Kategorien
Drogenpolitik

Abstinenz:– von der christlichen Idee zur Richtlinie der Politik

Hanfblatt Nr. 119

Wie die strenge Enthaltsamkeit zum Leitbild der modernen Drogenpolitik wurde

Die zentrale Bedeutung und zugleich Zweischneidigkeit des Abstinenzgedankens wird in der aktuellen Diskussion um die Heroinabgabe an Schwerstabhängige sehr deutlich. CDU/CSU wehren sich seit Jahren gegen die Abgabe, weil, so beispielsweise die drogenpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Maria Eichhorn (CSU), „die Heroinbehandlung zu einer Dauerabgabe des Suchtstoffs führt, das Ziel der Abstinenz wird dabei aus den Augen verloren“. Das Ideal der Enthaltsamkeit wird also über die menschenwürdige Behandlung der Patienten gesetzt. Warum?

Weil, so antwortet die abstinenzorientierte Therapietheorie, die Abstinenz für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen prognostisch die besten Aussichten bietet. Zugleich sei nur der von der Drogen entwöhnte Patient überhaupt in der Lage eine Therapie anzutreten. Die akzeptierende Drogenarbeit weist dagegen darauf hin, dass es auf der praktischen Ebene darum geht, den Drogengebrauch derer zu akzeptieren, die ihren Konsum derzeit nicht aufgeben wollen oder können.

]]>

Breitet man das Abstinenzparadigma über den Kreis der Schwerstabhängigen aus, muss man sich über den neuen Steuermann im klaren sein, den man sich dort an Bord holt. Dieser visiert ein weit entfernt liegendes Ziel an, nämlich die gänzlich drogenfreie Gesellschaft – auch wenn damit nur die illegalen Drogen gemeint sind. Nun spricht nichts dagegen einem Ideal zuzustreben, solange die Kolletaralschäden auf dem Weg nicht zu groß sind. Eine völlige „Suchtmittel“-Freiheit impliziert jedoch nicht nur den totalitären Staat, der mit seinen Überwachungsorgangen darauf achten, dass alle schön brav sind. Mehr noch beraubt sie sich der Potentiale, die in der korrekten Anwendung von „Drogen“ stecken.

Ein Blick in der Historie der Abstinenzidee zeigt ihre gleich mehrfache Verquickung: Eine Verquickung mit christlich orientierten Glaubensgeboten, eine Verquickung mit protestantischem Arbeitsethos und eine Verquickung mit der Ideal der ständigen Selbstkontrolle.

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass das Problem der „Sucht“ ein neues ist. Bis in die Neuzeit hinein gibt es weniger Hinweise darauf, dass Menschen Abhängigkeitserscheinungen zeigten. Gleichwohl galt beispielsweise Alkohol schon immer als Droge, die soziale Probleme versursachen kann. Das griechische Schriffttum ist voll von kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und dem Lob der Mäßigung. Schon damals wurde vor der Trunksucht gewarnt. Allerdings wurde Wein meist nur verdünnt getrunken. Gesetze gegen Drogenkonsum gab es kaum.

Während des 16. Jahrhunderts nahm besonders in Deutschland die Sorge zu, die Menschen würden zuviel trinken. Ganze Bücher erschienen, entweder, um das Saufen zu loben oder aber es zu verdammen. Andere Drogen waren von diesen Auseinandersetzungen nicht betroffen. Luther kam 1520 zu dem Schluss, dass das Laster der Trunksucht mit geistlichen Worten nicht beizukommen sein und das möglicherweise die weltliche Macht einschreiten müsse.

1606 wurde in England Trunksucht das erste Mal zu einen Verbrechen erklärt. Es ist bis heute unklar, tatsächlich viel mehr getrunken wurde als früher, oder aber ob die Verbreitung des Buchdrucks nur die Beschreibng des trunkenen Alltags förderte. Zugleich gab es lange eine breite Verwendung von Alkohol als Medizin. So galt der gegeißelte Brandwein eben auch als universelles Therapeutikum, als aqua vitae (Lebenselixier).
Bei der Verbreitung der Alkohol-Probleme spielten die technischen Möglichkeiten, namentlich die Destillation, eine Rolle. Damit konnte der Alkoholgehalt von rund 15% auf 50% gesteigert werden. Sie verbreitete sich seit dem 13. Jahrhundert langsam in Europa. Ein Phänomen, das sich seither bei Drogen immer wieder zeigt: Die Purifizierung bringt Probleme der Dosierung mit sich. Die Gin-Epidemie in England (um 1750) rief der Gesetzgeber auf den Plan. Gleichzeitig gab es Freischnaps für die Matrosen, später wurden den Fabrikarbeiter ein Teil des Lohnes in Branntwein ausgezahlt.

Es entstand das, was heute „Elendsalkoholismus“ genannt wird. Zwischen 1850 und 1900 rief diese soziale Akteure auf den Plan, die die Geschicke der Drogenpolitik bis heute beeinflusst: Die Abstinenzbewegung (temperance movement). Aus ihrer Sicht war die Ursache des Elends der unteren Klassen weniger in ihrem unterdrückten Zugang zu den Produktionsmitteln (Marx) oder der Ausbeutung durch die Unternehmer zu sehen, sondern im allein im Alkoholkonsum. Grund für den Konsum sei mangelnde Tugendhaftigkeit, also die fehlende Orientierung an höheren Zielen, namentlich Gott. Die fest im Christentum, (in den USA vor allem im Methodistentum) verankerte Abstinenzbewegung geißelte den Alkohol als Teufelswerk und konstruierte einen klassischen Sündenbock.

Der Virus griff schnell um sich. Die Guttempler wurden 1851 in den USA als Abstinenzorganisation unter dem Namen „Order of Good Templars“ gegründet. Weitere Organisationen schossen in den USA und in Europa aus dem Boden. 1869 gründete sich in den USA die „Prohibition Party“, vier Jahre später die „Woman’s Christian Temperance Union“, wieder später ging daraus die „Anti-Saloon League“ hervir. Man darf die Rolle der damaligen organisierten Erregungsclubs nicht unterschätzen: Die Liga der Abstinenten war eine der wichtigsten sozialen Bewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und Europa. In der Schweiz waren beispielsweise 60.000 Menschen in Abstinenzvereinen organisiert. Der einflussreiche Baseler Psychologie-Professor Gustav von Bunge fordert 1880 ein Alkoholverbot für die gesamte Bevölkerung.

Die Nachricht an die Menschen war klar, gegen den Alkohol gäbe es nur eine Kur: „Abstinenz für den einzelnen und Prohibition für das Volk“ (T.S. Arthur). So glitten nicht nur die USA, sondern auch Norwegen, Finnland, Russland und weitere Länder durch die Abstinenzbewegung in ihr größtes drogenpolitisches Abenteuer: Die Prohibition. Der Ausdruck bezeichnet heute meist die Zeit zwischen 1920 und 1933 in den USA, in der der Konsum von Alkohol verboten war.

schild

Nebenbei bemerkt: Ganz erfolglos war die Prohibition ja gar nicht: In der Arbeiterklasse ging der Alkoholkonsum tatsächlich drastisch zurück. Er erhöhte sich allerdings unter Jugendlichen und Frauen im eher mittelständischen Millieu. Und natürlich gebar den Schwarzmarkt miesen Fusel und förderte die Kriminalität. Mit dem Ende der Prohibition verschwanden die Parteien und viele Organisationen, manche, wie die Guttempler und das Schweizer Blaue Kreuz, sind geblieben und predigen noch heute Wasser. Ohne die soziale Arbeit, die die Vereine bis heute leisten, diskreditieren zu wollen – ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund ist dem Ideal der christlich motivierten Selbstkontrolle verpflichtet. Das Überwinden der Schranken der Zivilisation ist alleine auf Gottes Wegen erlaubt. Von daher steht der Rausch in schlechtem Ruf bei ihnen.

