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Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

Yoga, Iyengar, Anfänger, Hamburg/

„Beobachte ohne zu Bewerten“

Das spezielle Yoga des Inders Bellur Iyengar stärkt das körperliche und geistige Befinden

Die Welt steht Kopf seit einer Minute. „Etwas mehr nach Links mit den Beinen“, sagt Babette Rincke, „ja, so stehst du gerade“. Das Blut läuft mir in den Kopf, ohne das dies besonders unangenehm ist. Die Arme fangen unter der Anstrengung an zu zittern, aber ich will noch etwas länger durchhalten. „Lass den Kopf hängen und kneif die Pobacken zusammen.“ Ich versuche zu gehorchen, bin aber mit der Aufrechterhaltung des Handstands so beschäftigt, dass ich kaum folgen kann. Schließlich lasse ich mich zurück gleiten, gehe zurück zu meiner Matte und ruhe mich aus. Seit drei Jahren praktiziere ich das Yoga von Bellur Iyengar, einem heute 85-jährigen Inder, der das klassische Körpertraining des indischen Kontinents auf westliche Bedürfnisse zugeschnitten hat.

Iyengar (sprich: Eijengar) entwickelte bereits in den 40er Jahren neue Formen der Körperhaltungen und Bewegungsfolgen, welche die individuell unterschiedlichen, anatomischen Strukturen des menschlichen Körpers berücksichtigen. Dabei lag sein Augenmerk auf der Entwicklung einer Yoga-Form, die auch von Menschen mit körperlichen Schwächen und Behinderungen geübt werden kann. Für die eigenen Übungspraxis und den Unterricht erkannte er den Wert von Hilfsmitteln für die Ausführung der Übungen: Gürtel, Holzklötze, Stühle, feste Kissen und Gewichte werden so angewandt, dass die Anstrengung wesentlich verringert wird um das längere Verweilen in einer Übung zu ermöglichen. Dies wiederum ermöglicht eine tiefere Erfahrung und damit bessere Wirkung. So ist Iyengar-Yoga zwar eine Form des eher bekannten Hatha-Yoga, geht aber mehr als dieses auf die anatomischen Besondheriten des jeweiligen Schülers ein.

Bestätigt wird dieses Prinzip bei den Standstellungen, die uns Babette am heutigen Nachmittag zum wiederholten Male zeigt. Hierbei stehen wir mit gespreizten Beinen fest auf dem Boden, beugen den Körper nach Links, verstärken aber den Druck auf den rechten Fuß. „Nach Links verlängern, nach Rechts den Druck gleichzeitig erhöhen“, weist unsere 45-jährige Yoga-Lehrerin an, die zudem ausgebildete Krankengymnastin ist. Zunächst wusste ich bei dieser wie bei vielen anderen Stellungen nicht, welchen Zweck sie haben sollten, dass Einnehmen der vorgegebenen äußeren Form schien mir ohne Sinn. Natürlich wurden dabei die hinteren Sehnen der Beine gedehnt, aber sollte darin die Bestimmung dieses Asanas liegen? Erst im Laufe von zwei Jahren erkannte und erspürte ich die innere Dynamik, durch die jede Übung zu einem Ganzen wird, in das alle Körperteile auf sinnvolle Weise integriert sind. So ist es eben durchaus möglich, den Oberkörper weit zu einer Seite zu legen, dabei aber das Gewicht auszubalancieren und so beide Füßen gleichmäßig zu belasten. Babette: „Der Körper ist keine Block, sondern besteht aus vielen Elementen, die sich völlig unterschiedlich zueinander bewegen können. Ein Ziel des Iyengar-Yoga ist es, die Kontrolle kleinster Körperbereiche immer weiter zu verfeinern.“

Was ist das besondere an der Methode des Bellur Krishnamachar Sundararaya Iyengar, wie der Mann mit vollen Namen heißt? Mit Yoga assoziieren viele entweder asketische Yogis mit hinter dem Kopf verschränkten Beinen oder esoterische Wünschelrutengänger auf Abwegen. Um Yoga zu verstehen und nachzuvollziehen, muss es dreifach gedacht werden. Die zahlreichen Posen dienen nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, Geschicklichkeit, Dehnung und Balance, sondern zugleich der Persönlichkeitsbildung. Immer wieder muss beim Üben selbst beobachtet werden, was während der Stellung mit dem eigenen Körper und der Aufmerksamkeit geschieht. Wird ein Teil überdehnt, fehlt die Balance oder kommt es zu einer gemeinsamen Ausrichtung der Körperteile? Schweifen die Gedanken ab, flüchten sie vor der Anstrengung?

