganz unten, mal ganz oben, aber immer: Kokain

Dieses Mal traf es Kate Moss. Es reicht: Eine Polemik für mehr Langeweile

Jedes Jahr braucht einen Kokain-Skandal. Anfang der 90er Jahre traf es Carlo von Tiedemann vom NDR, 1995 den Musiker Konstantin Wecker, im Jahr 2000 Fußballtrainer Christoph Daum, dann, drei Jahre später den Kontakt-Talker Michel Friedman. Die Reihe lässt sich fortsetzen: 2003 Kunstmaler Jörg Immendorf und zuletzt, Ende 2005, Kate Moss. Zwischendurch tauchten immer mal wieder Maradonna, Whitney Huston oder irgendein Münchener Promi-Sternchen auf, das auf der Wiesn allzu auffällig den Einkehrschwung nahm.

Was verbindet alle diese Menschen? Ihr Vergehen, Kokain, nasal, und sie haben sich erwischen lassen. Zufallstreffer, so stellt sich nach einer ersten Phase des Leugnens heraus, sind das nicht, die ertappten Schnupfer sind meist passioniert, sie wissen sehr wohl, wie man mit Briefchen, Spiegeln und gerollten Geldscheinen hantiert. Was sie unterscheidet, ist die Intensität ihres Hobbys. Es gibt Fans und fanatische Anhänger, reflektierte Aficionados und blinde Schwärmer. Aus einem Steckenpferd ist bei einigen eine Passion, bei anderen eine Sucht geworden.

Kokain, wie viele andere Drogen auch, steht noch immer unter dem Ruf einer „Teufelsdroge“. Um ihren vom Wohlwollen der Mitbürger und Medien abhängigen Job weiter durchführen zu dürfen, sind die Erwischten in jedem Fall gezwungen, den reuigen Sündern zu spielen. Seltsamerweise fällt ihnen die Schädlichkeit ihres Tuns und ihre Vorbildfunktion aber immer erst dann auf, wenn sie am öffentlichen Pranger stehen.

Anwälte und PR-Berater geben in allen Fällen ein zweistufiges Vorgehen vor: Auf den Boden werfen, um Gnade bitten und im selben Atemzug Besserung geloben. Zunächst fallen dann Worte wie „großen Fehler gemacht“, „schwere Zeit“, „verlogene Drogen“, später wird um eine „zweite Chance“ gebeten. Als Beweis dient der Rückzug in Klausur, heute Entzugsklinik genannt, wo die Delinquenten auf wundersame Weise binnen vier Wochen von ihrer Sucht geheilt werden. Entweder gibt es in diesen Wellness-Kliniken noch bessere Drogen, als alle ahnen, oder aber es stehen Entzugspraktiken zur Verfügung, von denen die gesamte Therapiebranche bisher nichts gehört hat und von denen Junkies in Geldnot nur träumen können.

Die Wahrheit ist eine andere. Die Katharsis ist nur eine symbolische, auch in Parkanlagen eingebetteten, hochglänzenden Zimmern kann nur die erste, dem starken Kokainkonsum eigene Paranoia überwunden und der Same für eine Besserung gepflanzt werden – wenn denn überhaupt eine Abhängigkeit vorgelegen hat. Eine neue Haltung zur Droge kann nur in längerer Arbeit gefunden werden. Egal, der Sündenbock büßt für uns alle, die wir, mit der Fernbedienung in der Hand, den Medikamenten auf dem Nachttisch und dem Doppelkorn im Gefrierfach nach dem Fall der Stars lechzen. Es ist wie Formel 1 schauen: Die Jungs sollen sich ordentlich überschlagen, aber körperlich unversehrt bleiben.

Kokain ist die Chemie der Ich-AG.

Aber halt, werden hier nicht unerlaubterweise alle Drogen über einen Kamm geschert? Werden hier nicht Äpfel (Kokain) mit Birnen (Korn) verglichen. Gibt es nicht gefährliche und weniger gefährliche Substanzen? Die Antwort soll über einen Umweg erfolgen.

Profi-Brutzler Eckart Witzigman, Fritz „Harry fahr schon mal den Wagen vor“ Wepper: Sie alle waren im Schneegestöber versunken; und auch im kommenden Jahr wird wieder ein Promi beim Schniefen erwischt werden.

Die bunte Welt sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Kokain ist unter den vielen auf dem Markt erhältlichen legalen und illegalen Drogen auch unter den „Experten“ umstritten. Experten, damit sind hier nicht nur die Männer in weißen Kitteln gemeint, sondern diejenigen, die wissenschaftliche Daten und subjektive Erfahrungen haben oder solche zumindest ernst nehmen. Die meisten Konsumenten erfreuen sich an der treibenden Kraft des Pulvers, das auf dem deutschen Markt selten in Reinheitsgraden über 50% anzutreffen ist.

Selbst die dem Kokain positiv gegenüberstehenden Nutzer geben allerdings an, dass schon die zweite Nase am Abend oft zu dem Phänomen der „Großen Fresse und nichts dahinter“ führt: Es würde themenleer gelabert und meist ginge es nur darum zu beweisen, wer der wichtigere Typ in der Runde sei. Die fluffige Stimmung sei dann oft dahin, der Geltungsdrang passe gut zur auch körperlich spürbaren Verhärtung.

