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Cannabis Mixed Reisen

Golfplatz-Einweihung mit Manni Kaltz

HanfBlatt, November 2003

Im Buschbrand der gegenseitigen Abhängigkeiten von Freizeit-Fabriken, Promis und Journalisten.

Der dunkle Anzug ist zu warm, schwitzend wanke ich in den Fahrstuhl. Abfahrt zum Bussi-Bussi. Ich weiß nicht, was mich auf der Terrasse des verbrauchten Strandhotels erwartet. Nun gut, den offiziellen Anlass habe ich erfahren: es geht um das Stopfen von nahe gelegenen 18 Löcher im Rasen – ein Golfplatz wird eröffnet. Dafür müsste man sich nur eine halbe Stunde nehmen, hier aber haben sich für die nächsten drei Tage A- und B-Promis aus der gesamten Republik angekündigt. Dazu sind Vertreter aus den Hochglanzmedien und PR-Berater angerauscht. Sie alle wollen in einem norddeutschen Seebad den Knospen ihrer Zunge folgen, Sonne anzapfen und ihren Hüftschwung justieren, kurz, sich auf Nass verlustieren, vulgo: die Eier schaukeln lassen.

Um der Situation gewachsen zu sein, habe ich meinen Kahn mächtig mit marokkanischen Pfefferminzblüten vollgeladen und meine liebliche Begleiterin sitzt im gleichen Boot. Gleißend brennt daher die Abendsonne auf die Kieselsteinplatten, auf denen 50 Paar schwarze Schuhe scharren. Eine Sonnenbrille wäre kommod, wohl aber ein zu deutliches Zeichen gewollt-cooler Distanz. Die PR-Dame kommt auf uns zugewieselt, „ahh, die Hamburger, hier rüber, kommen sie hier rüber, zur Hamburger Gruppe“. Flugs haben wir einen Sekt in der Hand, perlendes Gold, das Fraktale auf das Kleid meiner Muse wirft, und werden zu sechs Stehgeigern bugsiert, die in Plauderhaltung im Kreise stehen. Dieser öffnet sich den Fremdlingen, aber aus dem Auge des Zyklons weht kalter Wind uns entgegen. Man gibt sich vornehm, eine probates Mittel die eigene Unsicherheit zu tarnen. Von Hochlandgemüse innerlich aufgewühlt auf unbekannte Mitbürger zu treffen, birgt immer die Gefahr unfunky drauf zu kommen. Mund und Magen wollen rülpsend tief empfundenen Dünnsinn von sich geben, während der innere, rationale Obermufti und Bedenkenträger Befehle der sozialen Normen brüllt. Rechnen kann man nicht mehr, aber zurechnungsfähig will man sein. Anders ausgedrückt: Kiffen kann unsicher machen. Objektiv betrachtet eine drollige Zwickmühle, in der konkreten Situation ein Abenteuer, was schon für manchen Horrortrip sorgte.

Erfahrung tut hier Not, so weiß ich, dass ich mich zwar wie Fidel Castro fühle, aber nicht so aussehe. Mein Sektglas wirkt dabei wie eine rettende Rehling im Sturm. Smalltalk. Ein Blick in die Runde und plötzlich nimmt eine innere, alte Kraft von mir Besitz. Entgegen aller ungeschriebenen Gesellschaftsverträge spüre ich Begeisterung aufwallen, ein Gefühl von Jugend, eine Erinnerung an sportliche Ekstase, an Männerschweiß, an den von meiner Oma gestrickten Fanschal; dazu jucken ausnahmsweise nur meine Füße. Zusätzlich bin ich erleichtert über den alsbald folgenden, hoffentlich entkrampfenden Integrationsakt in die illustre Runde. Viel zu laut platzt es feucht aus mit heraus: „Das ist doch Manni Kaltz!“ Köpfe drehen sich, Aufmerksamkeit ist gesichert. Ich merke das nicht, überbrücke mit einem Ausfallschritt das Auge des Zyklons und stoße mein Glas an das meines überraschten Gegenübers. Ein klicken, ein sprudeln, ich fahre fort: „Wie geil, Manni Kaltz, ich glaub´ das nicht.“ Der Mann mit dem sauber gekürzten Vokuhila bleibt ruhig, denn „der Manni redet nicht so gerne“, wie ich später erfahre.

Schweigen, leichtes Entsetzen sogar, aber mein Verzücken kommt weiter in Rage. Ich stoße meiner schönen Begleiterin mit dem Ellbogen in die Seite, zeige mit dem Glas auf den Fußball-Heroen und fahre fort: „Ahh, das waren noch Zeiten, sie auf Rechtsaußen, dann Banane, und dann das Fußballungeheuer, hach, so wird heute gar nicht mehr gespielt. Unvergesslich, das 5:1 gegen Real Madrid. Zwei Dinger haben sie da reingesemmelt, oh Mann, wie geil.“ Doch der Flankengott, der 69fache Nationalbuffer, die Legende vom HSV, dieser Manfred Kaltz, brummelt nur einige undeutliche Worte und so langsam komme ich von meiner Wolke runter. Die Menschen um mich sind verstört, peinlich berührt. Sollte man einen dieser Fußball-Proleten im Nest hocken haben?

Ehrliche Begeisterung, so steht nach zehn Minuten fest, ist hier nicht gern gesehen. Und was noch wichtiger ist: Promis – und solche, die es sein wollen – spricht man nicht an. Sie sind froh sich mit Ihresgleichen zu sonnen, im Saft ihrer Erfolge zu schmoren. Wohlgemerkt gilt dies nicht für Manni, der Mann will einfach nur seine Ruhe haben, ihm ist Radau um seine Bananenflanken lästig.

Der Ausbruch war kurze Raserei, ich trete einen Schritt zurück. Die Augen meiner Begleitung liegen verträumt-ironisch auf mir, der Halbkreis aus Frührentner schließt sich wieder und wir stehen außen vor. O.k., das war´s erst einmal. Nebenbei hat der Direktor seine Rede an die golfende Nation begonnen, er preist die knöcherne Eichenkultur der Hotelkette. Die verdiente Vor- und Mitten-im-Kriegsgeneration ist in den Häusern hängen geblieben, dazu passt eigentlich nicht der Porno-Kanal, der auf unserem Zimmer nach jedem dritten Schaltvorgang erscheint. Wahrscheinlich wichst Opi sich den Wicht, während Omi bei der Pediküre weilt.

Wie gerufen wackelt plötzlich Elke S. ins Bild, blonder Star der 70er. Die spielt auch Golf? Nein, sie ist Schmuck, soll der prüden Rasenweihe Glamour und damit Nennung in den bundesweiten Magazinen garantieren. So ergibt sich der Sinn der Geselligkeit: Die Freizeit-Fabrik schiebt sich ins Bewusstsein der Kunden und die Prominenten bleiben im Gespräch, denn davon leben sie. Die anwesenden Journalisten salbadern Gutes über die Melange und übermitteln im Nebensatz die Koordinaten des Geschehens. Die Public-Relation-Dompteure behalten die Käfigtür im Auge. Und der Clou: Alle zusammen verbringen ein weiteres preiswertes Wochenende.

An diesem Kuchen will auch ich nagen, aber mein fußballhistorischer Ausfall hat uns schon nach zehn Minuten zu Parias werden lassen. Egal, gleich gibt es Diner. Der freundliche Direx lädt ein. Die Stimmung ist gut, man kennt sich von vielen anderen Jubelfeiern. Es ist die gemeinsame Leidenschaft aller derer, denen beim Tennis zu viele Rohlinge rumlaufen. „Haben sie noch Sex oder golfen sie schon?“ Wir sitzen am selben Tisch wie Manni, der aber lässt mir, seinem getreuen Fan, keinen Blick zukommen. In mir spielen die beiden Mannschaften von FC Bekifft-Ergötzlich und der Spielvereinigung Peinigend-Stoned einen harten Ball gegeneinander. Noch steht es 1:1, aber Peinigend-Stoned übt enormen Druck auf die Verteidigung von Bekifft-Ergötzlich aus.

Das Essen beruhigt unsere Gemüter, auch meine Begleitung erlangt so langsam ihre Fassung wieder. Meine Tischnachbarin, die Redakteurin einer TV-Zeitschrift, parliert zutraulich, schon fühle ich mich besser. Aber ich bin getäuscht worden, übel sogar. Denn der Mann der Dame, irgendeine Schauspielgröße, dessen Name ich vergaß, fragt sie, was denn das Thema unser noblen Unterredung sei. Nicht wissend, dass ich der Szenerie lausche, winkt sie mit der Gabel ab, zieht die schmalen Brauen hoch und sagt: „Ach nix, völlig uninteressant“. Nun will ich nicht eitel erscheinen, aber das scheint mir doch ein äußerst dünkelhafter und ungebührlicher Reflex auf meine wohl nicht klugen, doch aber warmen Worte zu sein. O.k., das war´s endgültig.