Aber die Abstinenzidee speist sich nicht nur aus der Abstinenzbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern zumindest bei temporärer Ausführung auch aus der sehr viel älteren Idee, mit den Produkten der Natur bewusst umgehen zu müssen. Das umfasst nicht nur Arzneimittel, sondern auch die Nahrung. Noch heute zeugt die Fastenbewegung von einer Mäßigungskultur, die sich als Gegenpol zur Überflussgesellschaft und weniger als Zuarbeiter gesamtprohibitiver Bestrebungen sieht.

Und es stimmt ja auch: Enthaltsamkeit ist kein grundsätzlich schlechter Berater, im Gegenteil. Das Lossagen von den Dingen ist nicht nur spirituelle Übung der Asketen, sondern überlegenswerte Strategie gegen die ewigen Konsum- Aufforderungen, aber auch psychosozialen Anforderungen durch Staat, Freunde und Verwandte. „Nein“ sagen fällt vielen schwer.

Um zu dem anfänglichen Beispiel der Heroinabgabe zurück zu kommen: Abstinenz kann kein erstes Behandlungsziel sein, die Rückfallquote ist einfach zu hoch. Auf der anderen Seite ist eine Rückkehr in den kontrollierten Konsum verwehrt. Abseits von Therapietheorie und Praxis trägt die Idee der Abstinenz allerdings nicht lange und sollte durch einen Begriff wie „mündiger Verzicht“ ersetzt werden.

 

Kategorien
Mixed

Der mobile Kunde im Visier

Telepolis, 08.12.2005

Ein jetzt veröffentlichter Städte-Atlas macht Passanten-Werbung zielgenau

In einem fast drei Jahre dauernden Entwicklungsprozess und geschätzten Projektkosten von über einer Million Euro erstellten das Fraunhofer Institut für Autonome Intelligente Systeme ( AiS (1)) und der Fachverband Außenwerbung ( FAW (2)) einen „Frequenzatlas“ für die großen Städte Deutschlands. Mit ihm lässt sich sehr genau feststellen, wie viele Konsumenten sich an welchem Punkten der Stadt bewegen.

Der Atlas vereinigt eine Fülle von Daten: So fließen kommunale Verkehrszählungen ebenso mit ein wie Angaben über die Bevölkerungsdichte, Einkommensstruktur, Kfz-Aufkommen, Theater oder Restaurants. Basierend auf den Kartendaten der Firma „NavTeq“ existieren für jeden Straßenabschnitt in großen deutschen Städten nach Fahrtrichtung getrennte Frequenzklassen für die Bewegungen von Fußgängern, Kraftfahrzeugen und Öffentlichen-Personennahverkehrsmitteln.

 

Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW
Ausschnitt aus dem Frequenzatlas. Bild: FAW

 

 

Mit einer Software lassen sich aus der Datenflut die für den jeweiligen Anwender interessanten Daten extrahieren und auf einer Karte darstellen. Derzeit enthält das Data-Mining System 84 Städte ab 100 000 Einwohnern, Mitte 2006 kommen die Städte ab 50 000 Bürgern dazu. Für Frankfurt am Main, Düsseldorf und Hamburg lässt sich die Funktionsweise des Atlas‘ auf der Homepage des FAW testen (3).

Der Konsument, das flüchtige Wesen, bewegt sich trotz TV und Internet vor allem tagsüber in der Reichweite von Plakaten, Litfasssäulen und anderen Werbeträgern im öffentlichen Raum. Das Geomarketing analysiert Kaufgewohnheiten und Lebensweisen und hilft Unternehmen damit nicht nur bei der Wahl von Werbestandorten, sondern auch bei geplanten Filialeröffnungen. Wo sitzen Mitbewerber, wie ist die Anbindung an Autobahn oder ÖVPN, wo liegen Einkommensgrenzen? Auch Stadtplaner und Hersteller von Routenplanern sollen bereits Interesse am Frequenzatlas bekundet haben.

Die Medienwirkung und damit auch der Preis eines Plakates waren lange Zeit umstritten: Es existierte zwar seit rund zehn Jahren der sogenannte „G-Wert“ der Gesellschaft für Konsumforschung ( GfK (4)); dieser gab an, wie viele Passanten pro Stunden sich an ein Plakat erinnern konnten. Der G-Wert galt aber als unplausibel, da er oft ohne nachvollziehbaren Grund variierte und dementsprechend zu verzerrten Preisen führte.

„Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen“

Der Wert eines Werbestandorts ergibt sich nicht nur aus der Menge der Kontakte, sondern auch aus ihrer Dauer und Qualität. Anders ausgedrückt: An manchen Werbeflächen kommen zwar wenige, aber die richtigen Menschen vorbei. Im neuen G-Wert werden die Daten des Frequenzatlas berücksichtigt, der unter anderem auf der seit 1998 am AiS entwickelten Software „CommonGIS“ aufsetzt. So kann man beispielsweise eine Pralinenwerbung nur dort platzieren, wo ältere, kaufkräftige Personen wohnen. Das Verfahren lässt sich nicht nur auf Plakate, Riesenposter und Videoboards anwenden, sondern auch auf Geldautomaten oder Briefkästen. Mobilfunknetzbetreiber können sehen, wo es sich lohnt, Funklöcher zu schließen.

Vertrieben wird der Frequenzatlas von der DDS (5), einem der großen Anbieter von Geodaten. Je nach Kundenwunsch sind verschiedene Preismodelle möglich, zielen tut der Atlas aber vor allem auf Großkunden, die ohne Murren die rund 10.000 EUR für einen Datensatz zahlen.

Direkt in das System können keine zusätzlichen Angaben eingespeist werden. Erst über externe Programme können die Informationen aus dem Atlas mit internen Geschäftsdaten abgeglichen werden, so zum Beispiel mit Daten des Statistischen Bundesamts oder der beliebten Bonuskarten. Wer beim Erwerb einer solchen Karte die Formulierung akzeptiert hat, dass die Daten an „befreundete Unternehmen“ weitergeleitet werden dürfen, hat gute Chance, sich als Datensatz im Geomarketing wiederzufinden.

Auf besondere Aufmerksamkeit bei Außenwerbern stieß vor zwei Jahren eine Studie des Bundesverkehrsministeriums. Detailreich wurde in der „Mobilität in Deutschland“ genannten Erhebung nachgewiesen, dass die Deutschen gerne unterwegs sind: Wenn sie nicht gerade ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen (Essen, Fernsehen, Arbeiten), sind sie auf Achse. Fast die Hälfte aller Autofahrer ist zwischen 30 und 49 Jahre alt. Und wer unterwegs ist, schaut nicht fern, sondern Plakat. Diese mobile Generation liegt im Fokus der Branche, denn sie verfügt über einen oft hohen Bildungsgrad und Lebensstandard. Sie legt am Tag doppelt so große Strecken mit dem Auto oder zu Fuß zurück als ärmere Bevölkerungsschichten. Eine Konsumentengruppe wie aus dem Bilderbuch.

Georg Schotten, Direktor der Marktforschung beim Plakatwerber „Ströer“, denkt weiter: „Menschen fahren auf der Straße und werden von Plakaten erreicht, daher muss man sich mit dem Thema ‚Verkehr‘ und dessen innerer Logik sehr genau auseinandersetzen.“ Das Fachmagazin Werben und Verkaufen (6) jubelte schon im Juni diesen Jahres angesichts der Zusammenführung der Daten von Mobilitätsstudie, Marktforschungserhebungen, G-Wert und Verkehrsstrom-Information: „Vor einer entsprechend geplanten Plakatkampagne gibt es kein Entkommen. Zappen zwecklos.“ In Zukunft wird das Netz noch feinmaschiger werden. Dann soll, so hofft man beim FAW, nicht nur genau festgestellt werden, wo welche Menschen wohnen, sondern auch, warum sie sich wie bewegen.
Links

(1) http://www.ais.fhg.de/´
(2) http://www.faw-ev.de/
(3)
(4) http://www.gfk.de/
(5) http://www.ddsgeo.de/
(6) http://www.wuv.de/

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21482/1.html

 

 

Kategorien
Elektronische Kultur

Interview R.U. Sirius über sein Buch Countercultures trough the Ages

telepolis v. 5.12.2005

Spuren des Protests

Interview mit dem Veteranen des Cyberspaces, R. U. Sirius, über Gegenkulturen, die 60er Jahre und den “Do It Yourself”-Anspruch

Der Acid-Papst Timothy Leary hatte ihn einst auf die Idee gebracht eine Historie der Gegenkulturen zu schreiben. Ken Goffman, besser bekannt unter seinem Künstlernamen R. U. Sirius, nahm das ernst. In seinem Buch „Countercultures Through the Ages“ (http://www.counterculturethroughtheages.com/) erzählt Goffman nun die Geschichte des stillen und lauten Protests gegen den herrschenden Geist. Schon der Untertitel „From Abraham to Acid House“ zeigt: das zu beackernde Feld ist weit. Sokrates, die Sufis, die Troubadoure, die Pariser Bohemians, Zen-Mönche, die Hippies, die Cyberpunks. Spätestens seit Diogenes zu Alexander dem Großen sein „Geh mir aus der Sonne“ sprach, so stellt Goffman fest, stehen alle Autoritäten im Verdacht den Menschen das Licht der Kreativität und des Individualismus zu nehmen. Im Interview spricht Goffman über Strukturen und Bedingungen der Nicht-Konformität.