Das Gefühl der inneren Größe sei jedem gegönnt, nur passt Kokain seit Jahrzehnten eben auch aus soziokultureller Sicht gut in die westliche, Ich-bezogene Gesellschaft. Das große Teilen setzt bei Kokain nicht an, geschnupft wird nicht nur aus Gründen der Illegalität meist heimlich. Kokain ist die Chemie der Ich-AG. Eine Nase reicht in den meisten Kreisen nie, eher als bei anderen Substanzen ist beim Schnupfpulver die Gier nach immer mehr eingebaut. Die Haltlosigkeit ist Teil des Spiels. Das ist für erfahrene oder gar mündige Konsumenten kein Problem, sie wissen, dass auch dieser Rausch nur eine weitere Spielart der vielgestaltigen Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch ist, vielleicht auch nur eine weitere freudige Illusion.

Aber in den konsumwütigen Industrienationen rieselt dieses Pulver in die Nischen des menschlichen Bewusstseins, das am gleichen Schalter, an dem das Wochenendticket gezogen wurde schnell die Monatskarte kaufen will. Selbsterhellung und Selbstverblendung liegen nie weit auseinander.

Die im Zusammenhang mit Kokain immer wieder zitierten 20er Jahre haben das gezeigt, was viele der starken Koks-Abonnenten selber erleben: Nach der ersten Glamour-Phase zeigt die Substanz ihre Schattenseiten. Wer nicht in der Lage ist, der maßlosen Gier Einhalt zu gebieten betreibt schnell Raubbau am Körper.

Ausgeblendet bleiben Herkunft und Hintergrund der Herstellung der Droge

Nicht nur Menschen mit schwachem Selbstbewusstsein fühlen durch Sternenstaub ungewohnte Stärke und Sicherheit, am nächsten Tag ist das Jammertal umso tiefer. Regelmäßiger Kokaingenuss setzt den Finanzen zu, aber damit hat, wie wir aus Bunte und Gala wissen, ja nicht jeder ein Problem. Schlimmer ist, dass der häufige Konsum der Gesundheit nicht zuträglich ist, selbst wenn die Droge nicht körperlich abhängig macht. Wie so oft ist die Ursprungs-Droge, das Blatt des südamerikanischen Coca-Strauches (Erythroxylum Coca)[1] , milder in Wirkung und Auswirkung als das raffinierte Produkt.
Auch aufgrund der psychischen Nachwehen von Kokain kontrolliert der größere Teil der Kokain-Konsumenten ihren Konsum durch schadensminimierende Regeln und beschränkt ihn auf bestimmte Gelegenheiten.

Ausgeblendet bleibt nicht nur bei den Genießern von Kokain die Herkunft und der ökologische Hintergrund der Herstellung ihrer Droge. Kein echter Weinliebhaber lässt sich verschnittenen Fusel vorsetzen, den meisten Koksenden, Rauchenden und Kiffenden ist es dagegen völlig egal, welche geographische Herkunft und Geschichte hinter ihrem Freizeit-Medikament steckt. Dabei wäre dies für die Ausbildung einer alternativen und vernünftigen Drogenkultur und Politik wichtig. Einigen Befürwortern einer Legalisierung von Drogen, wie beispielsweise dem verbreiteten Cannabis, ist klar, dass das Ziel eine Art Öko- und Fair-Trade-Siegel für marokkanisches Haschisch sein müsste. Die Illegalität der Drogen und der Fatalismus der Konsumenten lässt den Zug seit Jahrzehnten aber in eine ganze andere Richtung fahren.

Eigentlich müsste den Konsumenten von so manchem High schlecht werden: Vom Opium- und Heroinhandel ist bekannt, dass mit den erwirtschafteten Geldern Terroraktionen und Freiheitskämpfe finanziert werden (wobei hier der Raum fehlt, das genauer zu unterscheiden). Wie Berndt G. Thamm und Konrad Freiberg nachweisen, treibt der Deal „Rauschgift-gegen-Waffen“ seit drei Jahrzehnten die Kriegsschauplätze an.[2] Die bei der Kokainherstellung benötigten Chemikalien werden im Urwald entsorgt, die von den Anti-Drogen-Einheiten eingesetzten Entlaubungsmittel setzen den Wäldern zu. Aber darüber wollen die Liebhaber von Psychoaktiva, die gerne von „Bewusstseinsveränderung“ sprechen, nicht nachdenken.

Nach Analysen von Flusswasser müssen Heerscharen von Menschen dem Kokain verfallen sein

Als im November 2005 die Ergebnisse der Studie des Nürnberger [extern] Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP) bekannt wurde, ging zwar ein verwundertes Augenreiben durch die Bevölkerung, an drogenpolitische Konsequenzen dachte aber niemand. So richtig wollte man es lieber nicht glauben, was das IBMP veröffentlichte: Im Wasser von allen 12 untersuchten, durch Deutschland fließenden Flüssen fand das Institut das Kokain-Abbauprodukt Benzoylecgonin. Anhand der Konzentrationen können die Forscher auf die konsumierte Menge der Droge schließen, denn Benzoylecgonin entsteht nur durch Kokainabbau im Körper.