Schade, gerne hätte ich noch weitere Skizzen aus den nun folgenden Tagen gezeichnet. Ich hätte noch berichten können, von nicht geouteten Eiskunstläufern, die beleidigt sind, wenn man sie an den falschen Ecktisch des Festzelts setzt, vom Streit um kühle Austern und von Menschen, die nur (!) über Golf reden können. Aber diese Worte wären dunkel vor Häme, ohne das Licht des freudig-neugierigen Umgangs untereinander. Was also tun? Den Versuch beenden, und vorher noch erwähnen, dass wir lieber am Strand den Wellen folgten, als dort zu sein, wo man sich gegenseitig nur als Spiegel der eigenen Großartigkeit dient.

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Mixed

Öffentlicher Raum und Shopping-Malls

telepolis, 28.11.2003

Auf dem Weg in die privat organisierte Öffentlichkeit?

Shopping-Malls werden zu neuen Mittelpunkten des sozialen Lebens. Über die Auswirkungen auf den öffentlichen Raum wird gestritten.

Klagen über die Entwicklung des für jedermann öffentliches Raumes, vor allem aber Kritik an der Expansion der Shopping-Malls sind unter Stadtplanern, Soziologen und Sozialpolitikern weit verbreitet. Zwei Vorwürfe werden formuliert: Der öffentliche Raum würde zunehmend für kurzzeitige Inszenierungen genutzt. Diese „Events“ wären ein Zeichen einer alles durchdringenden Kommerzialisierung, die nur noch Zeichen statt Inhalte setzt. Damit einhergehend würde der frei zugängliche Raum durch die Expansion der Shopping Malls verkleinert und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Über Beobachtungen des Einzelfalls kamen diese Analysen aber nie hinaus. Eine vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung ( BBR [1]) in Auftrag gegebene Studie suchte nun genauer zu ermitteln, ob und wie der öffentliche Raum Tendenzen der zunehmenden Privatisierung und Kommerzialisierung unterliegt. 

Der Verkauf von öffentlichem Grund an private Unternehmen stellt nach wie vor eine Ausnahme dar. „Privatisierung“ meint vielmehr, dass private Räume wie Malls und Passagen zunehmend Funktionen des öffentlichen Raumes übernehmen. Diese Tendenz ist unter den vom BBR befragten Experten in den Städten und Gemeinden unstrittig. Strittig hingegen sind die Folgen. Während auf der einen Seite behauptet wird, dass privat geplante Räume Qualitätsstandards setzen und Denkanstöße geben können, sieht die andere Seite mehr Nachteile: Das Kernstück des öffentlichen Raumes, seine freie Zugänglichkeit für jeden zu jederzeit, sei in diesen Passagen und Malls nicht gegeben.

Mit 74 innerstädtischen Shopping-Centern ist die Firma ECE [2] Marktführer in Europa. Insgesamt verwaltet die ECE zwei Millionen Quadratmeter Verkaufsfläche. In Wolfsburg beispielsweise bietet die „City-Gallerie“ auf 25.000 qm etwa 90 Läden, die täglich von 80.000, am Wochenende sogar von bis zu 150.000 Menschen frequentiert wird. Rechnet man dies auf die gesamten Liegenschaften von ECE hoch, wandeln täglich Millionen Menschen unter dem Hausrecht der ECE – die meisten Besucher mit dem Gefühl, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.

Beliebtes Beispiel der Kritiker der Durchmengung von öffentlichem und privatem Raum ist das Sony-Center [3] am Potsdamer Platz in Berlin. Das Hausrecht des Centers verbietet das Verteilen von politischen oder Werbematerial. Sogar das Sammeln von Spenden ist karikativen Organisationen nur nach schriftlicher Genehmigung gestattet. Statt einem Markenzeichen für die Stadt sei „eher eine Corporate Identity für die Investoren“ entstanden, wie der Publizist Uwe Rada annimmt [4].

In den Hauptbahnhöfen der großen Städte übernehmen ebenfalls Center-Manager die Regie. Mit durchaus gravierenden Folgen. In Hannover dürfen die Anbieter der Zeitung „Asphalt“, einem Obdachlosenprojekt, ihre Zeitungen nicht mehr im Bahnhof verkaufen. Von den Passanten unbemerkt findet hier nach Aussage von Walter Lampe, Leiter des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Hannover, eine „Selektion der Nutzer zuungunsten der Schwachen“ statt.

Aus den Website Nutzungsbedingungen des SONY-Center:
HYPERTEXT-LINKS ZU UND VON DIESER WEBSITE
Sie sind verpflichtet, die schriftliche Genehmigung des Betreibers dieser Website zu beantragen und einzuholen, bevor Sie ein Link zu ihr herstellen können. Sog. „Deep Linking“ ist streng untersagt. Alle Links zu dieser Website müssen zur Startseite der Website führen, sie müssen verdeutlichen, dass diese Website und der Website-Content von der Website, welchen den Link enthält, getrennt zu betrachten sind, und sie müssen weiterhin verdeutlichen, dass Sony der Eigentümer und/oder Betreiber dieser Website ist.
Auch was die Öffentlichkeit des virtuellen Raums betrifft, ist man beim Sony-Center streng

Die Malls treten in Deutschland und Europa immer offensichtlicher in Konkurrenz zu den in die Jahre gekommenen Fußgängerzonen. Dies wird in Hamburg-Altona exemplarisch deutlich. Während westlich des Bahnhofs die Shopping-Mall Mercado [5] seit Jahren mit Besucherrekorden glänzt, versinkt die Fußgängerzone östlich des Bahnhofs trotz diverser Reanimierungsversuche in der Tristesse. Hier die saubere, kontrollierte Atmosphäre des urbanen Entertainment, dort ein Sammelpunkt für Mitmenschen, die ihr erstes Bier gerne vor 10 Uhr morgens trinken. Die Diskussion ist alt: Von vielen werden Obdachlose und Bettler als mindestens störend, wenn nicht gar bedrohlich empfunden. Andere sind sich dagegen sicher, dass diese Gruppen unabdingbar zum Bild des öffentlichen Raumes gehören, wenn er denn weiter „öffentlich“ genannt werden soll.

In den Carées und Centern herrschen dagegen nahezu paradiesische Zustände. Keine Punks, keine Prospektverteiler, kein Schmutz, kein Regen. Aber eben auch keine politische Meinungsäußerung. So verbot das Management in einem Erfurter Einkaufszentrum Gewerkschaftsmitgliedern das Verteilen von Handzetteln. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit dem Sicherheitspersonal, ein Verfahren ist anhängig.

Aus Sicht des Managements deutscher Center sind, das wurde aus der Studie des BBR deutlich, politische oder persönliche Meinungsäußerungen nur bedingt möglich, um die „reibungslose Abwicklung der Geschäftsprozesse“ zu gewährleisten. Mit Randgruppen gäbe es kein Problem, weil diese sich durch das gehobene Niveau der Center ohnehin abgeschreckt fühlten. Die vom BBR befragten Betreiber von Shopping-Centern sehen ihre Malls ganz selbstverständlich als Teil des öffentlichen Raumes an.

In den USA wollen Bürgerrechtsgruppen und Politiker in einer Reihe Gerichtsverfahren ein Recht auf politische Betätigung in den Shopping-Centern einklagen. Ihr Argument: Die Malls wären Zentren des sozialen Lebens und wichtige Orte, um andere Bürger zu erreichen. In sechs Bundesstaaten folgten die Gerichte bisher dieser Argumentation.

In Deutschland richtet sich die Aufmerksamkeit erst langsam auf das Problemfeld. Die entpolitisierte Gesellschaft will sich nicht so recht an dem Problem reiben, hat der öffentliche Raum seine politische Funktion doch weitgehend verloren. Versammlungen finden heute eher im Zusammenhang mit Beachvolleyball-Turnieren und Konzerten statt. Die politische Meinungsbildung hat sich in die (virtuellen) Medien zurück gezogen, der Wochenmarkt in die geschlossenen Gebäude. Vordergründig hat das öffentliche Leben durch Mega-Malls keinen Schaden genommen. Es gibt genügend Trubel und Entertainment im urbanen Leben, die Städte werden durch Skateboarder genutzt, Innenstädte für Rollerskater-Aufläufe gesperrt. Für Essayisten wie Hanno Rauterberg steht sogar fest, dass „keine Demonstration wegen der neuen Einkaufszentren nicht hätte organisiert werden können“. Dies ist vielleicht wahr, von Demonstrationen in einem der neuen Einkaufszentren ist indes ebenfalls nichts bekannt.

