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Interview mit James S. Ketchum über chemische Kriegsführung

telepolis, 15.08.2004

Chemische Kriegsführung

Ein Interview mit James S. Ketchum über fast vergessene Geheimnisse

Eine Menge wurde über die geheimen Experimente geschrieben, die die CIA während der Fünfziger und frühen Sechziger mit psychoaktiven Drogen, insbesondere LSD, durchgeführt hat. Diese Projekte namens „Bluebird“, später „Artichoke“ und „MKULTRA“ testeten den möglichen Einsatz zur Bewusstseinskontrolle und als Wahrheits-Serum. In zahlreichen Fällen wurden unwissenden Versuchspersonen diese Drogen verabreicht allein um zu beobachten, was passieren würde. Zu diesem Zweck führte die CIA sogar ein Bordell. Diese ziemlich anarchischen Aktivitäten im Rahmen des Kalten Krieges wurden in den Siebzigern öffentlich bekannt. Der Fall von Frank Olson, der kurz nachdem er LSD verabreicht bekommen hatte aus einem Fenster sprang oder geworfen wurde und starb, geriet ins Zentrum vieler Spekulationen. Außerdem wurde ein erheblicher Teil der umfangreichen wissenschaftlichen Forschung an LSD während dieser Zeit durch getarnte CIA-Fonds subventioniert.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die US-Armee ihr eigenes chemisches Forschungszentrum hatte, das Edgewood Arsenal nordöstlich von Baltimore, wo sie auf wissenschaftlicher Basis eine Reihe von psychoaktiven Substanzen und ihre Anwendung als handlungsunfähig machende Wirkstoffe testete, darunter BZ und andere Belladonnoid-Glycolate und LSD.

Der Psychiater James S. Ketchum hat tatsächlich dort gearbeitet und den ersten umfassenden Bericht darüber geschrieben, was dort in den Sechzigern geschah. Sein kürzlich im Selbstverlag in Englisch veröffentlichtes autobiographisches Buch „Chemische Kriegsführung. Fast vergessene Geheimnisse. Eine persönliche Geschichte der Medizinischen Tests an Armee-Freiwilligen mit handlungsunfähig machenden chemischen Wirkstoffen während des Kalten Krieges (1955-1975)“ ist, reich bebildert und mit einzigartigen wissenschaftlichen Daten und Dokumenten bezüglich einiger ziemlich obskurer Substanzen vervollständigt, eine wahre Fundgrube sowohl für Sechziger Jahre-Historiker als auch Psychoaktiva-Afficionados.

Frage: Viele Menschen fürchten sich mehr vor psychoaktiven Substanzen, wenn sie als Waffen benutzt werden um Feinde in einer Kriegssituation handlungsunfähig zu machen, als vor den „traditionellen“ Waffen, Kugeln, Granaten und Bomben, die schwere körperliche Verletzungen oder den Tod sowohl von Soldaten als auch Zivilisten verursachen. Wie erklärst du dir diesen offensichtlichen Widerspruch?

James S. Ketchum: Meinem Gefühl nach hat die Öffentlichkeit im Angesicht exzessiver Geheimniskrämerei ein Mißtrauen gegenüber Regierungsabsichten entwickelt und wird dadurch von Kritikern in den Medien leicht dazu verführt zu glauben, dass jeder Gebrauch einer Chemikalie als Waffe zwangsläufig grausam und unmoralisch sei. Mangel an Wissen über handlungsunfähig machende Substanzen ist ein weiterer wichtiger Grund. Chemische Kriegsmaterialien mit geringem Tötungsrisiko werden unangebracht als Massenvernichtungswaffen klassifiziert. Das allgemeine Versäumnis, diese Unterscheidung zu treffen, ist bedauerlich. Es ähnelt dem Fehler Marijuana nicht von wirklich schädlichen Drogen wie Kokain und Heroin (ganz zu schweigen von Alkohol und Tabak) zu unterscheiden.

Frage: Von 1955 bis 1975 wurden insgesamt 3200 Freiwillige chemischen Wirkstoffen ausgesetzt, die ihnen zum Zwecke militärischer Forschung verabreicht wurden. Wie müssen wir uns vorstellen, was im Edgewood Arsenal geschah?

James S. Ketchum: Ich denke, das Bild sollte eines von ernsthafter Forschung sein, die mit bereitwilligen Freiwilligen gemacht wurde, mit dem Ziel angemessene Abwehrmöglichkeiten gegen möglicherweise einsetzbare chemische Waffen zu finden, indem man ihre Wirkungen auf den Menschen in einer Laborumgebung studierte, die darauf angelegt war, Sicherheit zu gewährleisten und widrige Wirkungen zu minimieren. Ein zweites Ziel war es alternative, humanere Waffen zu liefern, um bestimmte Missionen mit minimaler Todesrate durchführen zu können.

Frage: Du hast ausführlich BZ und andere Belladonnoide untersucht, die ähnlich den Nachtschatten-Alkaloiden Atropin und Skopolamin wirken, aber viel länger, 72 Stunden und mehr. Die Menschen unter ihrem Einfluss tendieren dazu lächerliche und sinnlose Dinge zu tun, zumindest aus Sicht eines Beobachters, und erinnern nicht viel, wenn sie wieder in die Normalität zurückkehren. Hast du jemals länger anhaltende Komplikationen nach den kontrollierten Tests mit den Belladonnoiden oder LSD beobachtet oder davon gehört?

James S. Ketchum: Ich weiss, dass einige Veteranen heute behaupten, 30 bis 50 Jahre nach einem kurzen Kontakt als Freiwilliger mit einer oder mehrerer Chemikalien in Edgewood, dass sie in Folge eines unerwarteten verzögerten toxischen Effektes auf Grund ihrer damaligen chemischen Erfahrung verschiedene Krankheiten entwickelt hätten. Wie auch immer, umfassende Nachuntersuchungen 1980 (für LSD) und 1982 (für Belladonnoide) haben keinen signifikanten Anstieg der Erkrankungsziffer oder der Sterblichkeit unter früheren Freiwilligen festgestellt, die eine Substanz erhielten, gegenüber denen, die keine bekamen. Man kann etwas Negatives niemals beweisen, aber es wäre meiner Ansicht nach bemerkenswert, wenn eine winzige Dosis einer Droge, die während der medizinischen Auswertung zwei Wochen nach der Zufuhr keine schädlichen Wirkungen erkennen ließ, auf irgendeine Weise Jahre später Schäden verursachen würde. So ist zum Beispiel nichts über verzögerte Schäden als Folge des persönlichen Gebrauchs von LSD in höheren Dosierungen oder größerer Frequenz, als wir sie getestet haben, bei diesen Konsumenten bekannt. (Geschätzte 10% der US-Bevölkerung haben LSD zumindest einmal genommen.) LSD ist heute nach wie vor als Freizeit- und psycho-spirituelle Droge beliebt.

Frage: Hat irgendjemand die Belladonnoid-Erfahrung genossen?