Glaubt man den Ergebnissen, müssen alle offiziellen Schätzungen über die Verbreitung des Pulvers über den Haufen geworfen werden. Die kleine Gruppe der Dauerkonsumenten jedenfalls ist selbst bei bester Beschaffenheit der Nasenscheidewand gar nicht in der Lage, diese Mengen von Koks zu konsumieren. Es muss eine große Gruppe von Normalbürgern geben, die, ohne zu Zombies zu mutieren, gerne Mal den Geldschein rollen.

Einige wundersame Ergebnisse hat die Studie, die 250 Wasserproben entnahm, erbracht: So wird nicht in den als wild geltenden Großstädten Hamburg (Elbe) oder Berlin (Spree) das meiste Kokain genossen, sondern am Rhein bei Köln und Düsseldorf. Auch in der Fulda fanden sich mehr Abbauprodukte als beispielsweise im Main bei Frankfurt.

Die Zahlen passen hinten und vorne nicht mit den bisherigen Annahmen über Kokainkonsum zusammen. In Behörden und Universitäten ging man bisher davon aus, dass rund 0,8% der Bundesbürger gelegentlich Kokain nehmen. Am Rhein wären der Studie nach aber für die 128.000 danach in Frage kommenden Kokser täglich 16 Lines à 25 Milligramm fällig. Das ist ’ne Menge. Ist der Karneval schuld?

Im Neckar bei Mannheim lagen die Werte noch höher. Die Söhne und Töchter Mannheims lassen es sich gut gehen, pro tausend Einwohner werden hier täglich 25 Lines gelegt. Der Leiter der Studie, Fritz Sörgel, winkt ab: „Daraus kann man nicht schließen, dass Mannheim eine Kokshochburg ist. Unsere Daten spiegeln lediglich wider, welche Mengen Kokain vom Flussursprung bis zur Messstelle eingebracht wurden.“ Es ist keine Neuigkeit, dass die Rüsselfraktion vor allem am Wochenende aktiv ist, Sörgel ist sich sogar sicher, dass „am Wochenende mindestens doppelt soviel Kokain konsumiert wird wie unter der Woche.“

Die deutschen Ergebnisse sind mit denen aus der Schweiz vergleichbar. Auch hier testete Sörgels Team das Flusswasser vor und hinter Klärwerken und im frei fließenden Fluss. Die Zürcher haben die Nase vorn, auf 1.000 Einwohner kommen hier 17 Lines am Tag. In der Schweiz geht es hoch her, jährlich sollen hier zwei (reine) Tonnen verbraucht werden. Zum Vergleich: Die weltweite Kokain-Produktion wird zurzeit auf 600-700 Tonnen geschätzt, das meiste davon kommt aus Kolumbien, Peru und Bolivien. Die Schweizer Ergebnisse passen wie in Deutschland in keiner Weise mit den Erhebungen der Behörden zusammen. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit hatte bisher angenommen, dass nur rund 96000 Eidgenossen regelmäßig Kokain konsumieren, rund 13% davon als schwer Abhängige.

Um keiner Phantomsubstanz hinterher zu jagen, benötigte das IBMP einen Fluss, der nicht mit Benzoylecgonin kontaminiert war. Nach langer Suche in ganz Europa fand man ihn im Osten: In den rumänischen Teil der Donau fließt zwar ebenfalls Abwasser, Benzoylecgonin aber war nicht zu finden.

Messfehler, falsche Annahmen oder weite Verbreitung?

Es bleiben drei Möglichkeiten: (1) Entweder befinden sich Deutsche, Schweizer und auch andere Europäer in einem regelmäßigen, aber anscheinend geregelten Kokainrausch, oder (2) es ist sehr viel mehr reines Kokain im Umlauf als angenommen oder aber (3) der Messaufbau hat einen Fehler.

Um hinten anzufangen: (3) Andere Einstehungsprozesse für Benzoylecgonin als im Körper sind zwar nicht bekannt, das Institut gilt als integer, es hat schließlich schon im Wischwasser der Bundestagstoiletten Kokain gefunden. Aber: Mit der gleichen Messmethode hatten Forscher im italienischen Po ebenfalls reichlich vom Kokain-Abbauprodukt analysiert. Schon damals hatte man sich im Weinland Italien gewundert. Auch die Rolle des Regenwassers und die Filterung durch Äcker, Felder und Flusslauf muss noch genauer geklärt werden. Die Rechnung hat ein paar weitere Unbekannte: Um auf die Gesamtmenge an konsumiertem Kokain zu schließen, rechnete das Team um Sörgel die Abbaumengen in ihren Proben zunächst auf einen Tag hoch – und zwar anhand der Wassermenge, die zum Messzeitpunkt pro Sekunde flussabwärts geflossen ist. Die daraus berechnete Menge an Benzoylecgonin multiplizierten sie noch einmal mit dem Faktor 4,19, da laut Sörgel nur etwa ein Viertel einer Kokaindosis als Abbauprodukt mit dem Urin ausgeschieden wird. Zudem hatten die Chemiker am Beispiel des Klärwerks in Heroldsberg bei Nürnberg ermittelt, dass etwa 80 Prozent des Benzoylecgonins durch das Klärwerk zerstört werden.