 Markenbashing

Die Kritik reibt sich aber nicht nur an den modernen Konsumstätten, denen Uniformität und Monostruktur vorgeworfen werden, oder an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern sie zielt auf die gänzliche Durchdringung der Gesellschaft mit Werbung und deren Botschaften, an der aus dieser Sicht totalen Ausrichtung der öffentlichen Sphären nach wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Nach der Lektüre von Naomi Kleins No Logo [6] scheint klar, dass auch in Deutschland die großen Marken das Bild der Welt prägen. Tatsächlich ist es heute kaum noch möglich durch die Straßen einer Stadt zu wandeln, ohne den omnipräsenten Werbebotschaften zu begegnen. Das Problem: Für die einen sind das die vielleicht nicht immer adretten, sicher aber notwendigen Partikel der „Marktwirtschaft“, für die anderen ist es die längste Manipulationspraline der „kapitalistischen“ oder „neoliberalen Welt“.

Widerstand regt sich. Bewegungen wie die lose organisierte Gruppe der Adbuster [7] karikierten die Symbole der Marken, andere suchen die Straße zurück zu erobern. Aber Reclaim the Streets [8] schaffte als primär britische Initiative den Sprung über den Kanal kaum [9]. Auf dem Kontinent wurde der Faden zur anarchischen Wiederaneignung öffentlicher Räume am ehesten noch von der Techno-Bewegung aufgenommen, die die industriellen „Nicht-Orte“ (Marc Augé) für ihre Tanzkultur entdeckten.

Soziales Durcheinander anstatt Ausgrenzung

Aber selbst wer sich nicht in die Diskussion um Wirtschaftssysteme verstricken will, dem fällt auf, dass aus dem früher eher als mühsames Tütengeschleppe verachteten Einkaufsvorgang ein weiteres „Event“ geworden ist. Ob das Shopping die „letzte verbliebende Form öffentlicher Betätigung“ sein könnte, wie Rem Koolhaas [10] überspitzt formulierte, sei dahingestellt, fest steht bislang, dass die Verbannung so genannter „Randgruppen“ nach dem Motto „Aus den Augen aus dem Sinn“ vor allem dort praktiziert wird, wo das Einkaufen weniger am Gebrauchswert als vielmehr am Erlebniswert orientiert ist. Diese Ausgrenzung, so stellte nun auch das BBR fest, wird aber nicht nur von privaten Geschäftsleuten betrieben, auch die Kommunen sind darum bemüht, die zentralen (Einkaufs-) Bereiche von Punks, Bettlern und Obdachlosen frei zu halten.

Was soll also, was kann der öffentliche Raum heute leisten? Schon die von Le Corbusier maßgeblich beeinflusste Charta von Athen [11] aus den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts legte die Trennung der verschiedenen Funktionsbereiche Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr fest. Diese Maxime galt lange als weltweites Dogma der Städteplanung. Der öffentliche Raum wurde zum Verkehrsraum degradiert, der primär der Verbindung der verstreuten Funktionsbereiche dient. Glaubt man den Apologeten der Stadterneuerung, leiden die urbanen Räume noch heute darunter.

Boris Podrecca, Professor für Raumgestaltung [12] an der Universität Stuttgart, nimmt an, dass die Gegebenheiten der modernen Gesellschaft mit ihrem Singletum, der steigenden Lebenserwartung, der Anpassung beider Geschlechter an den Arbeitsmarkt und dem inhaltslosen Medienschauspiel das Vagabundieren im städtischen Raum beeinflussen und zur Orientierungslosigkeit beitragen. Doch:

„Wir als Architekten können Gesellschaft kaum ändern, man kann ihr nur gute Passepartouts, in denen sich ihre Schicksalshaftigkeit und Dramaturgie abspielen, bieten. Man kann lediglich Hintergrund- und Rahmenhandlungen gestalten, wenn nötig auch in einer subversiven Einstellung dem Ist-Zustand gegenüber. Dem Architekten muss es genügen, dass Menschen in seinem Stadtraum die Zusammenhänge wahrnehmen und verstehen, auch wenn sie auf Widersprüchen beruhen.“

Einig sind sich die Experten über die Notwendigkeit der Durchmischung der Lebensstile. Je mehr soziales Durcheinander in den Straßen und auf den Plätzen herrscht, umso sicherer fühlten sich die Bürger und umso eher würde Akzeptanz trainiert. Ohne das idealisierte Bild der griechischen Agora herauf zu beschwören, dem Platz, auf dem alle friedlich diskutierten (außer Frauen und Sklaven), muss es ihrer Ansicht nach möglich sein, Räume zu schaffen, wo sich Menschen unterschiedlichster Prägung an einem lokalen Ort aufhalten. Sollten die „Urban Entertainment Center“ und Malls weiterhin und immer deutlicher zu sozialen Lebensmittelpunkten werden, würde allerdings nicht das öffentliche Recht, sondern deren Hausrecht und Hausdesign zu einem Teil der verbindlichen Umgangsnormen der Gesellschaft werden.

Links

[1] http://www.bbr.bund.de/
[2] http://www.ece.de/
[3] http://www.sonycenter.de/
[4] http://www.uwe-rada.de/
[5] http://www.mercado-hh.de/
[6]
[7] http://www.adbusters.org/
[8] http://rts.gn.apc.org/
[9] http://rts.squat.net/
[10] http://www.oma.nl
[11]
[12]

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Gesundheitssystem

Militante Mittel für Medaillenspiegel

telepolis, 11. November 2003

Militante Mittel für Medaillenspiegel

Nun werden die Doping-Fabrikanten kreativ

Im Hochleistungssport und Fitnessbereich ist die Leistungssteigerung durch Drogen weit fortgeschritten, die Optimierung des Körpers wird nachdrücklich zelebriert. Nun schwappen die „Designer-Drogen“ wie THG in die Labors der Doping-Kontrolleure.

Die US-amerikanische Leichtathletik befindet sich im größten Doping-Skandal ihrer Geschichte. Hunderte von Sportlern haben eine Mittel eingesetzt, das auf den Namen Tetrahydrogestrinone, kurz THG, hört. Nun gab es das Doping mit muskelaufbauenden Präparaten schon immer, neu ist, dass THG ganz offensichtlich allein und nur für das gezielte Doping entwickelt wurde.
flasche
Die kalifornischen Firma Balco, die sich auf Nahrungszusatzmittel spezialisiert hat, bastelte in ihren Labors eine Modifikation des Steroidhormons Gestrinon, in das vier Wasserstoff-Atome eingeführt wurden; fertig war das neue Mittel für eine erneute Erweiterung der Höchstleistungs-Grenze. Die Substanz stand bis vor kurzem nicht auf den Doping-Listen, gleichwohl verbieten diese Listen auch „verwandte Stoffe“, und das traf wohl auch auf THG zu. Darüber werden die Juristen streiten, fest steht nur, dass eine Entwicklung sichtbar wird, die man bislang nur aus dem Bereich der Rauschmittel kannte: Um Gesetze zu umgehen werden immer neue Substanzen kreiert. Dabei wird deutlich, dass in einer auf Hochleistung getrimmten Gesellschaft die Grenzen zwischen Nahrung, Medikament und Droge fließend geworden sind.

„Citius, altius, fortius.“ Das olympische Motto ist zum Imperativ für alle Sportler geworden, gerufen von Publikum, Medien und Sponsoren. Der Erfolgsdruck ist hoch, darüber hinaus lässt die moderne Chemie das erwünschte Gleichgewicht von Chancengleichheit und Leistungsmaximierung obsolet werden. Das olympische Komitee spielt eine Doppelrolle in diesem Spiel: Es will einerseits dem öffentlichen Verlangen nach immer krasseren Rekorden nachgeben, andererseits will es einen Sport bieten, der ohne leistungssteigernde Mittel auskommt. In Artikel 2 des Anti-Doping Codes des IOC von 1999 wurde definiert:
„Doping ist die Verwendung von Substanzen aus den verbotenen Wirkstoffgruppen und die Anwendung verbotener Methoden.“
Schön formuliert, aber ab wann wird ein Mittel verboten? Ist das nicht eine Frage der Dosierung? Und ist nicht jeder Sportler erpicht auf eine Ernährung, die seiner Leistung zuträglich ist?

Für die klassischen Dopingmittel wurden diese Fragen schnell beantwortet. Die sogenannten „anabolen Wirkstoffe“ sind nach wie vor der Renner unter den Athleten, führen sie doch zuverlässig zu Muskelwachstum. In der IOC-Statistik der positiven Proben von 1999 dominieren die Anabolika mit 50 Prozent. Marktführer ist hier Nandrolon. Neben den Muskeln wächst leider auch die psychische Wettkampfbereitschaft, und zwar bei regelmäßiger Einnahme soweit, dass die Sportler mit Aggressionen zu kämpfen haben. In den USA sind anabole Steroide trotzdem legal im Handel erhältlich. Fritz Sörgel, Leiter des Institut für Biomedizinische Forschung in Nürnberg-Heroldsberg, weist darauf hin, dass jeder fünfte US-College Student Steroide nimmt.