James S. Ketchum: Ein Individuum, ein früherer Heroin-Süchtiger, erlebte einen ruhigen, angenehmen Zustand nach einer handlungsunfähig machenden Dosis Atropin. Tatsächlich sagte er, die beiden Drogen fühlten sich ähnlich an. Wie auch immer, im Allgemeinen fanden die Freiwilligen, die Belladonnoid-Drogen erhielten (im Gegensatz zu dem manchmal Euphorie hervorrufenden LSD) kein Vergnügen an den frühen Wirkungen der Droge, hauptsächlich auf Grund der Ruhelosigkeit, die große Dosierungen während der Anfangsphase meist bewirken. Im Anschluss an die Erholungsphase erinnerten die Probanden allerdings meist kein ernsthaftes Unbehagen mehr, und einige fühlten sich sogar belebt.
Wie ich in meinem Buch herausstelle, wurde Atropin um 1950 herum in der „Koma-Therapie“ in den USA, Japan und Polen (und vielleicht noch woanders) in Dosierungen bis zu 20 mal so hoch wie die handlungsunfähig machende Dosis benutzt. Es wurde psychiatrischen Patienten verabreicht, ohne dass es zu drogenbedingten Todesfällen oder bleibenden Hirnschäden kam. Ein hoch qualifizierter Akademiker, der als von schweren Zwangsvorstellungen geplagter Arzt beschrieben wurde, war in der Lage, in verbessertem Zustand erfolgreich in seine Praxis zurückzukehren nachdem er ein Dutzend oder mehr Behandlungen mit Atropin in Dosierungen von 50 bis 200 mg erhalten hatte (4 – 16 mal so hoch wie die höchste Dosis, die wir jemals unseren Freiwilligen verabreicht haben). Auch wenn sie üblicherweise nicht genossen, bis zu 72 oder 96 Stunden lang delirös zu sein, so waren zumindest ein Dutzend der Freiwilligen bereit, den Test (ohne irgendeinen Zwang) zu wiederholen. Ich fragte eine Versuchsperson, was er dafür verlangen würde, wenn wir ihm anbieten würden, ihn dafür zu bezahlen, eine zweite Dosis zu nehmen, und er antwortete nach einigem Nachdenken: „Etwa 25 Dollar“.

Frage: Was sind die hauptsächlichen Risiken des Gebrauchs von Belladonnoiden als handlungsunfähig machende Wirkstoffe?

James S. Ketchum: Wie ich es sehe, bestehen zwei Gefahren: Erstens kann in einer heißen Umgebung ein Hitzschlag drohen, wenn nicht rechtzeitig Behandlung erfolgt; zweitens könnte desorganisiertes Verhalten, besonders nach Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit, zu unbeabsichtigten Verletzungen und Tod führen. In beiden Fällen sind strenge medizinische Überwachung und unverzügliche Behandlung die Schlüssel um solche Probleme zu verhindern, wenn sie bevorzustehen scheinen.

Frage: Die Armee hat große Mengen BZ hergestellt. Was für eine Art von Szenario könnte das Vorspiel für den Einsatz von BZ als psychochemischer Waffe gewesen sein?

James S. Ketchum: Ich denke, BZ (oder jedes andere Belladonnoid) könnte nur effektiv sein, wenn es in einem definierten, vorzugsweise beschränkten Gebiet eingesetzt werden würde, aus dem ein Entkommen verhindert werden kann, und ausreichend Zeit besteht um die erwünschten Wirkungen zu erreichen. Wenn zum Beispiel feindliche Kämpfer eine Botschaft besetzen würden, könnten BZ-artige Wirkstoffe benutzt werden, um es sicherer zu machen einzudringen und Geiseln zu befreien, während man gleichzeitig die „Übeltäter“ festnimmt. Logistische und operative Entscheidungen würden taktische Experten erfordern, um die Details auszuarbeiten. Ich persönlich würde nicht vorschlagen, solch eine Waffe für den Gebrauch durch den normalen Soldaten zur Verfügung zu stellen, außer er hätte eine umfassende Spezialausbildung erhalten.

Frage: Ihr habt den Gebrauch des Kalabarbohnen-Alkaloides Physostigmin als ein effektives Gegenmittel um die Belladonnoid-Wirkungen zu verkürzen wiederentdeckt, eine ziemlich interessante Errungenschaft. Wurden im Edgewood Arsenal noch andere wissenschaftlich wertvolle Entdeckungen gemacht?

James S. Ketchum: Ich denke, dass die systematische Charakterisierung verschiedener Belladonnoid-Wirkstoffe (und einiger anderer) eine akademische Basis bietet, um für diese Substanzen Struktur-Aktivitäts-Beziehungen in einem Maß abzuleiten, wie es zuvor nicht möglich war, außer für Tiere. Die Entwicklung des ersten zuverlässigen Bluttestes für LSD und das Herausfinden, dass Thorazin-artige Drogen hier als Behandlung ungeeignet sind, sind andere Beispiele. Viele neue Evaluations- und Test-Prozeduren wurden erarbeitet, die bei zukünftigen Humanstudien an Freiwilligen behilflich sein könnten.

Frage: Wie verliefen die LSD-Trips in der kontrollierten Umgebung eines Armee-Forschungslabors? Wurden zumindest einige der Versuchspersonen während ihrer Trips spirituell beeindruckt oder erleuchtet?

James S. Ketchum: Es ist schwer zu sagen. Wir waren hauptsächlich an den Leistungsänderungen unter verschiedenen Dosierungen interessiert. Auf Grund sorgfältiger Auswahl und Vorbereitung sowie ausreichend Zeit, um mit dem Personal und den anderen Freiwilligen vertraut zu werden, fühlten sich die Versuchspersonen in der Testsituation normalerweise wohl. Wir beobachteten viele Variationen in den Details ihrer Reaktionen, aber wenige schlechte Trips. Ich beobachtete eine vorteilhafte Veränderung im Selbstbild eines Soldaten nachdem er das, was ein schlechter Trip zu sein schien, mit seinen Kameraden diskutiert hatte. Sie boten ihm Unterstützung, und er war in der Lage, seine Sorgen bezüglich seiner sexuellen Fantasien gegenüber den Krankenschwestern zu offenbaren, was seine Angst linderte. Als er in seine Heimat-Einrichtung zurückgekehrt war, erfuhren wir indirekt, dass seine Persönlichkeit weniger introvertiert geworden war und seine sozialen Kompetenzen sich verbessert hatten.
Weil es unsere Absicht war, Veränderungen in der Leistungsfähigkeit zu messen und nicht persönliche Erleuchtung, ist es schwer zu sagen, welche persönlichen Vorteile in der spirituellen Dimension stattgefunden haben mögen. Es wäre schön, glauben zu können, dass sie zumindest in einigen Versuchspersonen auftraten, aber wir haben zu diesem Aspekt keine systematischen Daten gesammelt.

Frage: Hattet ihr irgendeine Medikation um einen angsterfüllten und erschreckenden LSD-Trip zu beenden oder abzukürzen?

James S. Ketchum: Wie erwähnt, waren schlechte Trips selten. Ich kann mich nicht erinnern, bei den Versuchspersonen, die ich getestet habe, jemals Tranquilizer (wie Valium oder ein Barbiturat) geben zu müssen, aber da einige der Tests von anderen Ärzten überwacht wurden, kann ich keine definitive Antwort geben. Natürlich hätten wir ein Beruhigungsmittel verabreicht, wenn eine wirklich verstörende Wirkung aufgetreten wäre. Wie auch immer, die Dosierungen des LSD waren normalerweise klein oder moderat (das heißt 50-150 mcg), und panische Reaktionen treten in diesem Dosisbereich selten auf.
Frage: Was habt ihr über die Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation herausgefunden?

James S. Ketchum: Ich beobachtete, dass bei einem Test, der an der chemischen Forschungsanstalt in England in Porton Down gefilmt worden war, bei einer trainierten Gruppe britischer Kommandos LSD in Dosen von 150 mcg totale Desorganisation hervorrief. In sowohl den britischen als auch den amerikanischen Tests mit LSD wurden keine gewalttätigen Aggressionen beobachtet. Höhere Dosierungen tendierten allerdings dazu, mehr Reizbarkeit und verbale Feindseligkeit hervorzubringen. Mein Hauptbedenken bezüglich der Einsatzfähigkeit von LSD in einer Kampfsituation wäre der Verlust an Hemmungen und Disziplin. Weil der Betroffene noch in der Lage sein mag, Waffen abzuschießen oder Raketen abzufeuern. LSD würde gegen schwer bewaffnete Gegner eine gefährliche Wahl darstellen. Die Kommandeure am Edgewood Arsenal empfanden ebenso, und LSD wurde niemals zur Bewaffnung zugelassen.