(2) Der [extern] Reinheitsgrad von Straßen-Koks wird zurzeit von den Behörden bei durchschnittlich 40-50% angesetzt. Schon das ist positiv gedacht, in der Realität dürfte er niedriger sein und bei rund 30% liegen.

(1) Selbst wenn man die Zahl der Hardcore-User und die Zahl der Hobby-Schniefer verdoppelt, ergeben sich gänzlich neue Aussichten. Die von den Therapeuten beäugte Gruppe der schwer abhängigen Kokser kann gar nicht alleine für das Ausmaß der „drogenpolitischen Katastrophe“ zuständig sein. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen lassen, gibt es eine alte, für viele aber immer wieder neue Variante: In Deutschland und den Anrainerstaaten koksen viele Menschen – ab und zu. Und wie immer man die Ergebnisse auch dreht und wendet, der Anteil wird sich bei einer Verbesserungen der Messmethoden eher noch erhöhen.

Was aber bedeutet es für die Drogenpolitik, dass anscheinend viel mehr Menschen als bislang von den offiziellen Stellen angenommen öfter Kokain zu sich nehmen? Die Antwort ist leicht, sie lautet: gar nichts. Die Drogenpolitik brät im eigenen Saft und man sollte vielleicht dafür dankbar sein, denn das wenige, was ihr in solchen Situationen einfällt, ist ohnehin meist eine Erhöhung der Strafen für Konsumenten und Anbieter.

Schieflage der Drogenpolitik

Interessant wäre doch zunächst einmal zu erfahren, wer diese vielen Menschen sind, die auf deutschem und europäischem Boden die Andendroge genießen: Hängen gebliebene Multikultis? Die vielgescholtenen Werber? Die Größen und die Kleinen der Filmbranche? Hält man sich an die Erhebungen, so ist Kokain eine Droge, die quer durch alle Alters- und Einkommensschichten konsumiert wird. Medial auffallen tun meist nur die Glamour-Branchen, aber Kokain ist in den Clubs der Städte seit Jahren etabliert und hat gerade bei den älter gewordenen Ravern und Disco-Hengsten Ecstasy abgelöst, wenn der ganze Brei nicht sowieso munter durchmischt wird: Eine „E“ zum Warm-Werden, etwas Koks zum Frisch-Bleiben, zwei-drei Bier nebenbei zum Plaudern und ’ne Sportzigarette zum Runterkommen.

Es kann nun darüber gestritten werden, in wie weit man so einen Konsum als „geregelt“ bezeichnen kann, Fakt ist, dass anscheinend eine Menge mehr Fans als bisher angenommen am Wochenende ihre Party durchziehen und unter der Woche gleichwohl das Bruttosozialprodukt nach oben schrauben.

Schon Mitte der achtziger Jahre kam es zu einem drastischen Anstieg des Kokain-Angebots in Deutschland. Die Preise fielen um mehr als die Hälfte, bis Ende der neunziger teilweise auf ein Drittel bis ein Viertel dessen, was noch zu Beginn der Kohl-Ära hingeblättert werden musste. Die Folge: Immer größere Konsumentenkreise wurden erschlossen. Das lockte nicht nur Biedermänner, sondern auch die eh hochgefährdete Gruppe der Heroin- und Methadonkonsumenten, die den Kick des injizierten oder gerauchten Kokains mögen. Dies stellte schnell die Substitutionsprogramme in Frage, denn, was macht es für einen Sinn, wenn zwar der Beschaffungsdruck für Heroin wegfällt, die „Lust“ auf den Kick aber bestehen bleibt und sich auf Kokain verlagert?

Wie aber nun mit den verschiedenen Kokain-Gruppen umgehen? Es gilt wie bei allen anderen Drogen auch: Den einen muss geholfen, die anderen wollen in Ruhe gelassen werden. Es ist eine weithin bekannte, aber aus guten Gründen verdrängte Ironie, dass ausgerechnet die Gesetze, die ursprünglich zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung erlassen wurden, sich heute gegen alle Benutzer von illegalen Drogen wenden.

Diese Benutzer lassen sich in die genannten zwei Gruppen einteilen: Die einen sind die oft verelendeten Süchtigen. Für die braucht man nicht einmal entscheiden, ob die Kriminalisierung ihres Drogengebrauchs ihre Lage nur noch schlimmer macht – und das sieht so aus. Nein, selbst wenn man das verneint, zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen Versuchen der freien Substanzabgabe (Stichwort: Heroinversuch), dass sich soziale Schieflagen stabilisieren und ein Ausstieg aus der Sucht eher möglich, wenn, wie oben beschrieben, nicht garantiert ist.

Die andere Gruppe hat – und das ist das große Tabu von Politik und Gesellschaft – ihren Frieden mit einer geistbewegenden Substanz geschlossen, sie hat Spaß daran, sich ab und zu aus dem Irrsinn, der sich Alltag nennt, heraus zu bewegen.