Telepolis
Was macht der Mainstream falsch, dass sich in allen Zeiten der Geschichte Gegenkulturen herausbilden?

Ken Goffman
Es gibt selbstverständlich keinen konsistenten Mainstream. Es gibt Überzeugungen, Verhaltensweisen und Rituale, die Menschen während bestimmten Zeiten und Orten miteinander teilen. Es existiert ein Impuls bei der Mehrheit der Menschen, die aktuell herrschenden Denkmuster und die des allgemein geltenden Daseins zu akzeptieren. Und es gibt die Interessen derjenigen mit Gestaltungsmacht, sei diese nun religiös, politisch oder wirtschaftlich, die im Erfolg damit haben die Menschen an ihre Ideen glauben zu lassen. Schließlich dient das der Machterhaltung. Auf der anderen Seite gibt es meist eine Minderheit von ruhelosen Personen, die die Dinge einfach anders sehen und den Mut haben dies auch auszudrücken. Durch Abweichung entsteht Fortschritt, kulturelle und ökonomische Dynamik, Kunst, politischer Wechsel. Oft wird die ehemalige Abweichung dann zum neuen Dogma.

Telepolis
Was einmal befreite, wirkt auf die nächste Generation immer schal?

Ken Goffman
Um das vorherrschende Paradigma herauszufordern, braucht es dann eine weitere, ruhelose Gruppierung oder Person. Ich denke, dies ist ein ewiger Kreislauf. Selbst Utopisten haben die Gegenkultur nötig.

Telepolis
In ihrem Buch haben sie das die “Tradition mit Traditionen zu brechen“ genannt. Was verbindet alle Gegenkulturen? Gibt es gemeinsame Werte?

Ken Goffman
Grundsätzlich wichtig ist erst einmal ein Infragestellen von Autoritäten. Der eigenen Autorität und Autonomie zu trauen, das ist das Nächste. Diese Selbstständigkeit führt zur einer Dezentralisation von dem, was Menschen Denken und Glauben. Diese Art neuer Individualismus muss sich von bloßem Egoismus unterscheiden. Die gemeinsamen Werte umfassen zudem Innovation in Kunst und Philosophie, das Fördern von Diversität, Großzügigkeit, vor allem im Teilen von Resourcen und Werkzeugen.

R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)
R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)

Telepolis
Wenn die Gegenkultur gezwungen ist die Regeln der Gesellschaft zu brechen, wie unterscheidet sie zwischen kulturell-politischer Evolution und einem blinden Aufstand, zwischen nötiger Veränderung und leichtfertigem Renitenz?

Ken Goffman
Es ist nicht immer ganz klar, wann man gegen die Zivilisation revoltieren und wann man sie zur vollsten Blüte bringen muss. Gegenkulturen zeichnen sich generell durch Kreativität und Ideenreichtum aus, selbst wenn sie in den Farben der wilden Revolte auftreten, wie beispielsweise die Dadaisten oder die Punks. Sie können kulturell barbarisch wirken und so aussehen, als ob sie der gutbürgerlichen Kultiviertheit im Wege stehen. Meist sind sie aber eher ein sehr fortgeschrittener Ausdruck von Kultur. Aber ohne Zweifel, ja, es gibt eine feine Linie zwischen dem Aufbrechen rigider Strukturen sowie dem Glauben daran, eine Kultur freier zu machen und dem Heraufbeschwören eines neuen, dunklen Zeitalters.

Telepolis
Traf es Bob Dylan, als er sang: “Um außerhalb des Gesetzes zu leben, musst du aufrichtig sein“?

Ken Goffman
Nun, das ist der Mythos vom hehren Outlaw, ein wunderbarer Mythos. Aber auch totale Drecksäcke kommen damit durch außerhalb der Gesetze zu stehen. Für alle von uns, die außerhalb der Regeln leben müssen, ist es gleichwohl wichtig ehrlich und voller guter Intentionen zu sein. Dennoch höre ich Dylan den Text ) lieber so singen, wie er ihn gemeint hat.

Telepolis
Dylan war Teil der Bewegung der 60er Jahre. War diese aus ihrer Sicht die wichtigste Gegenkultur des vergangenen Jahrhunderts?

Ken Goffman
Letztendlich wird der Geist des DIY (Do It Yourself), der als Teil der Punk-Bewegung in den 70er entstand, sich für einige Zeit als die wichtigste Transformationskraft erweisen. Dieser Geist pflanzte sich in der Cyberpunk-Bewegung der 80er und 90er fort und drückt sich heute in der Netzkultur aus, in der jede Person oder jede Gruppe ein multimedialer Sender ist. Er zeigt sich auch im Burning Man Festival (http://www.burningman.com/) und ähnlichen Zusammenkünften, bei denen jeder Mitwirkender und Künstler sein kann, und wir sehen ihn nicht zuletzt in der Kultur der “Open Source”, in der sich die Menschen weigern ihre Ressourcen auf monetäre oder proprietäre Interessen zu beschränken, wenn sie stattdessen etwas nützliches oder interessantes gestalten können. Sicher, dies alles greift auch auf den Geist der 60er zurück, aber diese wollten zu viel, nämlich eine komplett neue Gesellschaft, ohne vorher ihre DIY-Qualifikation zu entwickeln.

Telepolis
Die Lust auf psychoaktive Substanzen zieht sich als roter Faden durch die Gegenkulturen der Gegenwart. Wie wichtig sind diese für deren Entstehung und Entwicklung?

Ken Goffman
Die faszinierende Historie geistbewegender Pflanzen ist Thema für ein weiteres Buch. Es mag überraschen, aber der Gebrauch von Drogen spielte für die Gegenkulturen bis ins 20. Jahrhundert hinein nur selten eine Rolle. In früheren Zeiten ist es am ehesten noch der Sufismus, der auf psychedelische Drogen wie Haschisch und die damit zusammenhängenden Bewusstseinszustände referenziert. Der radikale Sufismus fordert dazu auf, die ausgefahrenen Gleise des alltäglichen Bewusstseins zu verlassen und wollte damit eine tiefere, geklärte Erfahrung der Welt ermöglichen. Bestimmte Drogen können bei diesen Bestrebungen helfen. Im Gegensatz dazu wollen Taoismus und Zen den Suchenden dazu anleiten, den beeindruckenden Frieden zu finden, der innerhalb (!) des alltäglichen Bewusstseins liegt, von daher sind sie weniger empfänglich für Psychedelika. Meine liebste Metapher für Drogen ist der “Filterwechsel vor der Wahrnehmungs-Kamera”. So erhält man ein anderes Bild der Realität. Jeder Veränderung des Bewusstseins, selbst diejenige mit Hilfe von Alkohol und Kokain, kann dich von deinem Standpunkt abbringen und zu neuen Einsichten führen. Deshalb nutzen sie Schriftsteller und Kreative manchmal, wenn sie denken, sie stecken gerade fest.