Zum Ärger der Wettkämpfer sind Anabolika leicht nachweisbar. Erfreut wechselten vor allem die Ausdauersportler daher seit Anfang der 90er Jahre zu EPO, dem Erythropoietin. EPO ist ein körpereigenes Hormon, wird in der Niere gebildet und regt das Knochenmark an, rote Blutkörperchen zu bilden. EPO ist die konsequente Weiterentwicklung des „Blutdoping“, das heißt einer Bluttransfusion mit dem eigenen Blut, mit der sich der finnischen Langstreckler Lasse Viren wohl zu seinen Olympiasiegen von 1972 brachte. Erst bei der Tour de France 1998 wurde der massenhafte Einsatz von EPO nachgewiesen. Damit waren auch die goldenen Zeiten von EPO vorbei, etwas neues musste her.

Das die USA im Fokus der neuesten Doping-Affaire stehen ist kein Zufall: Im Jahr 2000 hatte der ehemalige Olympia-Arzt Wade Exum behauptet, dass es zwischen 1988 und 2000 mehr als hundert positiv getestete US-Athleten gab, die (ungestraft) 19 olympische Medaillen gewonnen hätten. Das Anti-Doping-Programm des Olympischen Komitee der USA sei „weitestgehend PR“, so Exum. Aber schon vorher waren die amerikanischen Athleten und Funktionäre ins Gerede gekommen: Das IOC hatte den US-Verband aufgefordert, die Identität von 13 Muskelprotzen zu lüften, die kurz vor der Olympiade in Sydney (2000) positiv getestet worden waren. Die Amerikaner, größter Geldgeber des Weltsports, weigerten sich, und der Internationale Sportgerichtshof (CAS) segnete dies ab.

Grauzone

Dass die Anti-Doping-Agentur der USA (USADA) den THG-Skandal schnell an die Öffentlichkeit gebracht hat, wird als Zeichen gedeutet, dass es ernst wird mit der Dopingbekämpfung in den USA. Ein weiterhin bestehenden Problem ist allerdings, dass in den USA viele der Aufputsch- und Muskelmittel als Nahrungsergänzung („Supplements“) und nicht als Arznei klassifiziert sind. Eben diesen Umstand nutzt der Supplements-Hersteller Balco aus. Die Firma unterstützt eine ganze Reihe von Athleten, ihr Eigentümer Victor Conte ist Ernährungsberater verschiedener Spitzensportler, wie der Sprinterin Kelli White oder dem jüngst positiv auf THG getesteten Europameister im 100-Meter Lauf, Dwain Chambers. Alle bisherigen Dopingstoffe waren Arzneimittel, die – früher oder aktuell – legitim in der Medizin angewendet wurden. In THG-Fall ist erstmals ein Stoff nur für die missbräuchliche Anwendung entwickelt worden.

Die Unterscheidung zwischen zulässiger Nahrungsergänzung und unzulässigem Doping müssen die Sportverbände nun vermehrt an Grenzwerten festmachen. Keine einfache Aufgabe, wie das Beispiel der „Prohormone“ zeigt.
Pillen
Im Jahr 2000 beschlagnahmte allein der deutsche Zoll 1.126.000 Tabletten mit dem Hauptbestandteil Androstendion, einem hormonellen Wirkstoff, der erst nach der oralen Einnahme zu Testosteron metabolisiert, müde Männer munter und vor allem kräftig macht. Ebenso stärkend wirkt ein anderes Prohormon mit dem Namen Norandrostendion. Dieser kleine Teufel schlüpfte auf wundersame Weise in die Zahnpastatube von Dieter Baumann, dem Olympiasieger über 5000 Meter. Die Prohormone sind verboten, das Problem ist: Die Metaboliten dieser Substanzen kommen auch in natürlicher Form im Körper vor. Während Menstruation und der Schwangerschaft erhöht sich der Spiegel, aber auch bei Männer kann es in Folge von einer angeborenen Enzymumwandlungs-Hemmung zu einer erhöhten Existenz des Hormons kommen.

Noch diffuser wird die Erkennung von „Doping-Sündern“ aufgrund der jüngst festgestellten Kontamination von an sich dopingfreien Kraftfutter. Die Deutsche Sporthochschule in Köln (DHS) kaufte in Wellness-Tempeln, Body-Building-Studios, Fachgeschäften für Sporternährung und dem Internet über 630 Nahrungsergänzungsprodukte und analysierte sie. Das Ergebnis: Knapp 15% der Starkmacher waren mit Anteilen von Prohormen durchsetzt. Unsaubere Bedingungen bei der Herstellung sind die Ursache für das Phänomen, rund die Hälfte aller Fabrikanten von Kraftfutter vertreiben nämlich auch Prohormone.

Noch gar nicht von den Doping-Listen erfasst ist das Kraftmittel Kreatin, der meistverkauften legalen Hilfsquelle für Kraftsportler. Wissenschaftler streiten noch über dessen Wirkung und Nebenwirkung, Body-Builder und Hochleistungsportler sind unbeeindruckt davon begeistert und schwärmen von einem Kraftanstieg von bis zu 20% in nur zwei Monaten. Ähnlich wie in der Szene für bewußtseinsverändernde Substanzen hat sich hier eine meist über das Internet kommunizierende Counter-Culture gebildet, die Erfahrungsberichte austauscht, Vorteile preist und vor Gefahren warnt.

Mittlerweile steht THG zwar auf der Doping-Liste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), es wird aber vermutet, dass zukünftig öfter zu „Designer-Doping“ kommen wird. Klaus Müller Bundesbeauftragter für Dopinganalytik und Leiter des Doping-Analyse-Labors in Kreischa befürchtet, das THG nur die Spitze des Eisbergs ist.

Im aktuellen Katalog der von der WADA gebannten Substanzen gibt es aber noch eine andere interessante Änderung: Koffein wurde vorläufig von der Liste gestrichen. Einen der Hauptsponsoren der Olympischen Spiele, die Coca-Cola Company, dürfte es freuen, denn bislang durften die Sportler nicht mit mehr als 12 Mikrogramm Koffein pro Milliliter Urin an den Start gehen.

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Mixed

Das Wunder von Lengede

Berliner Zeitung v. 8. November 2003

Geschichtsträchtiges Klaustrophobie-Drama

Vor 40 Jahren ereignete sich „Das Wunder von Lengede“. SAT 1 erinnert mit einem technisch aufwendigen Zweiteiler an das Bergwerkunglück, bei dem elf Kumpel nach zwei Wochen doch noch gerettet wurden.