Die Drogenpolitik ignoriert diese Menschen und ist ganz versessen auf die nachweislich viel kleinere Gruppe an Süchtigen, die von einer Heerschar von Therapeuten umsorgt wird. Warum? Zum einen sicher, weil diese Menschen Angst machen, weil sie Mitleid erregen und man helfen will. Zum anderen, weil sich hier Wählerstimmen fangen lassen, denn beim Thema „Drogen“ fällt Omi bekanntlich noch immer der Löffel in den Kaffee. „Rübe ab“, so der Ruf, dabei gibt es aus ökonomischer Sicht keinen Unterschied zwischen einem „Zigaretten-Dealer“ und einem „Kokain-Hersteller“. Der macht sich allein an der Moral und den wissenschaftlichen Erkenntnissen fest – und auch die sind voneinander abhängig.

Das Drogenproblem ist ein Problem der Neuzeit

Moral, das heißt in Deutschland Abstinenz-Paradigma, protestantisches Arbeitsethos und Herrschaftssicherung. 2000 Jahre christliche Glaubensmoral bedeuten, nüchtern und demütig auf das Paradies zu warten und den fleischlichen Lüsten zu entsagen. Ökonomische Moral, das heißt im Kapitalismus natürliche Neugier möglichst schnell in Bares zu transformieren. Politische Moral heißt dann Tabakanbau zu subventionieren und über die vielen Raucher zu jammern. Gesellschaftliche Moral heißt beim sechsten Jägermeister die kalte Erregung über Kate Moss zu genießen. Individuelle Moral heißt den Alibert mit Medikamenten vollzustopfen, anstatt die Ernährung umzustellen.

Man braucht gar nicht von „erkenntnisgeleiteter Forschung“ und „herrschenden Paradigmen“ fachsimpeln, um die Relativität oder gar Windigkeit von manchen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erfassen. Es ist noch keine 40 Jahre her, da sollte Masturbation zwangsläufig zu Rückenmarkkrebs führen. Interessant ist doch zweierlei: Das „Drogenproblem“ ist ein Problem der Neuzeit und hier vor allem des letzten Jahrhunderts. Trotz aller Bemühungen ist es nicht in den Griff zu bekommen, im Gegenteil, fast scheint es, als ob mehr Druck (egal auf wen in dem Kreislauf) den Drogengebrauch nur noch anheizt. Aber selbst, wenn man das nicht so sieht: Heute ist man sich einig, dass die Drogenpolitik eines Landes nur wenig Einfluss auf die Konsummuster hat. Da braucht nämlich am anderen Ende der Welt nur irgendein Rapper den Vollrausch propagieren, schon geht in Deutschland die Luzie ab.

Ob Cannabis, Kokain oder LSD: Seit Jahrzehnten weisen Forscher aus der ganzen Welt in ihren Veröffentlichungen mal auf die Schädlichkeit, mal auf die Unschädlichkeit und dann sogar auf die positiven Eigenschaften pflanzlicher Inhaltsstoffe oder chemischer Substanzen hin. Während die einen von der „Seuche Cannabis“ oder LSD-Psychosen sprechen, weisen die anderen auf die therapeutischen Eigenschaften der Substanz hin. Weltweit agieren Vereine, die unter dem Titel „Cannabis als Medizin“ den Stoff an die bedürftige Frau bringen wollen. Ja, wie denn nun? Die Lösung ist einfach, altbekannt, gilt für alle Substanzen und beantwortet auch die oben aufgeworfene Frage nach gefährlichen und weniger gefährlichen Drogen: Die Dosis macht das Gift.

Das Problem ist halt nur: Für eine angemessene Dosierung ist in dieser Gesellschaft bisher kaum Platz. Es gibt keine harten und weichen Drogen, es gibt nur harte und weiche Konsummuster. Die ausdifferenzierte Weinkultur bricht an ihren Rändern eben auch ab und generiert den Alkoholismus. Hier hat man aber eher einsehen wollen, dass die pharmakologische eine soziale Frage ist.

So wichtig das mit besten Methoden eruierte Wissen über Chemie und Struktur von Substanzen auch ist, Menschen funktionieren nicht wie Maschinen, das Wirkungsspektrum, mehr noch die (eventuell positiven, eventuell negativen) Langzeitfolgen werden maßgeblich von der individuellen Persönlichkeit bestimmt. Diese zu einem mündigen Umgang mit psychoaktiven Substanzen, Medikamenten und veränderten Bewusstseinszuständen zu bringen, dürfte eine der wichtigen Aufgaben der kommenden Jahrzehnte sein.

Update v. 1.11.2007
Die Schweizer Tennisspielerin Martina Hingis wurde beim Tennisturnier in Wimbledon positiv auf Kokain getestet.