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Frage: Seltsamerweise schafftest du es von 1966 bis 1968 eine zweijährige Studienphase an der Stanford Universität einzuschieben und hast so die Chance erhalten, den „Sommer der Liebe“ in San Francisco persönlich zu bezeugen. Du hast sogar an der Haight-Ashbury Free Clinic gearbeitet. Wie hast du den „Sommer der Liebe“ erlebt? Was hast du über diese jungen Leute gedacht, die einige der Drogen nahmen, die du als handlungsunfähig machende Wirkstoffe getestet hattest, insbesondere LSD?

James S. Ketchum: Ich war fasziniert vom Sommer der Liebe und schaffte es einige Male von Palo Alto nach San Francisco zu fahren und ihn aus erster Hand zu beobachten. Indem ich eine Nacht in der Woche als freiwilliger Arzt in der Klinik arbeitete, begegnete ich einer ziemlichen Vielfalt an LSD-Reaktionen. Ich versuchte außerdem mit einigen wenigen Individuen auf einer wöchentlichen Basis Psychotherapie zu machen. Es war mein Eindruck, dass diese frühen Hippies oft spirituell veranlagt waren und LSD für Einsicht und Selbst-Erleuchtung nutzten. Unglücklicherweise nahmen sie es manchmal zur falschen Zeit und am falschen Ort und oft in exzessiv hohen Dosen, was zu einer Welle von Notaufnahmestationsbesuchen führte.
Ich glaube nicht an die Sinnhaftigkeit einer Politik, die es Privatpersonen verbietet psychedelische Drogen einzunehmen, aber ich empfehle kenntnisreiche Supervision und gebührende Absichten. Wie auch immer, der Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen durch Teenager ist nicht ratsam und sollte aus Gründen der psychischen Gesundheit mißbilligt werden; Drogen können das Lernen beeinträchtigen und das Studium durch „High werden“ ersetzen, sich der Zeit und des klaren Verstandes für mehrere Stunden bemächtigen. Medizinische Behandlung für die, die nicht vom Drogenmißbrauch Abstand nehmen können, macht für mich viel mehr Sinn als Gefängnis, außer im Falle der Individuen, die sich auf gefährliches antisoziales Verhalten einlassen oder Anderen Schaden zufügen.
Frage: In den Sechzigern begann die Einnahme psychoaktiver Substanzen zur Unterhaltung Bestandteil westlicher (Jugend-)Kultur zu werden. Was denkst du, wie wir mit diesem Phänomen umgehen sollen?

James S. Ketchum: Die Politiker unseres Landes haben die negativen Auswirkungen von Drogen bis zu dem Punkt propagiert, an dem wir tausende ansonsten unschuldiger Individuen einsperren und Milliarden ausgeben um Drogen unerhältlich zu machen. Diese Strategie hat tatsächlich unsere Probleme verschlimmert, Kartelle bereichert, Morde gefördert und Geld aus unserer Ökonomie abgezogen, das besseren Zwecken gedient haben könnte. Von allen drogenbedingten Todesfällen, so schätzt man, werden 99 Prozent durch Zigaretten und Alkohol bedingt, während die den illegalen Drogen zuzuschreibenden Todesfälle nur 1 Prozent umfassen. Diese Strategie der Prävention zu überdenken und bessere Erziehung und attraktive Optionen zum Drogengebrauch zu bieten, würde gleichzeitig rationaler erscheinen und eine weniger kostspielige Herangehensweise an Drogenmißbrauchsprobleme darstellen.

Frage: Was denkst du im Rückblick über die Moralität und den Nutzen deiner Arbeit am Edgewood Arsenal?

James S. Ketchum: Ich war stolz auf die Arbeit, die wir in Edgewood machten, und glaubte, sie wäre moralisch gerechtfertigt, insbesondere im Kontext der Zeit. Wir befanden uns inmitten eines Kalten Krieges, dessen zukünftige Ausrichtung ungewiss war. Nichtsdestotrotz war es unsere Absicht, chemische Methoden der Schadensbegrenzung zu finden. Wir taten alles, was wir konnten, um wahre Informationen für mündige Entscheidungen zu liefern. Als abschließende Überlegung sollte die Wichtigkeit zu Lernen, wie man die Drogen, die wir studiert haben, behandelt und sie, wenn notwendig, einsetzt, gegen das minimale Risiko der Schädigung der Freiwilligen abgewogen werden.
Risiken sind jedem Experiment inhärent. Die Soldaten, die an unseren Studien teilnahmen, verrichteten einen wichtigen Dienst für ihr Land und sollten geschätzt werden für ihre Bereitwilligkeit Risiken einzugehen im Interesse der nationalen Verteidigungsfähigkeit im Falle einer psychochemischen Kriegsführung. Insofern da wir alles taten, was wir konnten, um die Tests so sicher wie möglich zu machen und uns um Zustimmung auf Basis wahrer Informationen bemühten (trotz Behauptungen des Gegenteils), glaube ich, dass unsere Arbeit tatsächlich ethisch war.
Das Buch:

James S. Ketchum
Chemical Warfare. Secrets almost forgotten. A Personal Story of Medical Testing of Army Volunteers with Incapacitating Chemical Agents During the Cold War (1955-1975)
Foreword: Alexander Shulgin
Hardcover, Großformat, 360 S., zahlreiche Abb.
Santa Rosa, California 2006
49.95 US-Dollar
ISBN 978-1-4243-0080-8

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Interview mit Günther Amendt über Doping und die Pharmakologisierung des Alltags

telepolis, 15.08.2004

„Der Leistungssport wird seine ‚Unschuld‘ nie wieder zurückgewinnen“

Interview mit Günter Amendt, Experte für Drogenökonomie und Drogenpolitik, über Doping, die Pharmakologisierung des Alltags und das Scheitern der Prohibition

Amendt

Seit nunmehr 30 Jahren untersucht Günter Amendt die Wirkung von Drogen auf Menschen – auf diejenigen, die sie verkaufen, auf die, die sie konsumieren, und auf die, die sie kontrollieren. Schon 1972 veröffentlichte er das inzwischen mehrfach aktualisierte Buch „Sucht. Profit. Sucht“. Darin analysierte er zusammen mit Ulli Stiehler die politische Ökonomie des Drogenhandels. Seine Analyse des internationalen Kampfes gegen die Drogen führte Amendt über die Jahre immer mehr zu dem Schluss, dass die Prohibition einer der größten politischen Fehler des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Sein Argument: Erst das Verbot schaffe den globalen Drogenhandel, darum sei dieser Schaden größer als das Risiko der Legalisierung. Im Interview lässt der Hobby-Radsportler Amendt, Jahrgang 1939, die Ereignisse der Tour de France Revue passieren, wagt einen Ausblick auf das Doping bei den Olympischen Spielen und weist auf die Gefahren einer medikamenten- und substanzfixierten Gesellschaft hin.

Herr Amendt, bei der diesjährigen Tour de France waren sich Radfahrer, Organisatoren und Sponsoren mal wieder einig: Doping ist die Ausnahme, Doping ist das, was die anderen machen. Ist das nicht ein bewusster Irrtum? Und wenn ja, warum wird er so vehement verteidigt?