Ein schmuckes Messingschild musste sein, schließlich ist man stolz auf das Geschaffene. „Water Studios“ ist eingraviert, es hängt an einer schmuddeligen Halle im niedersächsischen Goslar. Nicht weit von hier kam es in den feucht-nebligen Wochen des November 1963 zu einer Rettungsaktion, welche später als das „Wunder von Lengede“ in die deutsche Geschichte einging: Durch einen neu gebohrten Schacht wurden elf Arbeiter aus der Erzgrube „Mathilde“ gerettet, nachdem sie fast zwei Wochen vom Wasser eingesperrt in völliger Dunkelheit ausgeharrt hatten. Mit einem Zweiteiler will SAT 1 am 9. und 10. November zur Prime Time an das Bergwerkunglück erinnern – und zugleich an den Erfolg des ähnlich gestrickten Klaustrophobie-Dramas „Der Tunnel“ anknüpfen.
Stollen
Für die Dreharbeiten musste nicht nur die beklemmende Situation in 60 Meter Tiefe, sondern auch die einstürzenden Wassermassen simuliert werden – ein Leckerbissen für Filmarchitekten. So auch für eine der Größen der Branche, Götz Weidner („Das Boot“). Das Team um den Münchener Filmarchitekten und der Produktions-Firma „Zeitsprung“ schuf in dreimonatiger Arbeit für rund eine Million Euro in der Haupthalle der ehemaligen Erzwäscherei Goslar ein Studio mit deutschlandweit einmaligen Möglichkeiten. Das Set-Design ist so ausgefeilt, dass die Film-Branche bereits Interesse an einem Erhalt angemeldet hat, stehen hier doch gut erprobte Fazilitäten zur Verfügung, um Über- und Unterwasseraufnahmen im Studio abzudrehen. So entstand auf der unteren Ebene der Halle ein Becken, aus dem 280.000 Liter Wasser innerhalb von einer halben Stunde in den zweiten Stock des Gebäudes hochgepumpt werden können. Hier formten die Designer den stillgelegten Stollen nach, in welchen sich die Kumpel 1963 vor Wassermassen und einstürzenden Wänden in trügerische Sicherheit gebracht hatten. In dem bergmännisch so genannten „Alten Mann“ steht den Schauspielern wie Heino Ferch, Axel Prahl, Jürgen Schornagel und Jan Josef Liefers das Wasser bis zum Hals. Ihnen steht die diffizile Aufgabe zu, den halluzinativen Irrsinn eines Gruben-Gefängnis zu mimen – mit milder Strenge geführt von Regisseur Kaspar Heidelbach, der nie „Action“, sondern immer „Bitte“ ruft.
Stollen
Dieser erlebte das Unglück – wie viele andere auch – als eine der ersten Live-Übertragungen der deutschen Fernseh-Geschichte mit. Der NDR dirigierte damals nicht nur 460 Radio- und TV-Mitarbeiter auf den Rübenacker über der Grube, er stellte sogar die Mikrofone, die in das Bohrloch geführt wurde, um den Kontakt mit den Eingeschlossenen zu ermöglichen. Es entstand die moderne Krisen- und Katastrophenberichterstattung. Heidelbach saß währenddessen bei „Sinalco und Salzstangen in der Kneipe, in die mein Vater mich mitgenommen hatte“. Regisseur wie Schauspieler sind begeistert von dem detailgetreuen Nachbau des Bergwerks in der Hallen. Von der zweiten Etage aus können die Wassermassen durch zwei dicke Fallrohre innerhalb von nur 60 Sekunden in die darunter liegende Halle strömen, um hier mit enormen Schub ein weiteres nachgeformtes Stollensystem zu fluten. Um die Sicherheit des Teams zu gewährleisten wurde der 100 Meter umfassende, aus Metall geschweißte Unter-Tage-Irrgarten zunächst von der Münchener Firma Magic FX als Holz-Modell gebaut und einer Strömungsanalyse unterzogen. Gleichwohl rissen die ungestümen Fluten gleich bei der Premiere im Studio einen der handgeschälten Kiefern-Stützen im Stollen mit. Schotten wurden eingebaut, um die Gewalt des Wassers zu bändigen. Heidelbach selbst steig in die Fluten, zum einen aus Interesse an der Kraft des Mediums, zum anderen „um den Schauspielern von vornherein das Argument zu nehmen, dass die Szene zu gefährlich sei“, wie er lächelnd sagt. Im Film spült das Wasser nun effektvoll einen Bergmann aus dem Bild – ohne ihn wirklich zu gefährden.
Drehpause
Die „Schullandheimatmosphäre“ (Heidelbach) am Set wurde durch die ausgefeilte Technik und die verschworene Männergemeinschaft der Schauspieler verstärkt. Einmal aber, da wurde es still bei den Dreharbeiten zu dem Eventfilm. Da betraten die realen Überlebenden des Unglücks zusammen mit ihren Ehefrauen das Gebäude. Schweigend sahen sie die Simulation ihrer Tragödie. Manche wollten den Ort, an dem ihre Kollegen und Freunde gestorben waren nicht näher betrachten, andere weinten. Kein Wunder, das Trauma ist verständlich: Während über Tage die Rettungsarbeiten bereits abgeschlossen und der Trauergottesdienst abgehalten war, tranken die Männer im „Alten Mann“ das faule Wasser aus den Pfützen. Mergelplatten stürzen immer wieder in den alten Stollen. Neben ihnen erkalteten die erschlagenen Kollegen, Bernhard Wolter, gespielt von Heino Ferch, schläft aufgrund der Enge sogar auf den Toten. Wahn griff um sich. Einige Ehefrauen wollen nicht an den Tod der Männer glauben und veranlassten eine letzte Bohrung. Diese trifft tatsächlich auf die Gefangenen. Zunächst wird Karottenbrei herab gelassen, später können die Überlebenden durch ein dünnes Bohrloch gerettet werden. Wolter erblickt als erster der Männer wieder das Licht der Welt. Zum 40. Jahrestag des Wunders hofft SAT 1 auf hohe Quoten und Anerkennung. Den Sendetermin hat man so nah wie möglich an den Tag Tag der Bergung (7. November) gelegt. Trotz der Rettung blieben die Fahnen in Lengede damals auf Halbmast, denn 29 Bergleute kehrten nicht aus der Grube zurück.

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Jörg Auf dem Hövel will so etwas sein wie der Peter Lustig der Künstlichen Intelligenz, kurz KI. Jemand, der sich ein bischen dumm stellt, um damit dem Geist der Maschinen auf die Spur zu kommen, jemand, der nicht am Schreibtisch vor sich hinwerkelt, sondern die Wohnwagentür auf und sich auf den Weg macht, um mehr zu entdecken. Seine Entdeckungsreise bringt ihn zu einem Stammtisch des Mensa-Intelligenzadels, zum Erfinder des Schachprogramms Fritz, in eine schalldichte, dunkle Wanne voller Salzwasser, die Kenner auch Isolationstank nennen, zu Schweizer KI-Forschern, in Kontakt mit Legos Mindstorms-Robotern und ins Gespräch mit Joseph Weizenbaum, dem er ein paar Überlegungen zu Star Trek entlockt. Manchmal wünscht man sich fast, Auf dem Hövel wär ein bischen strukturierter an die Sache herangegangen und hätte ein bischen weniger frei in der Gegend herumassoziert. Dann aber zitiert er Bügeleisen-Gebrauchsanleitungen („Die Kleidung nicht während des Tragens bügeln“), um unser Bild humaner Intelligenz mal wieder auf den Teppich zu bringen und es wird klar: Dies ist zwar kein Kompendium, aber dafür eben ein netter, interessanter Streifzug durch die Welt der KI.

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Janko Röttgers

+ = NEIN / + + + + + = JA

De-Bug Nr.76, November 2003

Kategorien
Cannabis Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit dem Suchttherapeuten Helmut Kuntz

hanfblatt, Nov. 2003

Dem Kiffer (mit Problemen) kann geholfen werden

Fragen an den Suchttherapeuten Helmut Kuntz

Legalisierungsbefürworter fordern frei nach dem Motto „Kein Knast für Hanf“ eine Beendigung der Strafverfolgung von Cannabisgebrauchern. Über Cannabisfreunden schwebt nämlich immer noch das Damoklesschwert der staatlichen Bestrafung und der sozialen Ausgrenzung durch beispielsweise Arbeitsplatz- oder Führerscheinverlust. In vielen Berufen und gesellschaftlichen Kreisen kann ein Outing als Cannabiskonsument unangenehme Folgen haben. Die Gefahr der Diskriminierung trägt sicherlich nicht zu einer freien und offenen Auseinandersetzung als Grundlage einer Prävention und Behandlung selbstschädigenden Konsumverhaltens bei. Denn, dass es auch eine Minderheit von Konsumenten gibt, die Cannabis nehmen, obwohl es ihnen offensichtlich nicht gut tut, oder so, dass es sie in unerwünschter Weise in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränkt, die also einen problematischen Konsum betreiben, dafür sprechen Umfrageergebnisse und die Berichte von Therapeuten, an die sich Kiffer mit Problemen wenden. Einer dieser Helfer in der Not ist der Familientherapeut Helmut Kuntz. Er hat seine Erfahrungen in dem interessanten Ratgeber „Cannabis ist immer anders“ (siehe unten) zusammengefasst.

az: Mag für die große Mehrheit der Gebraucher der Cannabiskonsum eine Bereicherung in ihrem Leben darstellen, so gibt es doch auch vereinzelt Konsumenten, bei denen sich alles nur ums Kiffen dreht, und die darüber das, was eigentlich in ihrer aktuellen Lebenssituation notwendigerweise zu tun wäre, nicht auf die Reihe kriegen. Wann beginnt Ihrer Einschätzung nach der Konsum von Cannabis problematisch zu werden, und wie äußert sich das?

Kuntz: Es ist vielleicht „hanfpolitisch“ wenig genehm und kratzt am Mythos von Cannabis als relativ harmloser Droge, doch ich kann auf Grund meiner Erfahrungen leider nicht mehr bestätigen, dass es nur vereinzelte Konsumenten sind, welche durch ihren Cannabiskonsum in Schwierigkeiten geraten. Teilweise bestehen die Schwierigkeiten in ihrem Leben schon vor dem Konsum, und der Gebrauch speziell von Cannabis findet in der trügerischen Hoffnung auf Erleichterung statt. Grundsätzlich ist der Konsum von Cannabis problematisch, wenn er zur Besänftigung bedrückender Gefühle dienen soll. Kritisch ist in jedem Falle der gewohnheitsmäßige, tägliche oder mehrfach tägliche Einsatz der Droge zu werten. Auch der „nicht bestimmungsgemäße“ Gebrauch von „Gras“ oder „Shit“ in der Schule oder am Arbeitsplatz spricht nicht für kompetente Konsumenten. Der chronische Gebrauch von Cannabis birgt in hohem Maße die Gefahr, die tragenden sozialen Beziehungen zu belasten oder sogar zu zerstören. Entwertende Äußerungen wie „Das ist mir doch egal“ oder „Du hast mir gar nichts zu sagen“ können verräterische Alarmzeichen sein. Das Risiko steigt mit den „harten“ Gebrauchsmustern wie „Bhong-“ oder „Eimer-Rauchen“. Es steht außer Frage, dass sie ein weitaus höheres Abhängigkeitspotential bergen, als das Genießen von Joints. Absolut „verpeilte“ Konsumenten mit solchen Gebrauchsmustern, z.T. sogar mit psychiatrischen Auffälligkeiten in Form psychotisch anmutender Symptome sind keine Seltenheit im Beratungsbereich. Das größte Risiko der Konsumenten ist aber weniger die Droge an sich, sondern die eigene Überheblichkeit im Umgang mit ihr, die Illusion, jederzeit alles im Griff zu haben und jede persönliche Gefährdung zu verleugnen.

az: Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für die Entwicklung selbstschädigender Konsummuster?