 

 

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Kokain – Eine Kontroverse

Bei kaum einer anderen Droge kann man so leicht ins Fettnäpfchen treten wie bei Kokain. Extrahiert und damit 100fach konzentriert aus den getrockneten Blättern eines vor allem im tropischen Südamerika angebauten Strauches, galt das schneeweiße Hydrochloridsalz noch während der Siebziger Jahre als teures Statussymbol in Schickeriazirkeln. Irgendwie hatte man immer gleich eine hysterisch-überkandidelte selbstverliebte Münchner Film- und Musikszene vor Augen. Kokain war auch das, was sich Haschischhändler von ihren Profiten selbst gern mal gönnten.

Anfang der Achtziger Jahre kam es jedoch nach Sättigung des US-Marktes zu einem drastischen Anstieg des Angebotes in Europa und schließlich Mitte der Achtziger auch in Deutschland. Die Preise fielen um mehr als die Hälfte, bis Ende der Neunziger teilweise auf ein Drittel bis ein Viertel dessen, was noch zu Beginn der Kohl-Ära hingeblättert werden mußte. Immer größere Konsumentenkreise wurden erschlossen. Beflügelten sich zunächst noch die Besserverdienenden aus der Medien- und Unterhaltungsbranche, zogen die bürgerlichen Kids bald nach und möbelten sich damit fürs Nachtleben auf. Mittlerweile ist vom gemütlich mit Gattin oder Freunden zu Hause koksenden Biedermann bis zum proletarischen auf der Technoparty vom Autodach schnupfenden Zappelphilip ein weiter Bogen an Konsumentenkreisen erreicht. Hilft es zwar zunächst, schwache Egos aufzuplustern, erlebten doch nicht wenige, daß Kokainkonsum auf die Dauer nicht nur die Finanzen stark angreifen kann, sondern auch Beziehungen gefährden und zerstören kann und letztlich der psychischen und physischen Gesundheit nicht zu Gute kommt.

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Coca Blättter in Bolivien – 2008

Besonders verheerend machte sich dies in der Junkieszene bemerkbar. Dort hatte man das Kokaininjizieren als zusätzlichen häufig hintereinander wiederholbaren Kick entdeckt. Das Schwarzmarktkokain ist meist stark verunreinigt. Man kennt die Dosierung nicht. Es wird in der Regel nicht aufgekocht und ist daher noch unhygienischer als Strassenheroin, was zu Infektionen und Abszessen führen kann. Obendrein kann es Adern verstopfen und zu Infarkten und Thrombosen führen. Es greift das Gewebe stärker an und belastet durch den Junkielebenstil bereits geschädigte Organe, insbesondere wenn Krankheiten wie Hepatitís oder AIDS ausgebrochen sind. Sozialarbeiter beklagen, daß sich auf der Szene mit der Verbreitung von Kokain eine erheblich höhere Aggressivität breitgemacht habe. Die Kokainfixer und Kokainbaseraucher seien viel schwerer erreichbar. Einige Konsumenten laufen in Zuständen hochgradiger Paranoia in der Gegend herum. Der neben dem Saufen von Alkohol und dem Schlucken übertrieben verschriebener und den Schwarzmarkt bereichernder Psychopharmaka als „Beigebrauch“ beschönigte exzessive Kokainkonsum stellt auch die sogenannten „Substitutionsprogramme“ in Frage. Denn, was macht es für einen Sinn, wenn zwar der „Beschaffungsdruck“ für Opiat (sprich Heroin) wegfällt, der Suchtdruck, der Wunsch sich Kicks zu verschaffen, sich möglichst aus der deprimierenden Realität herauszuziehen, aber bestehen bleibt und sich auf Kokain verlagert. Der Anteil der substituierten Drogengebraucher, zumindest in Großstädten, die schon am Monatsanfang innerhalb kürzester Zeit einen Großteil ihrer Sozialhilfe für Kokain („Kügelchen“ oder „Plomben“, wie die von den Strassendealern oft im Mund aufbewahrten Handelseinheiten genannt werden) ausgegeben haben und dafür Ernährung und notwendige Anschaffungen vernachlässigen, wird von Insidern als hoch eingeschätzt.

Natürlich, manche etablierte Institutionen wollen das Erreichte nicht gefährden. So verschanzt man sich hinter ideologischen Barrieren, versucht das Ganze schönzureden und leiert aus Ratlosigkeit Akupunkturprogramme an (die momentan als die einzige überhaupt effektive Hilfe zur Reduzierung des Suchtdrucks gelten). Destruktives süchtiges Verhalten läßt sich anscheinend nicht so einfach durch Substanzvergabe aus der Welt schaffen. Und schon gar nicht durch die Vergabe nur einer Substanz. Die Probleme der Betroffenen liegen woanders. Selbst wenn sie alle Drogen der Welt frei Haus geliefert bekommen würden, würden sie nicht notwendigerweise eine Ausbildung anfangen und sich plötzlich makrobiotisch ernähren. Andererseits verschärft die Kriminalisierung besonders die desolate Situation von sozial entwurzelten und psychisch vorbelasteten Drogenabhängigen enorm. Der nächste Schritt muß deshalb in letzter Konsequenz viel radikaler sein. Und will man nicht in Richtung Bevormundung und Entmündigung marschieren, dann muß man eindeutig und umfassend schrittweise weiter in Richtung Entkriminalisierung gehen anstatt sich auf Verteidigungskämpfe des zugegeben im Vergleich zum Zustand vor 15 Jahren erstaunlicherweise überhaupt gewachsenen und mittlerweile umfangreichen akzeptierend arbeitenden und sehr sinnvollen Angebotes zurückzuziehen. Drogengebrauch, auch süchtiger Drogengebrauch, sollte für niemanden ein Argument sein, sich aus der Verantwortung für sein Leben und Handeln zu ziehen.