Günter Amendt
Außer dem jungen Thomas Voeckler, der möglicherweise für eine neue Generation von Fahrern steht, die ohne chemische Hilfsmittel vorankommen wollen, war unter den Spitzenleuten der diesjährigen Tour kaum einer, der nicht bereits des Doping überführt worden wäre oder unter Dopingverdacht geraten ist. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung, moralisch die Schuldvermutung, denn die Tour de France wird, wie der französische Sportminister es ausdrückte, beherrscht von einer „Kultur des Doping“. Daran hat sich nichts geändert. Niemand bei klarem Verstand glaubt dem Geschwätz der Funktionäre und der Sponsoren-Sprecher, wenn die das Gegenteil beteuern.
Wie gehen wir als Publikum und Radsportler mit diesem Wissen um? Diese Frage hat mich bei der diesjährigen Tour besonders beschäftigt. Da wir ein Gespräch über Doping im Sport verabredet haben, sollte ich zum besseren Verständnis vorausschicken, dass ich mich schon als Junge für Sport zu interessieren begann und dass ich seit Jahren auf dem Niveau eines Freizeitsportlers alleine oder mit einer Gruppe von Freunden auf dem Rennrad unterwegs bin. Ich lebe also im ständigen Widerspruch einer Leidenschaft für den Radsport (und den Fußball) und dem Wissen und den Erkenntnissen über deren Schattenseiten. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht umhin, Armstrongs sechsten Toursieg als eine gigantische sportliche Leistung zu bewundern. Armstrongs Auftritt war die ebenso beeindruckende wie abstoßende Demonstration eines unbeugsamen Leistungswillens.

Aber was unterscheidet Armstrong von Voeckler? Der Glaubwürdigkeitsgrad seiner Beteuerungen? Anders gefragt: Kann man ohne Doping bei 3400 Kilometern mit über 40km/h Durchschnittsgeschwindigkeit überhaupt vorne mitfahren?

Günter Amendt
Armstrong ist ein Mann unter Verdacht. Voeckler nicht – vielleicht auch nur: noch nicht. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, wie man solche Spitzenleistungen ohne chemische Hilfsmittel zustande bringen soll. Ich werde jedoch den Verdacht nicht los, dass sich Teile des Publikums und der Medienöffentlichkeit längst mit der Dopingrealität arrangiert haben. In Europa findet eine Anpassung statt an US-amerikanische Verhältnisse, wo der Sportler als Gladiator wahrgenommen und akzeptiert wird. Armstrongs Status in Europa, die Antipathie, die ihm entgegenschlägt, hat weniger mit dem Dopingverdacht zu tun, dem er – zugegeben – massiv ausgesetzt ist, was ihm verübelt wird, ist diese spezifisch US-amerikanische Siegermentalität, die er cool nach außen trägt, was ihm den Ruf der Arroganz einträgt. Armstrong ist ein kalter Sportheld. Doch man muss sich entscheiden – wer professionellen Leistungssport will, muss in Kauf nehmen, dass unter den Bedingungen des Neoliberalismus sportethische Kriterien nichts mehr zählen. So ist das System. Das Gerede von Armstrongs Kannibalismus ist einfach nur lächerlich. Das ganze System ist kannibalisch. Und dazu gehört: der Gegner muss nicht nur besiegt, er soll auch gedemütigt werden. The winner takes it all für sich und für sein hierarchisch geführtes Team, das sich ganz in den Dienst seines Kapitäns zu stellen hat und im Gegenzug die Siegprämie beanspruchen darf. Das nennt man Professionalismus. Ich wüsste nicht, was es daran zu kritisieren gäbe. Und doch hat Armstrong die Schraube überdreht. Sich bei einem Ausreißversuch seines italienischen Intimfeindes an dessen Hinterrad zu hängen und den Sheriff zu spielen, war too much. Das hat ihn beim Buhlen um die Gunst des Publikums Punkte gekostet und selbst Sympathisanten abgestoßen. Dieser Typ von Amerikaner hat derzeit schlechte Karten in Europa.

Sportliche Großereignisse, Doping, die Massenmedien und der Staat

Wie bekommt der Sport das Doping in den Griff?

Günter Amendt
Doping ist mehr als nur ein sportinternes Problem. Bei allen sportlichen Großereignissen ist der Staat involviert. Weil sportliche Leistungen noch immer als Ausdruck der nationalen Leistungsfähigkeit weit über den Sport hinaus gelten, fördert der Staat seine Hochleistungssportler – oft über den Umweg der Armee und der Polizei. Olympische Spiele sind immer auch Armee- und Polizeifestspiele – innerhalb wie außerhalb der Stadien. Erhält ein Land den Zuschlag als Veranstalter eines Großereignisses, werden zusätzlich gigantische Summen aus Steuermitteln in Stadionneubauten und in Infrastrukturmaßnahmen gesteckt. Nach dem „Event“ stehen die Stadionbauten allzu oft als Investitionsruinen in der Landschaft herum. Jüngstes Beispiel für einen skandalösen Fehleinsatz staatlicher Mittel ist Portugal, das nach der Fußball-Europameisterschaft zwar überdimensionierte Stadien vorzuweisen hat, dafür aber nicht genügend Wasserflugzeuge und Hubschrauber bei der Waldbrandbekämpfung zur Verfügung hatte.

Folgt man dieser Logik, dann können Großveranstaltungen dieser Art nur noch in voll entwickelten Industrienationen stattfinden, wo Markt und Fans eh nach neuen Stadien rufen.

Günter Amendt
Ob die Fans tatsächlich nach neuen Stadien rufen, sei dahingestellt. Ich habe da meine Zweifel, wenn ich etwa an das Fan-Publikum von 1860 München denke, das sich gegen den Umzug vom Grünwalder- ins Olympiastadion stemmte. Wenn man mit Mitgliedern von Fan-Gruppen kleinerer Bundesligavereine spricht, wird man in seinen Zweifeln bestärkt. Da wird oft der Verdacht geäußert, mit dem Neubau von Stadien solle gleich auch das Publikum ausgetauscht werden. Aber das ist ein anderes Thema. Was die Veranstaltung von sportlichen Großereignissen betrifft, stimme ich Ihnen zu: nur entwickelte Industrienationen sind dazu in der Lage. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich der ganze Aufwand am Ende ökonomisch rechnet. Mangelnde Auslastung, Leerstand und enorme Folgekosten belasten die Haushalte der kommunalen Träger oft über Jahre hinaus. Handelt es sich um private Träger, dann schlagen sich deren Verlustabschreibungen in Form von Steuermindereinnahmen in den Haushalten nieder.

Heißt das, der Staat soll sich aus der Sportförderung zurückziehen?

Günter Amendt
Als Gegenleistung für sein finanzielles Engagement verlangt der Staat einen „sauberen Sport“, denn nur ein „sauberer Sport“ kann die ihm zugedachte Rolle als Vermittler von Werten wahrnehmen. Doch um welche Werte geht es da eigentlich? In der diesjährigen Tourberichterstattung von ARD und ZDF wurde deutlich, dass es darüber keinen Konsens gibt. Als der Chef von T-Mobile Jan Ullrich bescheinigte, er sei keine „Bestie“ und kein „Killer“, gab der Ex-Profi Rolf Gölz als Co-Kommentator des ZDF zu bedenken, man könne das auch als Kompliment verstehen, während sein Kommentatoren-Kollege wie auch der Chef der ZDF-Sportredaktion sich diesen Vorwurf voll zueigen machten. Und kaum war ein Mitglied des T-Mobile-Teams an Ullrich vorbeigezogen, wurde die Frage aufgeworfen, ob Ullrich nicht die Kapitänsbinde an Andreas Klöden abgeben müsse. Mit seiner Weigerung, diesem Vorschlag auch nur gedanklich nahezutreten, setzte sich auch Klöden dem Verdacht aus, keine Bestie und kein Killer zu sein. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die ihrerseits erhebliche Mittel für die Berichterstattung einsetzen, brauchen deutsche Siege, um ihren Mitteleinsatz zu rechtfertigen und das Publikum am Bildschirm zu halten. Über das T-Mobile-Team wird berichtet, als sei es die deutsche Radsport-Nationalmannschaft.

Nun, Ullrich, das „schlampige Genie“, wie er ja gerne genannt wird, ist ja nun mal auch ein nationaler Held. Und wenn es eine Nationalmannschaft gäbe, wäre Ullrich der Kapitän.