Die Theorie des Yoga besagt, dass aus einer in sich stimmigen Haltung ein Geschehen entsteht, welches die Gesamtheit des Körpers nachhaltig umfasst. Als dritten Faktor hat jedes Asana immer auch eine medizinische Wirkung. So belebt der Handstand durch die Umkehrung alle inneren Organe, während die Drehlage im Liegen, bei welcher die Wirbelsäule wie ein aufgedrehtes Handtuch gewrungen wird, das Rückgrat und die Bandscheiben nährt. Das korrekte Vorwärtsbeugen, gerade für Männer eine schwierige Übung des sich Gehen-Lassen, Nichts-Leisten-müssen und weicher werden, kräftigt Leber, Milz und Nieren in ihren Funktionen.

 

Das dies nicht nur Theorie ist, sondern in der Übungspraxis nach vollzogen werden kann, beweist Thomas Gärtner.* Durch seine Tätigkeit als Krankenpfleger und eine Jahre währende schlechte Körperhaltung hatte sich der 36-jährige den Rücken ruiniert. Angefangen beim „Scheuermann“, über Sklerose bis hin zum Gleitwirbel plagten ihn chronische Verspannungen und Schmerzen, die durch die vom Arzt verordnete Krankengymnastik kaum gelindert wurden. Durch eine Freundin bekam er den Tipp und seit einem halben Jahr übt er nun Iyengar-Yoga. „Meine Rückenprobleme haben sich enorm verbessert“, freut er sich, um anzufügen, „ich müsste zu Hause viel häufiger trainieren, dann würde es garantiert noch besser werden“. Gärtner geht es auch um den Beweis, dass Körper und Geist keine getrennte Einheiten, sondern auf vielfältige Weise untrennbar miteinander verbunden sind. Diese verschütteten, blockierten oder abgestorbenen Verbindungen sollte eine Methode wiederbeleben, die sowohl den physischen Körper als auch die Psyche stärkt und entspannt. „Ich möchte Körper und Geist zusammen bringen“, fasst Gärtner zusammen. Gar als „phänomenal“ bezeichnet er die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Verspannung durch die Übungen. Dabei geht es ihm nicht so sehr um eine strikte Leistungsorientierung, als um eine Erweckung der Sensibilität für körpereigene Vorgänge. „Ich habe begriffen, dass ich hier nichts leisten, sondern beobachten und wahrnehmen muss. Weniger ist mehr.“

Mittlerweile sind wir bei der „Großen Drehlage“ angelangt. Hierbei liegen wir rücklings auf dem Boden, haben die Arme in Schulterhöhe ausgestreckt, ziehen die Beine an die Brust und drehen dann die Beine nach rechts und den Kopf nach links. „Langsam und mit Kontrolle“, erinnert Babette uns, „und wenn die Beine den Boden berühren, streckt ihr sie aus.“ Es ist drei Jahre her, dass ich diese Übung zum ersten Mal ausführte; damals verlor ich die Orientierung und wusste nicht mehr, wo meine Körperteile lagen. Heute bin ich tatsächlich in der Lage mich „in die Lage fallen zu lassen“, wie Babette es nennt. „Das Einatmen schafft Raum und mit der Ausatmung sinkst du in den Raum hinein“, muntert uns die Yoga-Lehrerin auf. Im Gegensatz zu den sehr dynamischen Standstellungen sind die Entspannungslagen ruhig und von geringer Anstrengung getragen. Dies bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Aufmerksamkeit – diese sollte alle Übungen begleiten – nur nimmt diese eine rein beobachtende Rolle ein. Das größte Problem ist ohnehin das Abschweifen der Gedanken, die sich in manchen Entspannungsstellungen gerne den Ereignissen des Tages, den Plänen der nahen Zukunft oder noch öfter dem Essen zuwenden. „Wenn du dies bemerkst“, sagt die Yoga-Lehrerin, „hole den Gedanken sanft wie ein unartiges Kind zurück zu der Stellung.“ Einfacher gesagt, als getan, denke ich und verscheuche die Pasta mit Käse-Sahnesoße aus meinen Kopf. Nach der Drehlage fühlen sich die linke und rechte Körperhälften unterschiedlich an. Die rechte schwerer und wärmer, die linke volumiger. Auch hier gilt es, so weiß ich mittlerweile, über die Zeit die Beobachtung zu verfeinern und eventuell noch weitere Unterschiede wahrzunehmen.