Wo es aber um den Umgang allein mit sich selbst geht, sollte man Drogengebrauchern gegenüber dieselbe Toleranz aufbringen und ihnen dieselben Rechte zubilligen wie Nikotinabhängigen, Alkoholikern oder Extremsportlern. Auf jeden Fall wäre eine ehrliche und offene Auseinandersetzung über das, was sinnvoll erscheint und ausprobiert werden sollte, viel wünschenswerter als ein heuchlerisches Herumlarvieren aus Angst vor Veränderung und dem Verlust von Pfründen und Posten.

Das sich der Druck in der Öffentlichkeit noch erhöhen wird, zeigt die Diskussion um offene Strassendealerszenen, die sich in Städten wie Hamburg im öffentlichen Raum in einem Maße ausgebreitet haben, daß auch ansonsten liberale Mitmenschen sich belästigt fühlen. Die letztlich sinnlose Drogenprohibition ausnutzend und die daraus folgenden hohen Profite abschöpfend, etablieren sich Gruppen ausländischer Krimineller, zum Teil unter Mißbrauch des für politisch Verfolgte gedachten Asylrechts. Auch wenn diese Dealer ihre Landsleute und das Asylrecht in Miskredit bringen und auf die Schwächen ihrer Kundschaft bauen, so nutzen sie doch nur eine gesellschaftliche Nische, die ihnen eine überholte Politik vorgibt, zu ihrem eigenen Vorteil. Erschwert wird die Lösung der Problematik in manchen Stadtteilen noch durch eine Solidariserung bestimmter linksdogmatischer Kreise mit den Tätern, die sie sich dafür gern als Opfer zurechtstilisieren, um sich damit selbst als von positiven Absichten beseelt und über den vermeintlichen Rassismus der Anderen erhebend aufzuwerten. Letztlich projizieren sie ihren Selbsthaß mit Hilfe des Totschlagarguments des Rassismus auf die Menschen, die als betroffene Anwohner oder vielfach ausgenutzte Abhängige mehr Freiheit in ihrem eigenen Lebensraum fordern und verständlicherweise nicht mehr unbefangen an die Sache herangehen können.

Man sieht, wie leicht man über Kokain in Tabubereiche gerät. Die Auseinandersetzungen über den Umgang mit Kokain werden noch zu führen sein Sie werden sehr emotional sein, da es eine große Spannbreite an Konsumenten und Umgangsformen (von harmlosem Vergnügen in geselliger Runde bis hin zur Selbstzerstörung oder aggresssiven Ausbrüchen gegen Andere) mit dieser Droge gibt. Die bedenkliche und verbreitete Kombination von Kokain mit Alkohol habe ich noch garnicht angesprochen.

cocain

Eine andere Seite, ist der Mythos vom Superkokain, das angeblich sofort abhängig mache und verheerende Konsequenzen insbesondere für ungeborene Kinder habe. Besonderen Ausdruck fand dieser Mythos in der mysteriösen neuen Droge „Crack“. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Wirkstoff im Crack um eine wohlbekannte rauchbare Form des Kokains, die Kokainbase. Selbst manch ein Junkie, der regelmässig Kokainhydrochlorid injiziert und auch Kokainbase raucht, ist dem Mythos von der Horrordroge Crack aufgesessen und erzählt ihn mit erregtem Gruseln weiter. Längst ist in den USA belegt, daß ein Großteil der Crackkonsumenten lediglich phasenweise, zum Beispiel am Wochenende konsumiert und die in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen sogenannten „Crackbabies“ in erster Linie Produkte der desolaten Verhältnisse, in denen bestimmte soziale „Randgruppen“ in den USA leben müssen, sind, als daß sie toxikologische Opfer einer Teufelsdroge sind. Im übrigen seien die Kinder bei entsprechender Zuwendung schnell in der Lage ihren Geburtsrückstand wieder zu kompensieren.