Telepolis
Sollten jemand den Kreationisten in den USA die Einnahme psychedelischer Drogen empfehlen?

Ken Goffman
Ich bin sicher, einige von ihnen haben sie genommen. Aber es gibt halt keine Erfolgsgarantie. Einige werden Fundamentalisten oder ultra-religiös. Mit Chaos, Komplexität und der Möglichkeit anderer Realitäten konfrontiert flippen sie aus und ergeben sich einem “Gott”, der ihnen das Seelenheil bringen soll.

Telepolis
Vorausgesetzt man will es wissen: Wie lernt man aus diesen Erfahrungen?

Ken Goffman
Ich zögere persönliche oder soziale Lektionen aus den Trips anderer Leute zu ziehen. Aber gut: Im weitesten Sinne wohnt diesen Erfahrungen das Potenzial inne, ein alternatives Belohnungssystem zu etablieren. Wenn wir uns für Abstumpfung mit Konsum belohnen, wenn unsere Suche nach intensiven Gefühlen zu sozialem Sadismus, Masochismus oder Krieg führt, wenn der größte Rausch für einige darin besteht Wettkämpfe zu gewinnen oder einen sexuellen Partner zu erobern; dann kann die psychedelische Erfahrung eine andere, eine bessere Entlohnung bieten. Manche Drogen schalten zeitweise das ewige Begehren ab und geben uns stattdessen einfache, aber gehaltvolle Freude. Diese Freude sitzt vielleicht in den neuralen Strukturen, der Epiphyse oder auch in Kräften außerhalb unseres Körpers, mehr oder weniger eng verknüpft mit unserem Bewusstsein. Oder wie mein Freund Zarkov, der psychedelische Investment-Banker, so gerne sagt: “Hey, es ist besser als Bowling”.

Telepolis
Wie sieht die europäische Gegenkultur zurzeit aus ihrer Sicht aus?

Ken Goffman
Ehrlich gesagt kenne ich mich da nicht aus. Ich nehme mal an es ist eine anhaltend große Minderheit, wahrscheinlich zu bequem, um aufzufallen.

Telepolis
Sehen Sie sonst irgendwo eine Gegenkultur im Geburtsstadium?

Ken Goffman
Sicher. Schauen sie nach Brasilien unter Lula, dort ist der Held des 60er – Tropicalismo, Gilberto Gil, Kulturminister. Dort wird “Open Source” adoptiert, im Sinne von Software und der Einstellung. In Mexiko herrscht ebenfalls eine starke Gegenkultur. Die Zapatisten gehören dazu, aber auch eher urbane Kulturen. Innerhalb der iranischen und chinesischen Jugend gärt es ebenfalls. Diese weltweiten Bewegungen haben vielleicht nicht die mediale Aufmerksamkeit wie die USA in den 60ern, aber sie sind da.

 


Unter dem Namen R. U. Sirius rührte Ken Goffman Ende der 80er Jahre mit am heißen Brei der entstehenden Cyberkultur. Er war einer der Herausgeber des Magazins Mondo 2000 www.mondo2000.com, einem subversiven Blatt, das über zehn Jahre lang Themen zwischen Hackertum, virtueller Realität und Techno-Utopien abdeckte. Autoren wie Bruce Sterling, William Gibson und Robert Anton Wilson schrieben für Mondo 2000, das als anarchischer Vorläufer des später erfolgreichen Magazins Wired (http://www.wired.com/wired/) gilt. Goffman ist zur Zeit Host von zwei Podcasts, „NeoFiles“ ) und die „R. U. Sirius Show“ (http://rusiriusradio.com).

Siehe zu dem Thema auch , eine Rezension zu dem Buch: „Nation of Rebels: Why Counterculture Became Consumer Culture“ von Joseph Heath and Andrew Potter.

Kategorien
Rezensionen

Rezension Wolfgang Schneider: Die „sanfte“ Kontrolle, Suchtprävention als Drogenpolitik

HanfBlatt Nr. 106

Irrweg Suchtprävention

Zwei Dinge hat sich der Drogen-Wissenschaftler Wolfgang Schneider in seinem neuesten Buch vorgenommen. Zum einen will er beweisen, dass die sogenannte „Suchtprävention“, also das frühe Verhindern von Abhängigkeit, ein Irrweg der Drogenpolitik ist. Zum anderen will er die Rolle der „akzeptierenden Drogenarbeit“ in diesem Konzept der „Suchtprävention“ aufzeigen und sie aus ihren Verstrickungen damit lösen.

Teils provokant-amüsant, teil verklausuliert beschreibt Schneider die Rahmenbedingungen moderner Präventionsarbeit: Aus seiner Sicht ist der potentielle Drogenkonsument zum Objekt der Begierde fürsorglicher Kontrollstrategien degeneriert – ob er nun will oder nicht. Damit das funktioniere, so Schneider, würden häufig Gefahren und Dramen medial konstruiert, groß angelegte Kampagnen (wie „Quit the Shit“) sorgen danach für die Beruhigung der Öffentlichkeit.

Die wissenschaftlich-praktische Bewegung der „akzeptierenden Drogenarbeit“, zu dessen Vertretern Schneider gehört, setzt seit den 80er Jahren das Augenmerk nicht auf „Prävention durch Verbot“, sondern auf die Verbesserung der Lebenssituation von Drogenabhängigen bei gleichzeitiger allgemeiner Akzeptanz des Drogenkonsums. Schneider nutzt das Buch zu einem Fazit der Erfolge dieser Bewegung und weist die Nachteile deren Institutionalisierung nach.

Mittlerweile, so Schneider, sei die ausufernde Drogenhilfeindustrie zu einem Teil des irrationalen Drogen-Moralsystems geworden, in dem primär pathologisiert, kriminalisiert und dramatisiert würde. Am Anfang stehe meist die Angst der betroffenen Eltern, jeder dann jugendschützerische Immunisierungsversuch würde begierig aufgenommen, bei den Jugendlichen allerdings führe diese negative Propaganda zu keiner Änderung am Konsumverhalten. Aus Schneiders Sicht leidet herkömmliche Suchtprävention unter ihrer Fixierung auf Gefährdungen und Risiken, ohne auch nur die positiven Momenten des Konsums zu erwähnen.

Credo seiner Überlegungen ist daher die völlige Aufgabe des Begriffs der (Sucht-) Prävention, denn dieser sei durch den „stets negativ-moralischen Beigeschmack“ diskreditiert. Er möchte zukünftig von lieber (und etwas holprig) von einer „akzeptanzorientierten, moderierenden Drogenverbraucherbegleitung zur Stützung genussfähiger Gebrauchskompetenz“ sprechen. Schneider hofft auf eine Umorientierung dahin gehend, dass die Genüsse nicht als Belohnung für irgendwelche Anstrengungen und Kämpfe, sondern als, und hier zitiert er Heiko Ernst, „der eigentliche Sinn des Lebens“ zu betrachten sind. Dieser Satz ist mutig und geht weit über den vorher im Buch erarbeiteten Wissensstand hinaus.

Insgesamt betreibt Schneider eine Entblößung der aktuellen Drogenpolitik und entwirft ein Gegenmodell genussorientierter, selbst bemächtigender Regeln für jedermann. Das alles ist nicht immer einfach zu lesen, gleichwohl einer wichtiger Beitrag zur Entwirrung des festgezurrten Pakets herkömmlicher Drogenpolitik, die aus jedem Konsumenten noch immer eine arme Wurst zu machen sucht.

Wolfgang Schneider: Die „sanfte“ Kontrolle
Suchtprävention als Drogenpolitik
VWB Verlag
Berlin 2006
96 Seiten
EUR 15,00
ISBN 3-86135-256-7

 

Kategorien
Cannabis Drogenpolitik Interviews Interviews

Die Hanfapotheke – Interview mit Franjo Grotenhermen

HanfBlatt, Nr. 98, November/Dezember 2005

Interview mit Dr. Franjo Grotenhermen vom Solidaritätskreis Hanfapotheke

HanfBlatt
Im Internet gibt es eine neue Webseite, die neugierig macht: www.hanfapotheke.org. Was darf man sich unter der Hanfapotheke vorstellen?