Ralf Schütt, langjähriges Mitglied im Vorstand der Vereinigung der deutschen Iyengar-Lehrer, schätzt die Zahl der Aktiven Yoga-Schüler in Deutschland auf etwa fünf Tausend. Er bestätigt, dass ein großer Anteil davon aufgrund von Probleme mit dem Rücken, den Gelenken oder schlicht zum Stressabbau zum Iyengar-Yoga gekommen ist. „Viele wechseln aus dem Fitness-Bereich zu Iyengar, weil es neben dem Muskulaturaufbau auch ein hervorragendes mentales Training ist.“ Der 1999 verstorbene Geiger Yehudi Menuhin und Pop-Ikone Madonna -sie alle waren und sind begeisterte Anhänger des Iyengar-Yogas. Menhuin schrieb in einem Vorwort zu einem Buch von Bellur Iyengar: „Die Übung des Yoga gibt ein entscheidendes Gefühl für Maß und Proportion. Auf unseren Körper bezogen, bedeutet dies, dass wir unser wichtigstes Instrument zu spielen und die größte Resonanz und Harmonie daraus zu ziehen lernen. Mit unermüdlicher Geduld verfeinern und beseelen wir jede Zelle.“ Ähnlich blumig wie der Meister der Musik drückt es der Meister des Yoga aus: „Das Selbst füllt den Körper bis in die Zellen, wie Wasser, das in einem Gefäß ruht. Die Aufmerksamkeit muss ebenfalls den ganzen Körper füllen, so gleichmäßig und lückenlos wie Wasser, das sich in einem Gefäß verteilt.“ Seit nunmehr über 60 Jahren übt der heute 82-jährige alte Mann bis zu zehn Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht.
Die zweistündige Yoga-Sitzung mit Babette Rincke geht zu Ende. In dieser Zeit habe ich meine durch das viele Sitzen am Schreibtisch verkürzten hinteren Sehnen der Beine wieder ein Stück gedehnt, den Brustkorb geweitet und die eingesunkenen Wirbelsäule ausgerichtet. Schweiß ist geflossen, Körperspannung ist auf- und wieder abgebaut worden. Die kleine Gruppe von sechs Leuten liegt auf dem Boden und spürt noch einmal in die verschiedenen Körperteile hinein. Im Idealfall ist man fähig kleinste Körperbereiche voneinander zu unterscheiden – für mich und die anderen ein noch langer Weg.

* Name von der Redaktion geändert.

 


Yoga
Der Ausdruck Yoga stammt aus der indischen Sanskrit-Silbe „Yui“, was soviel wie zusammenbinden bedeutet. Zusammengebracht werden sollen Intellekt und Körper. Der Vermittler zwischen diesen Instanzen ist aus Sicht der alten Yoga-Sutras die Seele. Belur Iyengars Yoga-System fußt auf diesen von Patanjali ungefähr 200 v. Chr. nieder geschriebenen Sutras. Mit jeder korrekt ausgeführten Übung soll sich der Mensch nicht nur physiologisch und neurologisch, sondern auch emotional, ethisch und nicht zuletzt spirituell weiter entwickeln.

Zu Iyengar
Seit nunmehr 65 Jahren übt der Mann bis zu acht Stunden am Tag, gemäß seiner Devise „Der Körper dein Tempel, die Pose das Gebet.“ Diese Kontinuität hat ihm den Ruf des besten aller lebenden Yoga-Meister eingebracht. Bei fernöstlichen Weisheiten bleibt Iynegar nicht stehen, seine von ihm geleiteten Übungseinheiten stehen im dem Ruf äußerst anstrengend zu sein. „Schmerz ist dein Meister“, ist denn auch ein oft zitierter Ausspruch von Iyengar. Dies kommt allerdings zum einen immer auf den Lehrer, zum anderen auf den Praktizierenden selbst an. Die Methode ist zwar intensiv, aber nicht aggressiv. Unbewusste Blockaden im Körper benötigen jedoch oft einen deutlichen Hinweis von Außen um durchbrochen zu werden. Iyengar: „Wenn du dein Hemd aufhängen willst, brauchst du einen Bügel. Genauso ist es, wenn du einen geordneten Körper und einen geordneten Geist haben willst.“

 

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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