Günter Amendt
Mir ist es völlig egal, ob die Fans schwarz-rot-goldene oder magentafarbene Fahnen schwenken. Ich würde weder das eine noch das andere tun. Tatsache ist jedoch, dass Ullrich seinem Beruf als Radrennfahrer im Dienste eines Konzerns und nicht im Dienste der Bundesrepublik Deutschland nachgeht. Das ist einer der vielen Widersprüche in der Diskussion, den ich im Dopingkapitel meines Buches „No Drugs – No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung“ bereits thematisiert habe: „Das Bemühen, Sport im Zeitalter der Globalisierung als nationale Klammer zu benutzen, ist eher gewachsen, steht allerdings in Konkurrenz zu den Anstrengungen global operierender Konzerne, an die Stelle von nationalen Symbolen die Logos von Firmen zu setzen.“
Dass eine öffentlich-rechtliche Anstalt als Sponsor eines Firmen-Teams auftritt, zu dessen Mitgliedern des Doping überführte oder des Doping verdächtigte Radsportler gehören, und dann auch noch anfeuernd über den Wettkampfeinsatz dieses Teams berichtet, ist und bleibt ein Medienskandal, auch wenn sich die Öffentlichkeit damit abgefunden hat. Was sich der ARD-Kommentator leistete, als er die nationale Karte zog, und dem CSC-Profi Jens Voigt vorwarf, den Etappensieg von Jan Ullrich, der für T-Mobile im Sattel saß, verhindert zu haben, hat mit kritischem Journalismus nichts aber auch gar nichts zu tun. Diese Art von Berichterstattung trägt zur Vermobbung der Massen am Straßenrand bei, wie sie beim Aufstieg nach Alpe d’Huez und dem Verhalten deutscher Fans gegenüber Lance Armstrong zu beobachten war.

Die US-amerikanische Leichtathletik befindet sich seit Monaten im größten Doping-Skandal ihrer Geschichte, Hunderte von Sportlern haben illegalen Muskelaufbau betrieben. Bei den nun beginnenden Olympischen Spielen in Athen will das IOC hart durchgreifen. Ist der Wille tatsächlich da, entschlossen gegen Doping vorzugehen? Und wie ist die Rolle der Anti-Doping-Agentur der USA (USADA) einzuschätzen?

Günter Amendt
Es wird den Fernsehanstalten auch diesmal gelingen, das Publikum vor dem Bildschirm zu versammeln. Getrommelt wird ja genug. Aber mal ehrlich: Wer interessiert sich noch für die Olympiade? Es gab einmal eine Zeit, als „die Sommerspiele“ ein geradezu festliches Ereignis waren, das alle Sportinteressierten in eine kindliche Vorfreude zu setzen vermochte. Das ist schon lange vorbei. Die inflationäre Aneinanderreihung von großen Events – die Fußball-Europameisterschaft, die Tour de France, die Sommerspiele – wertet die Olympiade zusätzlich ab. Und selbstverständlich stehen die Leichtathletikwettkämpfe, die als der Höhepunkt olympischer Sommerspiele gelten, für jeden einigermaßen informierten Zuschauer im Schatten des US-amerikanischen Dopingskandals. Das IOC will durchgreifen – hart und unerbittlich. Dabei weiß doch jeder, dass ein bei den olympischen Spielen des Doping überführter Sportler nur ein Depp ist, der es einfach nicht geschafft hat, seine Aufbausubstanzen rechtzeitig abzusetzen. Ich rechne mit einigen Dopingfällen bei sogenannten Randsportarten. Auch in der Leichtathletik wird es den einen oder anderen Dopingfall geben. Einige der US-Doper treten erst gar nicht an, weil sie von ihrem Verband gesperrt wurden. Der Rest ist zum Zeitpunkt des Wettbewerbs entweder clean oder auf dem aller neuesten Stand der Dopingtechnik, der einen Nachweis unmöglich macht. Dass die US-Anti-Doping-Agentur und die US-Sportverbände über Jahre hinweg eine äußerst dubiose Rolle spielten, ist hinlänglich bekannt. Ob man das auch jetzt noch, nach dem Bullenmastskandal (THG), weiter behaupten kann, weiß ich nicht. Diese Skandalgeschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Ich traue mir da im Augenblick kein Urteil zu.

Saubere Spiele und die Pharmakologisierung des Alltags

Sind denn „saubere Spiele“ ein realistisches und sind sie überhaupt ein wünschenswertes Ziel?

Günter Amendt
Der Leistungssport wird seine „Unschuld“ nie wieder zurückgewinnen. Den Anspruch auf einen „sauberen Sport“, soweit er sich auf den professionellen Hochleistungssport bezieht, sollte man schnellstens vergessen. „Sauberer Sport“, das ist eine Propagandaformel, und „propaganda all is phony“, erkannte schon Bob Dylan.

Aber was ist die Konsequenz? Die Freigabe des Dopings?

Günter Amendt
Es gibt Profisportler und Verbandsfunktionäre, die genau das fordern. Bei nüchterner Betrachtung liegt ihre Forderung, Doping freizugeben, in der Logik eines total pervertierten Hochleistungssports, der sich als Zirkusveranstaltung den Spielregeln der Unterhaltungsindustrie unterworfen hat. Diese Diskussion macht Sportlerinnen und Sportler, die clean sind, rasend, denn mit der Forderung, Doping zu legalisieren, wird der Generalverdacht, unter dem heute jeder steht, der sich am sportlichen Wettbewerb beteiligt, verstärkt und bestätigt.

Welche Rolle fällt dem Staat in einer mit Medikamenten gesättigten Gesellschaft zu, deren substanzorientierte Institution „Sport“ ja nur ein logischer Teil ihrer selbst ist?

Günter Amendt
Gegen staatliche Sportförderung ist nichts einzuwenden. Doch der Staat fördert nicht den Sport, er fördert die Höchstleistung. Wer die Pharmakologisierung des Alltags, die sich schleichend vollzieht, für einen Fortschritt hält, wird nichts dagegen einzuwenden haben, wenn der Staat und dessen politische Klasse chemisch erzeugte Höchstleistungen als Ausdruck des Leistungswillens der Bevölkerung aus Steuermitteln fördert. Das nennt sich dann Standortpolitik.

Nennen Sie bitte Zahlen, die diese kontinuierliche Pharmakologisierung untermauern.

Günter Amendt
Die These von der Pharmakologisierung des Alltags stützt sich auf allgemein zugängliche Quellen, wie die Geschäftsberichte der Pharmaindustrie, die Berichterstattung der Wirtschaftspresse und den jährlichen Report des Suchtstoffkontrollrates der Vereinten Nationen, der für diese Entwicklung, die leichtfertige Verschreibungspraxis der Ärzte und die Parallelproduktion der Pharmaindustrie zur Belieferung des illegalen Marktes verantwortlich macht. Das im Detail darzustellen, würde den Rahmen eines Interviews sprengen. Hinzu kommt, dass der Medikamentenhandel sich zunehmend in der Grauzone von Legalität und Illegalität abspielt. Denken Sie nur an den Handel im beziehungsweise über das Internet, wo Viagra der Renner ist. Viele Vertreter der Pharmabranche geben unumwunden zu, dass sie daran arbeiten, bestimmte Stoffe vom Image eines Medikamentes zu befreien und unter dem großen Dach des Life-Style-Segments zu vereinen. Das beginnt bei der Vitaminpille und führt zur Raucherentwöhnungspille, der Verhütungspille vor und nach dem Geschlechtsverkehr, der Entfettungspille, der Potenzpille und endet bei angstlösenden Pillen und Antidepressiva. Hinzu kommt die breite Palette der Anti-Aging-Produkte. In einer Analyse des Pharmamarktes bescheinigt das Wirtschaftsmagazin „Capital“ den Life-Style-Produkten ein „sicheres Wachstum“. Lag der Umsatz im Jahr 2000 noch bei 19,5 Milliarden Dollar, so sei für 2010 mit einem Umsatz von 41 Milliarden Dollar zu rechnen.