Kuntz: Selbstschädigende Konsummuster entwickeln sich auf Grund schädigender sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen. Die Konsumgesellschaft, die nach dem Motto „Immer mehr, immer weiter, immer schneller, immer höher“ lebt, ist bereits in ihrem Wesen eine süchtig kranke Gesellschaft. Wo sie als gnadenlose Ellenbogengesellschaft Menschen zunehmend ausgrenzt, ohne Schulabschluss, Lehrstelle, Arbeitsplatz oder Wohnung zurücklässt, nimmt sie den Menschen vielfach ihren Selbstwert. Fehlendes Selbstwertgefühl ist der ideale Nährboden für Suchtmittelmissbrauch. Wie soll jemand gut und fürsorglich mit sich umgehen, der kaum die Erfahrung gemacht hat, respektvoll behandelt zu werden?

az: Wer ist besonders gefährdet, in destruktiver Weise zu konsumieren? In welchen Lebensabschnitten besteht eine besondere Gefahr der Entwicklung problematischen Konsumverhaltens?

Kuntz: Ganz normale Suchtkranke kommen aus ganz normalen Familien. Wer den Platz im Leben nicht findet, wo er sich aufgehoben fühlt und wo er etwas Sinnvolles bewirken kann, entwickelt eher destruktive Verhaltensweisen als jemand, der sich in seiner Haut wohlfühlt. Aber selbstverständlich ist der steinige mühevolle Weg der Pubertät und des Erwachsenwerdens eine besonders anfällige Zeit für Drogengebrauch. Da stellen sich eine Lebensaufgabe und ein Reifungsschritt nach dem anderen: Schulabschluss, Berufsorientierung, Ablösung vom Elternhaus, den Platz in der Gruppe finden, Umgang mit Liebesbeziehungen und Trennungen usw.. Menschen können daran reifen und im besten Sinne „erwachsen“ werden oder scheitern. In diesem Zusammenhang gesehen, muss uns die Tendenz sorgen, dass Jugendliche heute immer früher den Einstieg in den Suchtmittelgebrauch riskieren. Weder körperlich noch seelisch sind 11-, 12-, 13- oder 14-jährige Jungen und Mädchen darauf eingestellt, in diesem frühen Alter mit den Wirkungen potenter eigenmächtiger Rauschmittel zu tun zu bekommen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob das Zigaretten, Alkohol oder andere psychoaktive Drogen sind.

az: Was können Kiffer selbst tun, wenn sie mit ihrem Konsumverhalten unglücklich sind und dies verändern wollen? Wohin können sie sich wenden, falls sie das Gefühl haben, Hilfe zu brauchen, und wie wird dann geholfen?

Kuntz: Die Frage enthält bereits den entscheidenden Punkt. Nur derjenige kann und wird etwas verändern, der dies auch will, und zwar ernsthaft und nicht nur halbherzig. Innerlich motivierte Kiffer haben gute Chancen auf positive Veränderungen, selbst wenn sie ganz tief im Schlamassel stecken. Sie können sich an jede örtliche Sucht- und Drogenberatungsstelle wenden, wenn sie erst die Hemmschwelle überwunden haben. Berater haben Schweigepflicht. Niemand muss also befürchten, sich in zusätzliche Schwierigkeiten zu bringen, wenn er Hilfe sucht. Wie die Hilfe aussehen kann, wird im Einzelfall zusammen entschieden. Da es allerdings eine Arbeit zwischen Menschen aus Fleisch und Blut ist, muss die „Beziehungschemie“ stimmen. Wer sich als Hilfesuchender bei einem Berater menschlich oder fachlich nicht gut aufgehoben fühlt, sollte weiter suchen.

az: Wie können Freunde und Angehörige jemandem helfen, der anscheinend über das Kiffen Beziehungen, Schule oder Beruf vernachlässigt?

Kuntz: In ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung beeinträchtigte Kiffer unterschätzen häufig, was ihre Kifferei mit Freunden oder Angehörigen macht. Für Hilfsmöglichkeiten gibt es keine Patentantwort. Angehörige wie Freunde können allerdings nur dann helfen, wenn sie selbst mit ihren heftig widerstreitenden Gefühlen dem Kiffer gegenüber umzugehen wissen. Um die typischen Beziehungsfallen und Fehler im Verhalten zu vermeiden, müssen Angehörige zudem wisssen, was das Wesen der süchtigen Dynamik ausmacht. Wichtig ist klares konsequentes Verhalten. Unter Umständen müssen sich Angehörige darauf einstellen, Kiffer monate- oder sogar jahrelang durch viele Schwierigkeiten hindurch zu begleiten. Das ist ein überaus belastendes „Geduldsspiel“. Wo die Kifferei ein Ausmaß annimmt, dass sie in Diebstahl und tätliche Gewalt ausartet, können Angehörige die Grenze ziehen und dem Kiffer die Tür weisen, durch die er dann zu gehen hat. Andere entscheiden sich, ihr Kind niemals fallen zu lassen und unter allen Umständen die Beziehung zu halten. Für Eltern sind in solch schwierigen Situationen die Elterngruppen in Beratungsstellen sehr hilfreich zur eigenen Unterstützung. Freunde können einem Kiffer eigentlich nur sein Verhalten und seine Persönlichkeitsveränderung spiegeln. Aber weder Freunde noch Angehörige können jemandem helfen, der sich nicht helfen lassen möchte. Irgendwann muss man ihm dann die alleinige Verantwortung für sein Tun überlassen.

az: Es ist zu vermuten, dass auch im Falle einer Entkriminalisierung von Cannabisgebrauchern ein kleiner Teil der Konsumenten zumindest phasenweise in für sie problematischer Weise kiffen würde. Es wäre aber vermutlich ein weniger angstbesetzter, ideologisch verbrämter und damit offenerer Umgang möglich. Deshalb meine Frage: Beeinträchtigt die aktuelle Kriminalisierung der Cannabisgebraucher nicht die Möglichkeiten therapeutischer Hilfe und ehrlicher präventiver Aufklärungsarbeit?

Kuntz: In meiner persönlichen präventiven, beratenden oder therapeutsichen Arbeit fühle ich mich durch die Kriminalisierung der Cannabisgebraucher nicht wirklich beeinträchtigt. Ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen und kann offen über alle Aspekte des Cannabsikonsums sprechen. Als Berater habe ich einerseits Schweigepflicht und andererseits bin ich in keinem Zusammenhang zu Aussagen über Klienten gegenüber Dritten verpflichtet. Beratungsstellen sind insofern ein geschützter Raum.

az: Und zum Schluß dann noch die Gretchenfrage: Sie haben beruflich wohl in erster Linie mit Problemkiffern zu tun. Ihrem Buch kann man aber auch entnehmen, dass sie das weite Feld der integrierten Konsumenten kennen und durchaus respektieren. Obendrein verfügen Sie über eigene Konsumerfahrungen. Wie stehen Sie zur Frage einer Entkriminalisierung? Was muss gewährleistet sein oder noch erreicht werden, um eventuelle negative Konsequenzen des Cannabiskonsums möglichst gering zu halten?

Kuntz: Die Kriminalisierung von Cannabiskonsumenten nutzt in der Tat niemandem. Jeder Kiffer muss ein Eigeninteresse haben, das „11. Gebot“ zu beachten: „Du sollst dich nicht erwischen lassen.“ Erstaunlicherweise gibt es bei den Konsumenten noch verbreitete Missverständnisse in Bezug auf Tolerierung und Legalisierung des Cannabiskonsums. Eine Tolerierung haben wir in Grenzen erreicht. Für eine völlige Legalisierung wird es keine politische Mehrheit geben. Vor allem wird Legalisierung niemals bedeuten, Cannabis ebenso frei zu verkaufen, wie derzeit Zigaretten und Alkohol. Wir haben mit diesen beiden Suchtmitteln bereits Probleme genug. Angestrebt werden können pragmatischere Lösungen im Umgang mit Cannabis, wobei die Diskussion um mögliche „Coffeeshop“-Modelle mehr ideologisch als alltagstauglich geführt wird. Bei der praktischen Umsetzung solcher Denkmodelle stecken die Probleme im Detail: Wo soll Cannabis verkauft werden? Welche Qualifikation muss ein Verkäufer aufweisen? Wer darf ab welchem Alter wieviel erwerben? Selbst ein „Coffeshop“ kann wohl kaum an 11-, 12- oder 13-jährige Kiffer offiziell Cannabis verkaufen. Wo wenden die sich dann hin? Für den problematischen Umgang unserer gesamten Gesellschaft mit Suchtmitteln aller Art gibt es keine wirkliche Lösung. Es sei denn, wir könnten so zufrieden oder gar glücklich leben, dass wir es nicht nötig hätten, unser Leben durch die Wirkungen von Rauschmitteln zu „bereichern“. Aber dann hätten wir eine andere Gesellschaft.