Franjo Grotenhermen
Die Hanfapotheke hilft Schwerkranken, die sich in einer Notlage befinden, konkret und ganz praktisch, indem sie ihnen hilft, ihr Medikament zu erhalten. Die Hanfapotheke lebt davon, dass es Menschen gibt, die bereit sind, kostenlos Cannabis an diese Patienten abzugeben. Die Spender bleiben dabei vollständig anonym, so dass sie an dem Projekt mitwirken können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich von Schwerkranken in Not spreche, denn ich habe seit Jahren regelmäßig damit zu tun. Alle Patienten, die Cannabis von der Hanfapotheke, also von den Spendern, erhalten, leiden an schweren Erkrankungen, profitieren gesundheitlich von Cannabisprodukten und benötigen Unterstützung bei der Beschaffung ihres Medikamentes. Das Verhalten des Gesetzgebers und vielfach auch der Gerichte empfinde ich in diesem Bereich als unerträglich heuchlerisch und zynisch. Da wird beispielsweise damit argumentiert, dass Cannabisprodukte Nebenwirkungen verursachen können. Es ist aber trivial, dass wirksame Medikamente Nebenwirkungen verursachen können. Viele Medikamente, die tagtäglich von Ärzten verschrieben werden, können sogar tödliche Nebenwirkungen verursachen. Oder es wird darauf hingewiesen, dass Cannabis keine arzneimittelrechtliche Zulassung in Deutschland besitzt. Das bedeutet doch aber nicht, dass man Menschen, die Cannabis aus medizinischen Gründen verwenden, deshalb strafrechtlich verfolgen und ihnen damit über ihr schweres gesundheitliches Schicksal hinaus weiteren Schaden zufügen müsste. Es ist heuchlerisch, beim Oktoberfest aus reiner Lust am Besäufnis die Volksdroge Nummer eins zu genießen, gleichzeitig aber einem Schmerzpatienten ein wirksames Mittel vorzuenthalten, weil es von anderen ebenfalls als Droge genossen wird. Die Menschen werden in ihrer Not mit fadenscheinigen Argumenten von der Politik und der Justiz allein gelassen. Die Hanfapotheke will ihnen dagegen, so gut es ihr möglich ist, beistehen. Ich möchte die Leser des Hanfblatts herzlich einladen, dabei nach ihren Möglichkeiten mitzuwirken.
Die Hanfapotheke hilft Schwerkranken, die sich in einer Notlage befinden, konkret und ganz praktisch, indem sie ihnen hilft, ihr Medikament zu erhalten. Die Hanfapotheke lebt davon, dass es Menschen gibt, die bereit sind, kostenlos Cannabis an diese Patienten abzugeben. Die Spender bleiben dabei vollständig anonym, so dass sie an dem Projekt mitwirken können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich von Schwerkranken in Not spreche, denn ich habe seit Jahren regelmäßig damit zu tun. Alle Patienten, die Cannabis von der Hanfapotheke, also von den Spendern, erhalten, leiden an schweren Erkrankungen, profitieren gesundheitlichach ihren Möglichkeiten mitzuwirken.

Man ist also als Kranker, dem psychoaktive Hanfprodukte helfen können, nicht mehr darauf angewiesen, sich das teure (teil)synthetische THC vom Arzt verschreiben zu lassen oder sich gar im Rahmen einer Selbstmedikation beim Dealer zu versorgen, sondern kann einfach über www.hanfapotheke.org ordern?! Was muss man tun, um in den Genuss dieser Dienstleistung zu gelangen?

Patienten können nur dann Cannabisprodukte von der Hanfapotheke erhalten, wenn sie zuvor andere legale Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Sie müssen also zunächst versucht haben, sich THC (Dronabinol) vom Arzt verschreiben zu lassen, und ihre Krankenkasse um die Erstattung der Behandlungskosten bitten. Die Hanfapotheke ist kein Ersatz für einen möglichen legalen Zugang zu Medikamenten auf Cannabisbasis, sondern eine Notlösung, wenn andere Wege versagt haben, beispielsweise, weil die zuständige Krankenkasse die Kostenübernahme verweigert. Es muss eine echte Notstandssituation vorliegen. Diese Notstandssituation ist durch die Schwere der Erkrankung, durch eine nicht ausreichende Behandlung mit den zur Verfügung stehenden Medikamenten, sowie durch die gleichzeitige Wirksamkeit einer Behandlung mit Cannabisprodukten und den fehlenden Zugang zu Cannabisprodukten gekennzeichnet. Das sind die Bedingungen, die das Oberlandesgericht Karlsruhe in einem Urteil aus dem Jahre 2004 im Falle eines Multiple-Sklerose-Patienten für das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands formuliert hat. Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann ein Patient darauf hoffen, über die Hanfapotheke Cannabis zu erhalten. Die Macher der Hanfapotheke haben die Hürden aus mehreren Gründen vergleichsweise hoch gesetzt. Erstens sollen vor allem die Patienten von der Hanfapotheke profitieren, die dies am dringendsten benötigen. Zweitens sollen sich die Aktivitäten der Hanfapotheke im juristischen Bereich des rechtfertigenden Notstands der beteiligten Patienten bewegen, so dass alle Beteiligten weitgehend geschützt sind. Und drittens sollen die Spender sicher sein können, dass ihr Cannabis an Personen gelangt, die ihn auch wirklich dringend medizinisch benötigen.
Die Versorgung beim Dealer ist im Allgemeinen sicherlich unzumutbar, zumal viele Schwerkranke nur über wenig Geld verfügen, und sie sich daher eine angemessene Versorgung häufig finanziell nicht leisten können. Oft besteht aber auch einfach kein Kontakt zu Personen, die illegale Cannabisprodukte verkaufen. Um als Patient Cannabis von der Hanfapotheke zu bekommen, reicht eine E-Mail an info@hanfapotheke.org. Dann wird ein Kontakt zu einem Vertrauensarzt der Hanfapotheke hergestellt, der überprüft, ob die Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind.

Nach welchen Kriterien stellt der Vertrauensarzt fest, dass die Einnahme psychoaktiver Hanfpräparate eine Verbesserung des Gesundheitszustandes bzw. eine Linderung bestehenden Leids sein kann?

Es gibt dabei kein Schema. Es gelten aber einige Prinzipien. So wird er einen ärztlichen Bericht vom Patienten anfordern, aus dem die Erkrankung und die Symptome hervorgehen. Das kann beispielsweise ein Krankenhausbericht sein. Dann wird in einem persönlichen Gespräch geklärt, ob schon einmal Cannabisprodukte versucht worden sind, wie die bisherigen Therapien verlaufen sind, etc.

Bei welchen Indikationen sind durch psychoaktive Cannabispräparate Besserungen der gesundheitlichen Befindlichkeit zu erwarten?

Das Spektrum der Indikationen ist groß. Im Vordergrund stehen heute vor allem chronische Schmerzerkrankungen sowie Symptome verschiedener neurologischer Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Verletzungen des Rückenmarks (Querschnittslähmung) und Tourette-Syndrom. Weitere wichtige Indikationen sind Übelkeit und Erbrechen sowie Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust bei Erkrankungen wie Krebs, Aids und Hepatitis C.

Wie und in welcher Form erhält der Kranke nun sein medizinisch indiziertes Cannabis?

Er erhält sein Cannabis mit der Post, wobei der wahre Absender unbekannt bleibt.

Wonach ergibt sich die Menge, die der Kranke zur Verfügung gestellt bekommt?

Die Menge ist individuell variabel und ergibt sich aus dem Bedarf des Patienten. Wenn er angibt, etwa 1 Gramm pro Tag zu benötigen, so wird die Hanfapotheke dies auch als seinen Bedarf akzeptieren und versuchen, ihm zu helfen, diesen Bedarf zu decken. In der Realität wird es aber sicherlich oft so sein, dass sein Bedarf nicht vollständig durch die Hanfapotheke gedeckt werden kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Bedarf größer sein wird als das Angebot. Wie im Konzept der Hanfapotheke zu lesen ist, kann sie keine optimale Versorgung sicher stellen. Dies gilt sowohl für die Quantität als auch für die Qualität. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, die rechtlichen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass Patienten ausreichend mit Cannabisprodukten hochwertiger Qualtität versorgt werden bzw. sich versorgen können.