Der chemisch optimierbare Mensch

Was sind die Konsequenzen der Ausweitung dieser Pillenzone? Was spricht dagegen, dass sich Menschen mit geeigneten Mitteln Alltag oder Freizeit gestalten? Das gab es doch schon immer.

Günter Amendt
Dagegen spricht, dass viele Pillen nicht die Wirkung zeigen, die sie versprechen, dass sie Nebenwirkungen haben, die nicht tragbar sind, und dass sie über ein Suchtpotential verfügen, welches die Konsumenten abhängig macht. Darüber hinaus hat die Ausweitung der Pillenzone eine gesellschaftliche Dimension, die man nicht vernachlässigen sollte. Wenn Heranwachsende schon in frühester Kindheit daran gewöhnt werden, alle körperlichen und psychischen Probleme mit Hilfe einer Pille zu regeln, wird das Hirn so programmiert, dass die Fähigkeit, Probleme aus sich heraus zu lösen, verloren geht. Eine Jugendbefragung in Luxemburg hat herausgefunden, dass die Bereitschaft, illegale Substanzen wie Ecstasy und andere sogenannte Partydrogen zu schlucken, um so größer ist, je mehr Vorerfahrung die Betreffenden mit Pillen und Tabletten in ihrer Kindheit hatten. Der routinierte Griff zur Pille schließt die Bereitschaft ein, sich mit der Bekämpfung von Symptomen zu begnügen, und nach den Ursachen der Müdigkeit, des Stresses, der Antriebslosigkeit, des Schmerzes, der Traurigkeit, der Angst und der Depressivität nicht mehr zu fragen. Das führt zu einem Verlust aller gesellschaftlichen und politischen Bezüge.
Ich kann mich auch hier nur wiederholen: „Die schrankenlose Pharmakologisierung des Alltags führt dazu, dass wir den Menschen nicht mehr als soziales, sondern als manipulierbares und chemisch optimierbares Wesen wahrnehmen.“ Wem das keine Probleme bereitet, der ist bei den Sozialingenieuren der Pharmaindustrie gut aufgehoben.

In welcher Hinsicht hängen das ungebändigte Doping im Sport, die fortschreitende Pharmakologisierung des Alltags und der vehemente Pilleneinwurf der „Raving Society“ zusammen?

Günter Amendt
Den übermäßigen Konsum von Amphetamin und Amphetaminderivaten, wie des in der Raver-Szene so beliebten MDMA, habe ich schon immer als eine Form von Alltagsdoping verstanden. Insofern besteht da ein Zusammenhang. Die außerordentlichen körperlichen Leistungen, die sich ein hard-core Raver zumutet, verlangen nach einem Antriebsmittel. Freizeit ist Arbeitszeit, wobei der Energieverbrauch im Freizeitsektor oft weit über dem im Berufs- und Schulalltag liegt.

Die Raver-Generation der 90er Jahre hat die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins eliminiert

Die „psychedelische Bewegung“ der 90er sah – wie Teile der 68er-Generation – den „Weg nach Innen“ als die erfolgversprechende Variante zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse an. War das ein Trugschluss?

Günter Amendt
Es ist durchaus nicht abwegig, die 60er Jahre als das Jahrzehnt der Drogen zu bezeichnen. Doch anders als der öffentliche Diskurs glauben machen will, waren nicht Haschisch, Marihuana und LSD die damals bestimmenden Drogen, es war die Einführung von Valium und artverwandten Stoffe, die alle auf die Beeinflussung des Zentralnervensystems zielen, welche die 60er Jahre zu einem Drogenjahrzehnt machten. Was die 68er Generation betrifft, so gab es drei Strömungen in der Drogenfrage. Große Teile der Linken lehnten jeden Gebrauch von Drogen rundweg ab – dabei ging es vorwiegend um Cannabis und natürlich nicht um Alkohol. Unter den Drogenbefürwortern waren solche, die synthetische Drogen grundsätzlich ablehnten und solche, die für deren Gebrauch eintraten – dabei ging es vor allem um LSD und andere Trips. In der politisierten LSD- und Kifferszene war der Gedanke populär, mit Hilfe von drogenindizierter Bewusstseinsveränderung oder gar Bewusstseinserweiterung gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Ich persönlich habe davon nie viel gehalten. Es ist jedoch unbestreitbar, dass sich die kollektive Drogenerfahrung jener Jahre in der Wahrnehmung der Gesellschaft niedergeschlagen hat. Ein Beispiel ist die veränderte Wahrnehmung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die wiederum Rückwirkungen hatte auf das sich in den 70er Jahren entwickelnde ökologische Bewusstsein. Zwischen der 90er Jahre Partyszene und der 68er Szene sehe ich nur wenige Gemeinsamkeiten. So viel ist aber sicher, die Raver-Generation der 90er Jahre hat es geschafft, unter den Jungen von heute die letzten Reste eines chemiekritischen Bewusstseins, das sich in den 70er Jahren herausgebildet hatte, zu eliminieren.

Aber auch unter den jungen Drogennutzern gibt es doch den Trend „Zurück zur Natur“. Ephedra statt Ecstasy, Coffein anstelle von Speed, lieber Kiffen als Koksen und Psilos seien besser als LSD. Was ist davon zu halten?

Günter Amendt
Auch ich habe diesen Trend registriert und interpretiere ihn als Abwehrreflex auf das, worum es in diesem Interview unter anderem geht – die schleichende Pharmakologisierung des Alltags. Diesem „Zurück zur Natur“ liegt die Erfahrung zugrunde, dass Drogen besser beherrschbar – sprich: besser dosierbar – sind, deren Rauschwirkung einzig auf dem Wirkstoffgehalt der Pflanze beziehungsweise auf einem Gärungs- und Fermentierungsprozess beruht. Schon vor Jahren bin ich in den Wäldern Nordkaliforniens auf eine Gruppe von Hippies gestoßen, die ihr Interesse an Rauschsubstanzen in Einklang mit ihrem ökologischen Bewusstsein zu bringen versuchten und deshalb alles Synthetische vehement ablehnten. Bezogen auf die Gesamtzahl aller Drogenkonsumentinnen und Konsumenten, handelt es sich hierbei jedoch um eine kleine Minderheit ökobewusster User. Hinzuzufügen wäre, dass auch der Konsum von psychoaktiven Pilzen und anderen Naturdrogen Risiken beinhaltet, die zu verringern Erfahrungswissen und die Bereitschaft sich zu informieren erfordert.

Der „Krieg gegen die Drogen“

Sie haben sich jetzt über 30 Jahre mit Drogen und Drogenpolitik beschäftigt und die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Prohibition erforscht. Trauen Sie sich eine Prognose zu, wie lange Deutschland und wie lange andere Länder noch am Dogma des Drogenverbots festhalten werden?

Günter Amendt
Das Ausmaß der Irrationalität in der drogenpolitischen Auseinandersetzung ist bedrückend. In meinem Buch habe ich Vorschläge gemacht, wie das so genannte Drogenproblem zu entschärfen wäre. Mit meinen Vorschlägen stehe ich im Kreis der internationalen Drogenfachleute nicht alleine. Auch bin ich davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den meisten westeuropäischen Staaten einen drogenpolitischen Kurswechsel mittragen würde, etwa in der Frage der Cannabis-Legalisierung. Das Problem ist die Politik. Die Zeichen stehen auf Kontrolle und Repression. Große Teile der politischen Klasse bis tief hinein in die Sozialdemokratie will sich diesen Repressionsknüppel nicht aus der Hand nehmen lassen. Drogen sind noch immer ein hoch emotionalisierendes Thema. Mit dem Angstpotential, das dem Thema innewohnt, lässt es sich politisch gut spielen. Doch die Hauptverantwortung für die herrschende Drogenpolitik, die ich für eine der gravierendsten Fehlentwicklungen des Globalisierungsprozesses halte, trägt die US-Regierung, egal welche Partei gerade den Präsidenten stellt. Drogenpolitik ist ein Instrument der US-amerikanischen Außenpolitik, der „war on drugs“ ein Übungs- und Rekrutierungsfeld der US-Geheimdienste. Voraussetzung für einen Kurswechsel wäre das Eingeständnis, dass der mit terroristischen Mitteln geführte „war on drugs“ gescheitert ist, soweit es um den Kampf gegen Drogen geht. Doch es geht eben um mehr. Es geht um die Sicherung von Einflusssphären, die militärische Kontrolle von Unruhegebieten, die Sicherung von Ölbohrstellen und von Verkehrsverbindungen. Das alles im Namen des „war on drugs“. Solange die in der UN versammelte Weltöffentlichkeit diesen Krieg aktiv mitträgt oder teilnahmslos geschehen lässt, wird das Prohibitionstabu, aus dem dieser Krieg seine Legitimation bezieht, nicht angetastet werden. Darauf wird man noch lange warten müssen.