Kokain ist mittlerweile nicht mehr nur mit dem Flair des Kitzels für das ansonsten langweilige und öde Leben der Reichen und Schönen behaftet, sondern auch mit Ängsten vor Kontrollverlust und Exzess, wie sie das Bild von den sich zu Tode koksenden Laborratten wiederspiegelt. Wenn man von Kokain spricht, egal in welcher Form, denkt man jetzt auch an Gier, an „craving“, Kokain als Symbol für Maßlosigkeit und Haltlosigkeit. Man will anscheinend immer mehr und wird doch nie wirklich befriedigt, kurze flüchtige Momente allenfalls. Es wird weitergemacht, bis alles weg ist, und dann rennt man nochmal los. Aber man darf bei diesem Bild nicht vergessen, daß ein großer Teil der Konsumenten durchaus in der Lage ist, den Konsum einigermaßen zu kontrollieren, ihn selbstbelohnend, genußorientiert oder leistungssteigernd im Rahmen eigener schadensminimierender Konsumregeln auf bestimmte Gelegenheiten (z.B. nur am Wochenende oder zu Weihnachten und Sylvester) zu beschränken und vor allem die eigene finanzielle Situation im Auge zu behalten. Wer reich ist, ist hierbei zugegeben im Vorteil. Die Reichen können sich auch noch mehr Spaß an Kokainwitzen erlauben, sollte man meinen. Diese haben längst das Fernsehen als Gradmesser der Toleranz erreicht. So sind in der Harald Schmidt-Show Kokswitze ein Dauerbrenner. Der Studiomusiker Helmut Zerlett ist zur koksenden Witzfigur abkommandiert worden. Kokser-Rap und Achtziger Jahre Koksermusik, wie die von Falco, ist lange schon musikprogrammtauglich. In nicht hinterfragten Hollywoodschinken für die breite Masse steht Kokain, „der Schnee auf dem wir alle talwärts fahren“, für ein gewisses Etwas, das Nasenpuder mit dem Flair des Verbotenen. Snowboardhersteller locken mit rasierklingengezogenen Kokainbergen (siehe Piste 1/99). Kokain ist gesellschaftsfähig geworden. Wer will nochmal, wer hat noch nicht?

Deshalb sollte man auch anfangen, den problematischen Konsum zu thematisieren und neue Umgehensweisen damit zu erproben. Dazu gehört meines Erachtens parallel zum anvisierten Heroinvergabeversuch ein großangelegter Kokainvergabeversuch. Erst in der Praxis wird man sehen, ob und für wen der freie Zugang zur reinen Droge die persönliche Gesamtsituation entschärft oder gar noch verschlimmert. Gleichzeitig wäre ein Ausbau an professionellen Hilfen mit Erfahrung im Umgang mit problematisch Kokainkonsumierenden wünschenswert. Kokain sollte von seinem hohen Ross heruntergeholt, aber nicht verteufelt werden. Ob eine Welt mit freiem Zugang zu Kokain (Koks für alle) wünschenswert ist, ist zumindest fragwürdig. Schließlich zeigen Erfahrungen, daß exzessiver Kokainkonsum, besonders das Injizieren und das Rauchen von Kokainbase (oder Crack), innerhalb recht kurzer Zeit zu (meist mit dem Absetzen der Droge schwindenden) Persönlichkeitsveränderungen bis hin zur paranoiden Psychose führen kann. Aber wenn man Wert auf individuelle Freiheit und Selbstverantwortung legt, wird man sich von einer mit Zwang und Strafen drohenden bevormundenden Haltung wegbewegen müssen, auch wenn man nicht immer glücklich mit dem Verhalten und Sosein einzelner Mitmenschen ist.

Was über die Kokainproblematik oft vergessen wird, ist das Kokablatt. Neben dem Schlafmohn und dem Hanf gehört die Kokapflanze zum Triumvirat der drei bei uns in ihrer Gänze verbotenen Pflanzen. Und für die Kokapflanze gibt es praktisch gar keine Ausnahmen mehr. Dabei kann die Pflanze unter unseren klimatischen Bedingungen garnicht gedeihen, es sei denn man päppelt sie im Gewächshaus hoch. Die Ansichtsexemplare botanischer Gärten werden meist mit einer erheblichen Dröhnung an giftigen Pflanzenschutzmitteln am Leben erhalten und sind deshalb für den Verzehr ungeeignet. Selbst der grasig an grünen Tee erinnernde erfischende und leicht anregende Kokablatttee, der in Peru legal als „Mate de Coca“ in Teebeuteln zu je 1 Gramm abgefüllt wird, darf bei uns nicht gehandelt werden. In den frechen Niederlanden allerdings stößt man in manchen Smartshops auf ihn (für z.B. 2 Gulden pro Beutel). Eine Tasse wirkt recht mild, milder als Tee, drei Tassen regen schon deutlich an. Der Tee kann wie guter grüner Tee zwei- bis dreimal überbrüht werden. Auch das Kauen der Kokablätter ist bei uns nicht erlaubt. Den Andenbewohnern hilft der mit einer Messerspitze gebranntem Kalk versetzte und in der Backentasche eingespeichelte und ausgesaugte lokalanästhetisierende Bissen aus mindestens zwei Gramm der getrockneten Blätter nicht nur bei den Strapazen des Tages und gegen Symptome der Höhenkrankheit, sondern auch als Lieferant von Vitaminen, Mineral- und sogar ein paar Nährstoffen. Kokatee und Kokabissen sind im Vergleich zum Kokain harmlose Stimulantien (mit einer Reihe traditioneller medizinischer Indikationen, die überprüft werden sollten). Der Besitz von Kokablättern oder Kokapflanzen sollte bei uns ähnlich wie längst überfällig bei Cannabisprodukten auf keinen Fall strafrechtlich verfolgt werden. Obendrein böte der Handel mit Kokablättern vielen verarmten südamerikanischen Bauern eine legale Einkommensmöglichkeit. Na dann, auf gute Beziehungen!