Wie können Spender Kontakt mit der Hanfapotheke aufnehmen,und wodurch kann ihre Anonymität gewährleistet werden?

Wir haben auf der Webseite der Hanfapotheke einen einfachen Weg vorgeschlagen. Es ist heute möglich, sich bei verschiedenen Providern wie gmx und yahoo eine anonyme E-Mail-Adresse einzurichten, so dass es nicht möglich ist, den wirklichen Absender zu ermitteln. Mit dieser E-Mail-Adresse meldet er sich dann über info(at-antispam-klammerfaffe)hanfapotheke.org und bietet seine Hilfe an. Es ist zu keiner Zeit erforderlich, dass ein Spender der Hanfapotheke oder einem Patienten mit seinem wirklichen Namen bekannt wird.

Wird die Zuverlässigkeit des Spenders und die Qualität des gespendeten Materials kontrolliert?

Sobald ein Patient von einem Spender Cannabis erhalten hat, gibt er der Hanfapotheke eine Rückmeldung, in der er auch von der Qualität berichten kann. Wir haben die Hoffnung, dass der Großteil der Spender den Patienten ernsthaft helfen möchte und sich dies auch in der Qualität des gespendeten Cannabis niederschlägt. Ich möchte aber auch gleichzeitig betonen, dass viele Patienten auch sehr dankbar sind, wenn sie eine mittelmäßige Qualität erhalten. Cannabis mittlerer Qualität ist besser als kein Cannabis.

Der Spender kann also bei anonymisierter E-Mail-Adresse aus dem Verborgenen agieren. Er erfährt aber die Adresse des Kranken, der sich ja ohnehin der Hanfapotheke gegenüber schon geoutet hat. An die kann der anonyme Spender dann sein Produkt schicken, oder wie muss man sich das praktisch vorstellen?

Ja, so funktioniert die Hanfapotheke. Der Spender geht keinerlei Risiko ein, entdeckt zu werden. Der Patient geht dagegen ein gewisses, jedoch überschaubar geringes Risiko ein, da es möglich ist, dass sich ein verdeckter Ermittler bei der Hanfapotheke als Spender ausgibt und dann die Adresse eines Patienten erhält, der sich mit Cannabis behandeln möchte. Da aber ein Spender im Allgemeinen nur die Adresse eines einzigen Patienten erhält, ist das gesamte Projekt damit nicht relevant beeinträchtigt und das Risiko für den einzelnen Patienten gering. Die Ausbeute für den verdeckten Ermittler wäre ebenfalls sehr gering, so dass es sich für die Justiz vermutlich nicht lohnt, auf diese Weise aktiv zu werden. Zudem kann man sich fragen, ob die Justiz tatsächlich ein Interesse daran haben kann, einzelne der beteiligten Patienten, die wirklich in Not sind, strafrechtlich zu verfolgen. Wenn auch möglicherweise formal Rechtsbrüche begangen werden, so wird doch tatsächlich niemandem ein Schaden zugefügt. Ganz im Gegenteil. Die Hanfapotheke schafft einen dringend notwendigen Ausgleich für eine Schieflage der gegenwärtigen rechtlichen Rahmenbedingungen für die medizinische Verwendung von Cannabisprodukten. Und dieser Ausgleich nimmt sich gemessen an den tatsächlichen Erfordernissen eher gering aus. Die Hanfapotheke kann nicht viel mehr leisten als einige Tropfen auf den heißen Stein. Für den einzelnen Patienten kann dies jedoch von großer Bedeutung sein.

Wer steht hinter dem Projekt Hanfapotheke?

Aus verständlichen Gründen wissen dies nur wenige.

Fürchtet Ihr die strafrechtliche Verfolgung, und wie werdet Ihr in einem solchen Falle damit umgehen?

Die Mitglieder des Solidaritätskreises gehen vermutlich kein großes Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung ein. Ich rechne auch nicht damit. Sollte das dennoch geschehen, so sehe ich dem gelassen entgegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir etwas Gutes und Richtiges tun, dass nicht bestraft werden sollte. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass sich im Mai 2002 elf Patienten, die Cannabis zu medizinischen Zwecken verwenden, in der Wochenzeitschrift Stern mit Foto, Name und Wohnort mit einer kurzen Geschichte geoutet haben. Sie forderten das Ende der Kriminalisierung von Kranken, die Cannabis aus medizinischen Gründen einnehmen. Keiner dieser Patienten hat in der Folge dieser Aktion strafrechtliche Probleme bekommen bzw. eine Strafanzeige erhalten.

Angenommen, jemand beabsichtigt medizinisch indiziert Cannabis einzunehmen, hat aber in seinem Leben noch keine oder nur geringe Erfahrungen mit Hanf als Genußmittel gemacht, woher bekommt er dann das stoffkundliche Knowhow?

Vielleicht durch die Lektüre des Hanfblatts. Er oder sie kann sich auch an die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin wenden. Die Hanfapotheke selbst bietet keine Informationen zur praktischen Anwendung von Cannabisprodukten und leistet auch keine medizinische Beratung, sondern konzentriert sich auf die Versorgung.

Das klingt gut durchdacht und erscheint altruistisch und unterstützenswert. Wir wünschen der Hanfapotheke, dass sie vielen Menschen helfen möge.

 

Kategorien
Psychoaktive Substanzen

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch – Das Christentum

HanfBlatt, Nr. 98, November/Dezember 2005

Die Weltreligionen und ihr Verhältnis zum Rausch

Teil 1

Das Christentum

Es ist schon so eine Sache mit den Christen. Als kleine jüdische Sekte entstanden, ist das Christentum heute mit rund 2 Milliarden Anhängern die erfolgreichste Religion weltweit. Die Liebe zu Gott und dem nervigen Nachbarn steht im Vordergrund der Lehre, um aber korrekt christlich glauben zu können muss man ein paar weitere Grundsätze akzeptieren. Ein zentraler sei genannt, denn er führt ins Thema: Die Erbsünde. Weil Eva und Adam von der Frucht der Erkenntnis naschten wurden sie aus dem Paradies geworfen. Seither warten die Christen auf Erlösung. Abgesehen davon, dass manche Psychedeliker glauben, der Apfel sei die erste psychoaktive Droge gewesen, begleitet der Begriff der „Sünde“ das Glauben und Denken der Christen seither.

In einigen Passagen der Bibel dient der Wein dem Christentum zwar mit üppigen Bildern. Im Alten Testament heißt es beispielsweise: „Deine Gattin wird wie ein fruchtbarer Weinberg sein.“ Im Vierten Buch Moses presst der Riese Nephilim so große Weintrauben, dass deren Säfte sich zu einem Fluss vereinigen. Aber spätestens mit der Geschichte der Töchter von Loth, die ihren Vater betrunken machen, um anschließend mit ihm zu schlafen, manifestierten sich im Christentum eindeutig rauschablehnende Züge. Roter Wein, rote Lippen und andere Rauschmittel sind von nun an die Komplizen von Inzest, Mord und Gesetzesbruch. Wein und Weiblichkeit gehören zusammen, ihre Verführungskraft ist ähnlich stark, die Sünde ist nah. Von der Schlange in die Ferse gestochen kriegt Eva „ihre Tage“; diese gelten bis heute als unrein. Die Menstruation der Ursünderin ist kalter Anti-Wein.

Beim Abendmahl sagt Jesus: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.“ Ab diesem Moment steht Wein als Metapher für das Blut von Christus. Diese symbolische Aufladung lässt ihn zur Sakraldroge werden, der Wein gilt als Saft eines Lebens, das nur durch den Glauben an Jesus Sinn erhält.