Lesetip:

Helmut Kuntz
„Cannabis ist immer anders.
Haschisch und Marihuana: Konsum-Wirkung-Abhängigkeit.
Ein Ratgeber.“
Beltz Taschenbuch, Weinheim/Basel 2002
278 Seiten
ISBN 3-407-22832-5
14.90 Euro

Helmut Kuntz
„Ecstasy-auf der Suche nach dem verlorenen Glück.
Vorbeugung und Wege aus Sucht und Abhängigkeit.“
Beltz Taschenbuch, Weinheim/Basel, 2. erweiterte Neuausgabe 2001 (1. Aufl. 1998)
245 Seiten
ISBN 3-407-22830-9
10,90 Euro

Kategorien
Cannabis Drogenpolitik

Legal – aber wie?

HanfBlatt Nr.80, Nov./Dez. 2003

Klar, legal! Aber wie?

Wie würde die Cannabis-Szene die Praxis der Legalisierung von Cannabis gestalten?

Zunächst einmal: „Legalisierung“ ist ein typisches Schlagwort, geeignet Verwirrung zu stiften. Letzlich geht es darum, welche Regulierungen für den Erwerb und Konsum einer Droge, in diesem Fall Cannabis, bestehen. Denkt man sich die Drogenpolitik als ein Spektrum, dann hockt am einen Ende die strikte, immer strafbewehrte Prohibition, am anderen Ende der gänzlich freie Markt. Wie könnte eine Legalisierung des Hanfs praktisch aussehen? Welche Modelle schlummern hierzu in den Schubladen der Ämter, welche Theorien haben die Wissenschaftler? Wichtiger aber noch ist, wie die Cannabis-Szene die Freigabe der pflanzlichen Produkte umsetzen würde. Was sagt der Otto-Normal-Kiffer, was der Dealer, was die Homegrowerin, was der Head-Shop-Besitzer? Ein Lauschangriff ins Herz einer bekifften Republik.

Hört man sich nun in der Szene um, so existieren recht moderate Töne ob der Realisierung der Legalisierung. Nur schrittweise, so meist die Annahme, sei zu erreichen, dass Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz genommen wird. Zunächst sei daher in einem ersten Schritt der Konsums und der Besitz kleiner Mengen für den eigenen Bedarf zu entkriminalisieren. Aber was faällt noch unter Eigenbedarf? Michael, 19-jähriger Gelegenheitskiffer aus Bochum, meint: „Egal, wie man sich hier genau entscheidet, dem Richter eine Wochenration von 500 Gramm verklickern zu wollen, das dürfte schwierig werden.“

An dieser Stelle stellt sich eine Anschlussfrage, auf welche selbst unsere vielzitierten holländischen Nachbarn keine Antwort gefunden haben: Wo kommt das Zeug her? Die niederländische Hanfpolitik regelt zwar den Verkauf im Laden – hier kann jede Volljährige ihr fünf Gramm Beutelchen Marrok erstehen – was aber am Lieferanteneingang abgeht, das will keiner so recht wissen. Cannabis-Händler und Produzenten werden nach wie vor von der Polizei verfolgt. So eine Rechtspolitik nennt man „inkonsistent“ und eine solche ist im braven Deutschland nicht zu machen. Sebastian, 30, Miteigentümer eines Grow-Shops in Hamburg, sagt deshalb: „Der Markt in Holland ist kein peaciges Zuckerschlecken. Es gibt Revierkämpfe, Repressionen und Menschenopfer im Zusammenhang mit dem Handel mit Cannabis. Es muss in Deutschland also darum gehen, den gesamten Schwarzmarkt aufzulösen.“

Konservative Puritaner schlagen noch immer die Hände über dem Kopf zusammen, klügere Menschen ahnen es dagegen schon lange: „Ohne die Legalisierung des Anbaus, des Handels und des Konsums von Cannabis innerhalb bestimmter staatlich kontrollierter Rahmenbedingungen ist ein drogenpolitischer Neubeginn nicht möglich.” So schreibt der Drogenexperte Günther Amendt, 63, in seinem Buch “Die Droge, Der Staat, Der Tod”.

Wenn überhaupt, dann scheint für die verantwortlichen Schlaumeier in Berlin nur eine kontrollierte Marktregulierung denkbar, die zwei Bereiche berücksichtig: Gesundheits- und Jugendschutz. In einem zweiten Schritt könnte daher Cannabis ins Lebensmittelrecht eingeordnet werden. Dieses Recht stellt Cannabis dem Alkohol und dem Tabak gleich, was freilich auch beinhaltet, die Pflanze legal herzustellen und damit zu handeln. Dabei gilt es zunächst zwei Fallstricke zu umgehen.

Es ist zum einen unredlich zu behaupten, dass der Haschisch- und Marihuana-Konsum bei einer Freigabe nicht ansteigen würde. Dies kann keiner so genau wissen. Die Erfahrungen in Holland aber haben gezeigt, dass der Konsum trotz freier Verfügbarkeit nicht angestiegen ist. Autoren wie Amendt gehen davon aus, dass bei einer Freigabe der Gebrauch zunächst ansteigen, später aber wieder abflachen wird, wenn das „verdeckte Nachfragepotential erst einmal abgeschöpft ist“. Gewarnt werden muss auch vor der falschen Hoffnung, die Legalisierung könne den Missbrauch von Hanf vollständig verhindern. Immer wird ein bestimmter Anteil von Menschen den Cannabiskonsum in falsche Bahnen lenken. Vor diesem Hintergrund lassen sich ehrliche Überlegungen über die Praxis der Legalisierung anstellen.

Aus Sicht vieler Kiffer und anderer Experten ist der dritte Schritt den Anbau für den Eigenbedarf zu ermöglichen, wobei sich wieder die Frage der Grenzziehung stellt. Veteranen wie Hans-Georg Behr, Jahrgang 1937, schlagen ein auf fünf Jahre begrenztes Gesetz vor, welches den Anbau von bis zu 50 Hanfpflanzen erlaubt. Bei mehr als 50 Pflanzen wären 7,50 Euro pro Pflanze steuerlich abzuführen. „50 Pflanzen? Damit würde ich schon zufrieden sein“, sagt Lars, Home-Grower in Hannover.

Ein Teil von Wissenschaftler, aber auch der praxisorientierten Kiffer- und Grower-Szene setzt auf das staatliche Monopol für den Hanfvertriebe. Dies verwundert schon, ist es doch dieser Staat, der die Konsumenten nach wie vor mit Strafen belegt. Der Vorteil liegt auf der Hand: Eine nationale, noch zu gründende Institution könnte die Einfuhr von Gras und Hasch überwachen. Unter Umständen könnte so bereits eine Kontrolle des Anbaus (auch unter ökologischen Gesichtspunkten) in den Rohstoffländern gewährleistet werden. In den Händen dieser Behörde würde auch die Vergabe von Lizenzen zur pharmazeutischen Herstellung von Endprodukten liegen.

Damit ist man beim einem weiteren Vorteil staatlicher Aufsicht: Der Qualitätskontrolle. Schon heute gehört Duft- und Kristallspray zum Inventar einiger skrupeloser Homegrower in Deutschland. Eine Tendenz, die sich bei einer Freigabe des Anbaus wohl noch verstärken würde. Nebenbei bemerkt kann auch hier Holland kaum Vorbild für Deutschland sein. Sebastian vom Grow-Shop: „Die Anbaumethoden werden dort keineswegs vernünftig kontrolliert, die eingesetzten Mittel sind zudem oft gesundheitsschädlich.“ Zunächst einmal muss allen Beteiligten deutlich werden, dass hier keine Rosen, sondern eben ein Lebensmittel gezüchtet wird. Die letzten Lebensmittel-Skandale zeigen die Anfälligkeit der Branche für den unsachgemäßen Einsatz von Chemikalien. Worüber man sich dann aber im klaren sein muss: Ein starkes Kontrollnetz kann nur funktionieren, wenn dahinter ein fetter Behördenapparat agiert.