 

Literatur:
Günter Amendt: No Drugs. No Future. Drogen im Zeitalter der Globalisierung. Aktualisierte Neuausgabe 2004. 207 Seiten plus 48-seitige Beilage, Frankfurt a.M.: 2001, 15,90 EUR.

* Nachtrag 15. März 2011: Günther Amendt verstarb am Samstag, dem 12.3.2011, bei einem Autounfall in Hamburg Eppendorf. Damit fehlt eine der wichtigsten Stimmen für eine genauso vernünftige wie menschliche Drogenpolitik. Amendt war scheu und zugleich im persönlichen Umgang von ausgesprochener Herzlichkeit, immer an der Sache interessiert, den Blick auf das Ganze gerichtet, nämlich die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse, in denen Drogen und Medikamente konsumiert werden. Er nahm eine einmalige Stellung ein, nie zu nah an den Apologeten eines übermäßigen Konsums, die von globalen Drogenkultur reden, aber das irre Zuballern der vereledeten Randgruppen gerne übersehen. Und ein überzeugter Gegner einer Drogenverbotspolitik, die alles nur noch schlimmer macht. Mit Amendt ist ein Mann mit profunden Wissen aus dem Leben gerissen worden. Es ist nicht zu sehen, wie diese Lücke wissenschaftlich und menschlich geschlossen werden kann.

 

 

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Mit Alex Jolig und Sam auf den Azoren

Showdown zur Glaubwürdigkeit

Vom Versuch sich zu vermarkten ohne sich selbst zu verkaufen. Mit „Container-Alex“ und seiner Freundin Sam auf den Azoren.

Es war ein „ganz normaler Sonntag“, wie Sam versichert, als Alex ihr einen Heiratsantrag machte. „Wir waren auf dem Weg vom Sonnenstudio in die Videothek, da sagte der Alex, dass heiraten ja auch nicht schlecht wäre.“ Sam will gerade mit der romantischen Geschichte fortfahren, aber die Dame von RTL ist nicht zufrieden und sagt deshalb „Schnitt, noch mal, bitte.“

Urlaub in der Wetterküche Europas, auf den Azoren, einer Inselgruppen auf halben Wege zwischen Europa und Amerika. „Container-Alex und Sam zur Verlobung auf den Trauminseln“, so sollen die Headlines prangen und darum hat die Tourismus-Zentrale der Azoren geladen. Seit Jahren stagniert der Touristenstrom, zusammen mit einer Münchener Medienagentur sind daher das Ziel und die Mittel festgelegt worden: Das Glamour-Paar soll den Bundesbürgern die Inseln wieder schmackhaft machen. „Promotion“, nennt sich das. Die Presse und deren Opfer kommen in einem Ressort an der Steilküste unter, wunderschön gelegen, ein aparter Erich Honecker-Charme durchweht die Räume und die Servietten sind stets aus gestärkten Leinen.

Alle verstehen sich gut, menschlich sowieso, denn Alex und Sam sind handzahm. Aber auch dienstlich probt man den Gleichklang. Den einen geht es um die Erhellung von mausgrauen Alltags-Wohnzimmern, um die Übertragung des Glanzes eines bunt-schillernden Pärchens auf abgeschuftete Gesichter. Den anderen geht es einfach darum, einen steten Platz im kollektiven Tratsch-Gedächtnis der Gesellschaft zu ergattern, dort zu hocken, wo Boris, Babs und Bohlen sich schon räkeln. Freizeit oder Arbeit? Das bleibt die nächsten Tage unklar, denn das Programm ist dicht gestrickt. Ab jetzt beobachten die mitgereisten Medien jeden Schritt der beiden. Das vierköpfige Kamerateam filmt für RTL-Explosiv, der einsame Journalist schreibt eifrig Notizen in seine Kladde. Erste Station: Der Hafen von Vila Franca, ein sechs Meter Schlauchboot. Es geht hinaus aufs Meer, „Dolphin-Watching“. Die kleinen Racker sind tatsächlich zugegen, ein 30 Tiere großes Rudel Fleckendelphine durchpflügt plötzlich das lauwarme Wasser. Der Bootsmann gibt Gas, den Kindern der Schaumkronen bringt die Geschwindigkeit von fast 80 Stundenkilometern sichtlich Spaß. Ein Delphin schießt sich drei Meter hoch und setzt eine Mords-Arschbombe ins Wasser. Die Kamera läuft, ein gewagter Schwenk zwischen Sams Beine. „Wir brauchen einen O-Ton!“, bestimmt die Frau von RTL. Also raus das Mikro: „Ein tolles Erlebnis“, sagt Sam. Danke, Schnitt.

Nächster Drehtort: Eine Kirche am See. Die Stimmung wird romantisch, Sam und ihr „Großer Bruder“ knutschen. Das Problem dabei: Der Azoren-Plot wird zunehmend beschaulich, dies will kein Programmdirektor sehen. So würde es hier niemand formulieren, aber eigentlich müssen entweder die Titten von Sam ins Bild, Alex sich beim Rafting einen Fuß brechen oder die beiden über ihre Erfahrungen mit Analsex plaudern. Soweit sind die Konstrukteure des medialen Vollgenuss´ auf ihrer Suche nach einer heißen Story hier erfreulicherweise noch nicht. Gleichwohl kann sich das B-Promi-Traumpaar nie sicher sein, ob die sie ständig umschwirrenden Medienvertreter nicht letztlich nur auf einen vielleicht neuen, sicherlich aber schäbigen Skandal warten.

Abendessen, der 1963 geborene Alex betritt der Raum. Eine mannhafte Mischung aus Zorro und Marlon Brando, Panzerkette um den Hals, Silberkette ums Handgelenk. RTL, Schreiberlinge und das verlobte Paar sitzen alle wieder an einem Tisch. Privatsphäre? Davon bleibt zunehmend wenig, denn Sam erzählt mit Begeisterung von Ereignissen aus Pool und Bad.

Brandy, eine Zigarre, kommod lehnt sich Alex zurück. Mittlerweile sitzt man in der Bar des Caloura-Hotels, die Lampen sehen aus als wären sie vom blinden Bruder von Verner Panton designt, rote Cordhocker bevölkern den kleinen Raum, hinter uns eine grob gemauerte Wand. Es dünkt, als dass gleich die unsichtbare Fahrstuhltür aufgleitet und Fantomas heraustritt. Das Meer, ja, das mag er, die fast unendliche Weite. Sein Wunschtraum? „Ein Bötchen“, sagt er bescheiden, „und dann rund um die Welt segeln.“ Meine fade Entgegnung: „ich steh ja mehr auf Berge“, lässt ihn schlingern; „ja“, sagt er, „Berge wären auch nicht schlecht“.

Er braucht die Medien, denn sie waren es, die ihn zu einem Macho, zu einem Diplomatensohn mit Heckspoiler stilisiert haben, niveauvoller als Slatko, aber eben doch nur ein Emporkömmling aus einer Reality-Soap. Im Zweifelsfalle konnte man ihn zu Talkshows einladen, um seine musikalischen Gehversuche, sein Filmauftritte oder seine Liaison mit Jenny Elvers zu belächeln. Der Mensch Jolig, der blieb dabei uninteressant, nur sein Image zählte.