In der Bibel existieren keine direkten Hinweise auf Cannabisgebrauch, Judaismus und Christentum bemühen sich seit Jahrhunderten eh, die eigenen religiösen Praktiken vom Zusammenhang mit psychoaktiven Pflanzen frei zu halten. Es gilt: Lieber nüchtern in die Irre rennen, als berauscht zur Erkenntnis zu gelangen.

Soweit die Theorie. In den Zeiten des Heranwachsens zu einer ausgebildeten Religion trifft das frühe Christentum aber auf eine Bevölkerung, die vom Gegenteil überzeugt ist. Gelage sind dort eben gerade sakrale Handlungen, rauschhafte Freude und derber Humor und der Kontakt mit dem Göttlichen gehen hier zusammen. Der Met ist Heilmittel, besser gesagt: ein Kanal zu „Gott“, nämlich zu den Ursprüngen der eigenen Seele im All-Einen. „Gott“ in Form des streng-gütige Mannes mit Bart ist eine Halluzination der Christen. Kein Chinese kriegt Marienerscheinungen.

Gleichwohl blieb eine Art rauschhafte Erkenntnis durchaus eine akzeptierte Form der Erkenntnis bei den Christen. Die Extase, die Enthebung aus der ichgebundenen Wirklichkeit, ist die Urform aller religiöser Erfahrung und war auch dem Christentum nicht unbekannt. Nur spielten naturgegebene Substanzen und Mittelchen dabei immer nur eine untergeordnete Rolle, es waren immer nur Splittergruppen, die dieses mystischen Weg der Erkenntnis beschritten. Meister Eckehart und Hildegard von Bingen, um zwei zu nennen, fanden innerhalb der Bevölkerung wenig, innerhalb der Kirche so gut wie keine Unterstützung. Heute, so darf man sagen, ist dieser Zweig innerhalb des Christentum komplett vertrocknet.

Es ist eine interessante, hier nicht zu beantwortende Frage, ob eine Kultivierung des direkten Kontakts der Gemeinde mit „Gott“ den Untergang des Christentums verhindert hätte, der sich in den Industrienationen seit Jahrzehnten langsam, aber unaufhaltsam vollzieht. Die Gefahr wäre wohl gewesen, dass aus den Schäfchen plötzlich selbstständig glaubende Individuen geworden wären. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Frage, weshalb man verfettete und ablasshandelnde Mönche finanziell unterstützen soll. Anders formuliert: Braucht man eine Institution, die sich zwischen das glaubende Individuum und das göttliche All-Eine schiebt? Ein Übersetzer der Sprache „Gottes“ lohnt durch nur, wenn man das Simultan-Wörterbuch nicht selbst in der Tasche hat.

Die Machtansprüche der Kirche beziehen sich im Mittelalter (und bis heute) aber nicht nur auf das geistige, sondern auch das weltliche Leben. Gott sitzt damals an jedem Tisch, das „Gute“ und „Böse“ war immer und überall. Auch extatische Erfahrungen sind nicht aus der Wirklichkeit ausgegrenzt, sondern bestimmen alltäglichen Denken und Handeln. Diese Sprengkraft spielt viel zu sehr in den weltlichen Machtbereich der Kirche hinein, als das sie sie ignorieren könnten. Schließlich ist sie es, die die Welt in Gut und Böse einteilt und es unterliegt ihrem Gutdünken, aus einem trippenden Ur-Hippie einen Heiligen oder einen Ketzer zu machen.

Es ist viel darüber spekuliert und geforscht worden, ob das Christentum unsere Wurzeln der heidnischen Kultur gekappt und mit den eigenen Anschauungen und Praktiken ersetzt hat. Mindestens genauso wichtig wie die Rolle der Klerus bei der Ablehnung von Rauschmittel ist sicherlich der im Zeitalter der Aufklärung aufkeimende Rationalismus. Er ist die Grundlage der modernen Wissenschaft. Nicht mehr die Einsicht in der Ganzheit der Welt wird angestrebt, sondern es wird das Funktionieren ihrer einzelnen Teile untersucht. Die Welt wird analysiert und ihre Objekte seziert. Für eine Subjekt-Objekt Verschmelzung, deren Erleben extrem subjektiv ist, blieb kein Platz mehr. Weil nicht messbar, wird der durch Rauschmittel induzierten Extase der „wirkliche“ Charakter abgesprochen. Aus dieser Sicht ist Transzendenz nur ein Hirngespinst oder gar Lug und Trug.

Heute nimmt die christliche Kirche eine gespaltene Stellung gegenüber dem Rausch ein. So sehr sie sich an den Geschwindigkeitsrausch, den Konsumrausch und die rauschartige Zustände bei Massenaufläufen gewöhnt hat, so sehr lehnt sie den Einsatz von speziellen Rauschmitteln zur Gottangleichung ab. Selbstkontrolle, da ist sie sich mit dem Rest der Gesellschaft einig, ist erste Bürgerpflicht. Und auch in anderer Hinsicht geht sie konform: Alkohol ist erlaubt. Sie sieht sich daher dem Vorwurf ausgesetzt, zusammen mit den ökonomisch-politischen Kräften den Alkohol deswegen zu billigen, weil ihm keine große Kraft zur ich-auflösenden Extase inne wohnt. Haschisch und andere Drogen dagegen werfen die Frage nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit auf. Solche alternativen Sinnwelten seien, so der Vorwurf, weder von Politik noch von der Kirche gewollt. Der Rausch ist und bleibt für den Klerus unheimliches Unterfangen „böser Kräfte“ oder „verwirrter Seelen“. Und noch ist kein Ende der Phrase von den „künstlichen Paradiesen“ in Sicht. Wie auch?, würde dies doch das christliche Glaubensfundament in den Urfesten erschüttern.

Kategorien
Reisen

Experimental Tourism in New York

Woman, November 2005

Zwei Menschen sollen sich im Big Apple wiederfinden

Claudia und Jörg Auf dem Hövel

Claudia: Den Spontantrip haben wir Joël Henry zu verdanken. Er ist Franzose und Erfinder und hat sich Experimental Travel ausgedacht. Eine spielerische, neue Art, fremde Orte zu erkunden – und eine Kampfansage an das pauschale Einerlei. 40 verschiedene Reisemethoden hat er zu diesem Zweck entwickelt, eine sollen wir testen: getrennt in eine fremde Stadt zu fahren und uns zu finden, indem wir unsere Intuition zum Reiseführer machen. Klingt verrückt. Und wahrscheinlich ist es auch dieser Henry aus Straßburg. Trotzdem war ich sofort begeistert von dem Auftrag. Mein Freund Jörg war nämlich noch nie in New York, ließ sich auch nie überreden. Aber hiermit habe ich ihn rumgekriegt. Und stehe nun an der 5th Avenue und versuche, im morgendlichen Straßenlärm meine Intuition zu hören.
Zuerst ins MoMa, dort könnte Jörg mich vermuten, oder Central Park, dahin könnte es ihn als Erstes ziehen. Hinweise vorher waren natürlich verboten, und schummeln finde ich blöd. Gestern Nacht allerdings, als es sich so seltsam anfühlte, am Flughafen in getrennte Taxis zu steigen und in unterschiedliche Hotels zu fahren, da kam kurz der Gedanke, dass es ja nie jemand erfahren müsste, wenn wir doch … Aber der Experimental Traveller in mir hat gesiegt.

Jörg: Internationalität kündigt sich an: Der Mexikaner im chinesischen Fahrradverleih nimmt Euros als Pfand für ein italienisches Rennrad mit japanischer Gangschaltung. Ich hoffe zu wissen: Claudi wird nach SoHo gehen. Dort sind Mode, Kunst, Cafés. Hoffentlich denkt sie nicht andersrum und sucht mich im Central Park. Egal, auch dahin werde ich fahren. Mit dem Rad bin ich schnell – meine Geheimwaffe, um dieses Spiel zu gewinnen. Frühstück in einem Diner in der Nähe des Union Square. Wie ein schlechter Detektiv schaue ich über die „New York Times“ hinweg auf die Straße, fehlt nur, dass ich ein Guckloch bohre. Mein Tischnachbar spricht mich an, das ist wohl normal hier, Student aus Brooklyn. Der Grund meines Aufenthalts bringt ihn zum Lachen: „Mann, hier sieht man seinen Nachbarn oft Monate nicht!“

Claudia: Im Park ist es noch ruhig, ich könnte ihn schon aus der Ferne sehen. Doch zwischen den Joggern und asiatischen Kindermädchen, die Park-Avenue-Babys vor sich herschieben, keine Spur. Ich muss meine Strategie überdenken: Wenn er an Orte geht, die ich mag, und ich seinen Interessen nachjage, wird’s schwierig. Ich sollte bei der Routenplanung wohl besser beides bedenken.