Ob das wiederum sinnig ist wird von einer anderen Fraktion der Kiffer-Szene angezweifelt. Mehr Staat, so diese Ansicht, dass bedeutet auch mehr Steuern und – fast noch schlimmer – die Gefahr, dass der Staat seiner ewig gärenden Kontrollsucht erliegt. Eine Minimalforderung ist daher – und da sind sich wiederum alle einig – das die Gelder aus Cannabis-Steuern zweckgebunden eingesetzt werden. Alle Einnahmen aus der THC-Besteuerung müssten dann der Rauschkunde-Information und Drogenhilfe zufließen.

Bei aller Vorfreude darf man ruhig über die Nachteile des legalen Hanfs mutmaßen. Es ist nämlich zu befürchten, dass die Tabakkonzerne hier den großen Euro wittern und den Markt mit billigen, qualitativ minderwertigen Joints überschwemmen werden. Wissenschaftler wie Jonathan Ott, Verfasser von „Pharmacotheon“, befürchten bei der Legalisierung von Cannabis eine ähnliche Entwicklung wie beim Tabak: „Legalisiert man Cannabis, würden die großen Tabak-Konzerne den Markt beherrschen. In alten Zeiten war Tabak eine sehr potente, visionäre Droge, später wurde es zu einem Laster: Gerade gut genug um Menschen zu verletzten, aber nicht high zu machen.“

Für Aktivisten und Politiker muss es also darum gehen, dass sich eher eine ausgeprägte Genusskultur wie beim Wein entwickelt, die ihr Heil abseits von industrieller Massenfertigung sucht. Auf der anderen Seite muss sich für die Produzenten die Herstellung von Feinheiten für gehobene Ansprüche lohnen. Ohne hier den Alkohol in die Ecke der dumpfen Bedröhnung stellen zu wollen, ist der Cannabisrausch gleichwohl subtiler und enorm von der Qualität des Produkts abhängig. Es wird immer eine Schar liebevoller Heger und Pfleger geben, die ihren Pflanzen Liebe und Respekt zollen, zugleich werden minderwertige Massenprodukte existierten, die auch aus ökologischen Gründen kräftig anzuprangern sind. Wer preiswerte Ware haben will, der wird auch in Zukunft bei Lidl einkaufen, wer Wert auf Güte legt, der wird in den Fachhandel wandern.

Dies schlägt den Bogen zu dem bewussten Umgang mit diesen Produkten. Wer sich über Sorte, Anbaugebiet, Lage, Erntetechniken, Weiterverarbeitung und Lagerung informiert, der hat schon einen enorm wichtigen Schritt beim Umgang mit einer Droge vollzogen. Man pfeift sich eben nicht irgendeinen Scheiß rein, nur weil es knallt, sondern sucht geflissentlich den gepflegten, kultivierten Rausch. Dies ist letztlich die beste Voraussetzung der vielbeschworenen „Prävention“, die man sich vorstellen kann. Wenn dann noch der Genuss in sozial gefestigten Mustern, eben mit Freunden zusammen, praktiziert wird, dann wird die Chance auf Drogenmissbrauch erheblich minimiert.

Zu einer vernünftigen Aufklärung gehört unbedingt auch der Beipackzettel, der über die Anwendung, Wirkungsdauer, Nebenwirkungen und Kontraindikationen aufklärt. Hier könnte mit wenig Aufwand viel Wirkung erzielt werden.

Zugleich müsste Aufklärung in mehreren Bereichen etabliert werden. In den Familien, den Kindergärten, den Schulen, in der Öffentlichkeit überhaupt muss Cannabis den Menschen wieder näher gebracht werden. Sebastian von Grow-Shop hat die Erfahrung gemacht, dass dies gut über den Anbau funktionieren kann. „Die Eltern begrüßen es eher, wenn der Sohn oder die Tochter mit einer lebenden Pflanze rumhantiert. Da kommt Verständnis auf.“ Denn zum einen, so Sebastian, sind die Kinder aktiv, zum anderen hätten die Eltern das Gefühl größerer Kontrollmöglichkeiten, weil das Kraut in Reichweite wächst. Das sei ihnen lieber, als wenn die Kinder das aus dem Coffee-Shop holen, wo keiner genau weiß, was da drin ist.

Um keine neue Doppelmoral zu etablieren, muss das Informationsmanagement über den Rauschhanf an einer weiteren, entscheidenden Stelle reformiert werden: Es geht einfach nicht an, dass sogenannte Erzieher, Dozenten und Professoren sich als Lehrmeister über Substanzen aufschwingen, die sie nie in ihrem Leben probiert haben. Um jungen Menschen einen sinnstiftenden Gebrauch zu vermitteln, muss der „Lehrer“ einen profunder Erfahrungsschatz mitbringen. Stichwort: Glaubwürdigkeit. Oder bringt man jemanden das Fahrrad fahren durch physikalische Formeln zur Beschreibung der Zentrifugal- und Pedalkraft bei?

Wann darf denn nun eine Heranwachsende mit dem Bong anfangen? Hört man sich in dieser Frage um, so herrscht mittlerweile selbst bei den Hardcore-Befürwortern des Hanfs die Einsicht vor, dass ein zu früher und vor allem zu exzessiver Konsum die persönliche Entwicklung stoppen kann. Kurz gesagt, es traut sich kaum jemand, die Abgabe von Cannabis an unter 16-jährige zu fordern. Der Jugendschutz müsste –so die weiter Meinung- von einem Werbeverbot für Cannabis und dessen Produkte begleitet sein.

Bleibt als letzter strittiger Punkt die Diskussion um die Abgabeorte für das göttliche Ambrosia. Im legendären Apotheken-Modell, das die Gesundheitsministerin von Schleswig-Holstein, Heide Moser, 1997 der erstaunten Öffentlichkeit vorstellte, sollte der Stoff aus dem die Träume sind von Apothekern verteilt werden. Der Gag: Bis 1958 war Cannabis tatsächlich als Arznei in deutschen Apotheken erhältlich. Heute widerstrebt es den Apothekern gründlich, dieses Mittel unters Volk zu bringen – die Apothekerverbände wehren seit Jahren jeden Vorstoß in diese Richtung ab. Auch sonst bleiben viele Fragen offen: Ist Cannabis sodann verschreibungspflichtig? Muss sich der Konsument registrieren lassen? Und warum überhaupt Apotheken? Kurzum: Dem gesamten Ansatz haftet ein etwas akademischer Duft an.

Die meisten Konsumenten sprechen sich daher für ein qualitativ wesentlich aufgebessertes Coffee-Shop-Modell aus. Dazu gehört ihrer Meinung nach eine entsprechende Ausbildung der Verkäufer und die angesprochene Regelung der Anlieferung. Lizenzierte Abgabeorte bedeuten immer auch: Lagerung größerer Mengen und daher Belieferung durch Großproduzenten. Logisch: Dieser Ansatz ist nicht durchzuhalten, wenn nur der Anbau zum Eigenbedarf erlaubt ist. Theoretisch vielleicht noch denkbar, dürfte den Machern in Berlin der Arsch auf Grundeis gehen, wenn sie an die Horden von Kapitalismusverweigerern denken, die sich in solchen Schuppen drängeln würden. Aber da müssten sie durch, die Damen und Herren.

Es ist zu vermuten, dass die Konzessionen für die Eröffnung eines Coffee-Shops (zunächst) heiß begehrt sein werden. Anbieten würden sich die Umfunktionalisierung der bereits bestehenden Head- und Grow-Shops, denn die Menschen hier bringen ihre Drogen-Vorbildung mitein. Aber wann erhält jemand so eine Konzession? Nun, immer dann, wenn eine Eignungs-Prüfung bestanden wird. Folgendes Planspiel ist denkbar: Das zuständige Gesundheitsamt bittet zum führerscheinähnlichen Wissens-Check. Hier muss die Bewerberin beweisen, dass sie THC von TEE unterscheiden kann, den Beipackzettel verstanden hat und ein umfangreiches Wissen über den Hanf und seine Effekte in sich trägt. Diskutierbar ist auch, dass die Konzession nur für ein Geschäft gilt. In jedem Coffee-Shop muss zu jeder Zeit eine amtlich abgesegnete Verkäuferin zugegen sein, ansonsten darf kein Cannabis über die Theke gehen.

Ein so geschnürtes Paket könnte die positiven Potentiale des Hanfs fördern und Gefahren des Konsums mindern, und zu guter Letzt noch die Hoffnung von Henning Schmidt-Semisch, Mitarbeiter am Institut für Drogenforschung der Universität Bremen, bestätigen. Er ahnt nämlich, dass  die Legalisierung dem Staat selbst nicht nur aus steuerlichen Gründen nützen würden, sondern auch, „weil sie zu einer Erhöhung der Glaubwürdigkeit staatlicher Drogenpolitik führt“. In diesem Sinne: Rock On!