Schon die Authentizität der 24-Stunden Kamera in der blechernen Big-Brother Beziehungskiste war nur eine Scheinbare. An den Mischpulten des Fernsehsenders wurde sehr genau darauf geachtet, welche Bilder über den Äther gingen. Die Damen putzten das Klo, während Alex in Macho-Pose mit Hand im Schritt auf dem Sofa schwieg. „Ich habe genau so im Haushalt gearbeitet wie alle anderen auch“, sagt Alex heute. Zu spät, die Zuschauer waren schon lange auf dem ersten kollektiven Voyeurismus-Trip der Nachkriegsära hängen geblieben. Höhepunkt des visuellen Saugens von platten Oberflächen war sicherlich, als die verliebte Kerstin dem guten Alex vor laufenden Nachtsicht-Kameras einen geblasen hat. Darauf hatten alle nur gewartet.

So entstand das Image vom attraktiven Pascha, der mit dem Motorrad unterm Arsch das pralle Leben in vollsten Zügen genießt. Darunter leidet er, mittlerweile ein wenig mehr als früher, denn ewig will er den Ballermann nicht mimen. Aber er ahnt, dass ein Star nur das ist, was über ihn bekannt wird – egal, ob dies wahr oder falsch, wichtig oder unwichtig ist, ganz egal auch, ob es dem Menschen dahinter gerecht wird. Aber im Gegensatz zu echten Stars bleibt bei vielen medialen Produkten des neuen Jahrtausend zunehmend unklar, weshalb sie überhaupt ihre exponierte Position in der Öffentlichkeit einnehmen.

Jenny Elvers, Ariane Sommer, Verona Feldbusch oder „Party-König“ Michael Ammer: Die Basis dieser Menschen, der „Rohstoff Person“, ist dünn, das um sie entwickelte Zeichensystem umso fragiler. Im Zeitalter des ungebrochenen Talkshow-Hypes sind diese Darsteller die Endprodukte der „Kultur der Schamlosigkeit“, wie der us-amerikanische Medientheoretiker Joshua Meyrowitz den Kult um die authentische Selbstoffenbarung nennt. In diesem Kult reklamiert der Einzelne Beachtung für sein Empfinden, seine Vorlieben und Abneigungen aus keinem anderen irgendwie einsehbaren Grund als der offensiven Freimütigkeit, mit der er seine Befindlichkeiten öffenlich zur Schau stellt. „Seht her, denn ich steh´ nur auf Männer mit Glubschaugen!“

Diese Intimisierung bleibt nicht ohne Folgen für die Teilnehmer, gibt sie doch den Medien die Möglichkeit in die Hand, je nach Gutsto ihre Sittengerichte als Lustspiel oder Melodram zu kreieren. So stellt sich für die Promis die Frage: Wie im Gespräch bleiben ohne zum Gespött zu werden? Darüber grübelt Alex nach, darüber grübelt Sam nach. Was bleibt, ist ein dickes Fell.

Das illustre Gespann bietet sich aber aus noch einem anderen Grund dazu an, als stets beladbarer Container für Hohn und Spott herhalten zu müssen. Hinter den beiden steht keine mächtige Plattenfirma, kein großer Industriekonzern, der den Medien mit dem Entzug der Werbeschaltungen drohen kann. Das Magazin, welches sich dagegen allzu ungeniert verlogen über die sexuellen Vorlieben von Julio Iglesias äußert, nun, das darf mit einen Telefonanruf aus der PR-Abteilung von Sony rechnen. Dabei sind Alex und Sam wahrlich keine Witzfiguren, es sei denn, man hält die normalen Typen aus Nachbarschaft für unbedingt verarschenswert. Sam, 26, gerne keck, manchmal dreist, erinnert an an das gutaussehende Mädchen, das jeder noch aus seiner Schule kennt, als denn an ein blondes Luder, zu dem sie die Klatsch-Postillen gerne generieren. Alex ist freundlich, hilfsbereit, jovial. Er packt bei den Koffern mit an, er begrüßt die Kutscher, er streichelt die Pferde, und er tut dies auch, wenn die Kameras nicht in der Nähe sind. Als Paar sind sie in erster Linie verliebt, zudem aber zunehmend entsetzt darüber, wie die Presse mit ihnen umgeht. „Die machen mit uns was sie wollen.“ Nach dem zweiten Brandy schlägt Alex deshalb vor, man solle mal was „über den Menschen Alex Jolig“ schreiben. Darüber, weshalb er in den Container gegangen sei. Seine damalige Sinnkrise habe bisher noch niemanden interessiert. „Ich war so fertig mit mir und dem Leben, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder ich gebe mir die Kugel oder ich gehe ins Kloster.“ Ob er durch 68 Tage mit den Ordensbrüdern Slatko und Jürgen zu sich selbst gefunden, das lässt er am Ende des Abends offen. Er will nicht wahr haben, dass selbst eine Personality-Story im Stile von Margot Dünser oder Michael Steinbrecher nur eine neue Inszenierung wäre, eine neue Konstruktion von Glaubwürdigkeit; gut vielleicht, um einen Imagewechsel herbei zu führen, aber wahrscheinlich kein Stück näher an seinem subjektiv empfundenen Selbstbild.

Frühstück, dann die nächste Station: Eine Hazienda im Inselinneren, auf der stolze Rösser ihr Stroh futtern. Der käseweiße Verwalter deutet uns als Überfallkommando und gibt sich zugeknöpft. Sam entdeckt schnell einen stattlichen Gaul in den Boxen, der Cowboy aber deutet auf eine 21-jährigen Mähre mit Karies. Der Gedanke, dass Alex einen seiner Klepper wohlmöglich von hinten besteigt, treibt ihm die Schweißtropfen auf die hagere Brust. Egal, RTL will bunte Bilderchen und Hans Alexander Jolig soll jetzt reiten. Also ausziehen. Sam schlüpft in enge Jeans, Alex zwängt sich in eine Military-Tarnhose und ein zu enges T-Shirt. „Mist, beim Einsammeln in diesen Show-Rooms weiß man nie so ganz genau, ob die Klamotten später passen.“ Der Rücken vom Klepper biegt sich so sehr durch, dass die Bauchdecke fast den Boden streift, Alex ist nicht besonders glücklich mit seiner Haltung. Zu allem Überfluss will das RTL-Team Alex verkehrt rum auf dem Pferd sehen, ein wahrhaft explosiver Gag. Der portugiesische Cowboy ist dermaßen begeistert, dass die Stimmung endgültig im Keller ist. RTL fordert wieder O-Ton. Das Wuschelmikro schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Paar, „Kamera läuft“, die Zwei geben sich begeistert. Ja, toll sei es, dass Sam ihm das Reiten beibringe, nein, nie würde er seine motorisierten gegen diese eine Pferdestärke aufgeben. „Wir wollten mal weg von dem Trubel“, spricht er dann noch, während das Kamerateam und die Pressebegleitung im Hintergrund stehen. Schnitt.

Und so geht es weiter mit dem Event-Hopping. Von schwefelhaltigen Dampfterrassen, Massagezentren und anderen Spa-Einrichtungen, über Teefabriken ohne sichtbar lebende Teepflanzen, bishin zur einheimischen Grützwurst mit Schweinefleisch, alles sechs Stunden im Erdloch gebacken und nur mit Senf zu genießen. Aus dem vermeintlichen Urlaubs-Trip wird ein für alle stressiges Ereignis. Inmitten des auf Zelluloid gebannten Wahnwitzes taumeln Sam und Alex – gebeutelt von den Anforderungen und manchmal recht verloren dastehend. Dann nimmt Sam die Hand von Alex, drückt sie und fragt lächelnd: „Alles Roger in Kambodscha?“