Jörg: Das ist also Manhattan, der schwer genießbare Kern des Big Apple. Zu viel Höhe, nach einer Stunde habe ich Nackenstarre. Es ist genau anders herum als gedacht: Die Stadt wirkt uralt und wächst von oben nach unten. Maroder Asphalt, überall wühlen Fernwärmetrupps durch den Untergrund, aus den Löchern dringen Dampfwolken. Die Last der Wolkenkratzer drückt in die Eingeweide der Stadt. Plötzlich ein Touristenmenge, ich schaue hoch. Das Empire State Building. Drinnen Art déco, grüner Marmor, alte Rolltreppen. Oben Turmfalken-Feeling, ich habe den Überblick. Aber keine Spur von ihr. Mein Herz klopft trotzdem schneller. Ist es die Stadt oder das Spiel?

Claudia: Es gibt ein paar Orte, die romantisch wären zum Sichwiederfinden: das Empire State Building, die Fähre nach Staten Island, der Eisring am Rockefeller Center, die Brooklyn Bridge. Wohin zuerst? Im frisch umgebauten MoMa schaue ich mir den neuen Skulpturengarten an und suche Bilder von Pollock. Den mögen wir beide. Danach zum Times Square. Keine gute Wahl, je näher ich dem blinkenden Straßenzug komme, umso dichter der Menschenstrom. Selbst wenn er drei Meter entfernt wäre, könnte ich ihn übersehen. Lieber nach Downtown?

Jörg: Ein Obdachloser schlurft mit seinen Plastiktüten am Trump Tower vorbei, drinnen laufen Wasserfälle über Blattgold-Applikationen, dazu Sinatra mit dem Lied über seine Stadt. Der Verkehr steht mehr, als dass er rollt. Tausende, nein, Millionen Stadtneurotiker eilen durch die Schluchten und sind enorm lässig dabei. Feuerwehr, Ambulanzen, Presslufthämmer. Ein steter Schalldruck läuft die Wände hoch, reflektiert an Fassaden und beschert der Stadt 24-stündiges Brummen, ein urbaner Tinnitus. Gotham City, Sin City? Hier können alle nur verrückt oder glücklich werden, gleichgültig bleibt keiner. Mir gefällt es plötzlich. Das Seltsame an diesem experimentellen Reisen: Man ist weder allein noch zusammen, merkwürdiger Zwischenzustand, aufregend und unbefriedigend zugleich.

Claudia: Mein Plan ist gut: Die kleinen Straßen, Cafés, Antiquariate im Village – hier fühlt es sich an, als würde Jörg gleich um die Ecke biegen. Ich stelle mich in die Schlange vor der Magnolia Bakery, die Leute reden über Wirbelsturm Wilma, seine Ausläufer sollen die Stadt bald erreichen. Die Cupcakes müssen grandios sein, bei diesem Wartewillen. Oder ist das sogar das Erfolgsgeheimnis der klebrigen Törtchen, dieser kurze Stillstand, bevor alle weiterrennen? Ich kaufe vorsichtshalber zwei. Und entdecke gegenüber Marc Jacobs. Meine Intuition sagt: shoppen! Ein schlechtes Suchgewissen muss ich nicht haben, sollte Jörg vorbeikommen, wird er wissen, wo er nachzusehen hat. Auch wenn es natürlich bitter für ihn wäre: „Ihr habt euch bei Marc Jacobs gefunden?“ Zwischen den Klamotten liegen Buttons, Aufkleber, Flugblätter mit Anti-Bush-Parolen. Jacobs mag seinen Präsidenten wohl nicht, der Tresen seines schicken Ladens sieht aus wie der Fußgängerzonenstand einer Bürgerintiative. Und als ich zahle, schenkt mir der Verkäufer einen Aufkleber und sagt „Peace“, mit Nachdruck, als echtes Anliegen. Und ich weiß, wohin ich als Nächstes muss.

Jörg: Langweilig ohne sie. Was für ein Spiel soll das werden? Ein hoffnungsloses Unterfangen in diesem Gewusel. Und soll es am Ende was über unsere Liebe sagen, wenn wir uns nicht finden? Nichts für schwache Nerven, dieses experimentelle Reisen. Was hatte sie im Koffer? Es ist kühl, sie wird die dunkle Jacke anziehen. Das Problem: Sie ist bereit, für modische Extravaganzen zu frieren. Ich achte auf jeden und daher nach einiger Zeit auf niemanden mehr. Der Trick mit dem Rad hat versagt, ich bringe es zurück. Die wahren Chefs der Stadt sind ohnehin die Cab-Driver. Vier Taxis, vier Nationen, ich fahre mit Hindus, Vietnamesen, Puerto-Ricanern und einem Belgier. Überall Schlaglöcher, Fahrten wie auf dem Rummel.

Claudia: Ich habe mich verlaufen, muss mich erst mal wieder orientieren. Ein Mann im Businessanzug hilft. „Geradeaus, dann kommen Sie direkt drauf zu.“ Auf das große Nichts, das sich zwischen den Häusern auftut. Ground Zero. Der Missing Link zwischen dem New York meines letzten Besuches und der Stadt, wie sie heute ist: nicht mehr nur sorglos-gigantisch, ernsthafter. Ein Metallzaun umgibt das Areal, der Wilma-Wind bläst den fliegenden Händlern ihre Taschen-Fakes davon. Hier machen sie gute Geschäfte, weil kein Ort der Stadt mehr Besucher anzieht. Keine Ahnung, wie man hier Lust auf eine Plastik-Birkin bekommen kann. Die megafonverstärkte Stimme eines religiösen Eiferers brüllt: „Nur Gott kann dich retten!“ Es ist kein guter Ort, um sich allein zu fühlen. Trotzdem bin ich auf einmal ganz bei mir. Es dämmert, ich bin erschöpft vom Suchen. Kino vielleicht? Ein Film, der zu low budget oder zu amerikanisch ist, um jemals nach Deutschland zu kommen.

Jörg: Im Meatpacking District sollen selbst unter der Woche schon weiße Hengste auf der Tanzfläche gesichtet worden sein, trotzdem wähle ich die Bar um die Ecke meines Hotels in Chelsea. Zwei lasche Biere, ein kindskopfgroßer Hamburger. Im Fernsehen läuft Football, die Straße habe ich im Blick. Der Mann neben mir an der Theke kauderwelscht vor sich hin. Später im Hotelbett stelle ich mir im Halbschlaf vor, wie Claudia sich gerade in einem Nobelrestaurant von einem Mr. Big Drinks spendieren lässt. Krude Interpretationen von Sehnsucht. Morgen wird dieses Spiel ein Ende haben. Finde ich sie nicht, greift Plan B: Den Umschlag mit dem Notfalltreffpunkt darf ich um 16 Uhr öffnen.

Claudia: Meine Nacht ist traumlos, der nächste Vormittag vergeht im Flug. Little Italy, Chinatown, East Village. Ich hab keinen Plan mehr, freu mich einfach, hier zu sein. Versuche mir zu merken, was ich Jörg alles erzählen muss.

Jörg: Ich bin genervt. Dieses Spiel kann vielleicht in Paderborn, eventuell noch in Zürich gewonnen werden. Aber in New York? Es gibt jedoch noch eine sehr gute Spielregel: Man darf die Regeln auch ändern. Ich öffne den Umschlag vor der vereinbarten Zeit. „Times Square, 18 Uhr“ steht dort. Ich fahre schon um 16 Uhr hin. Und plötzlich sehe ich sie. Wie gut ihr dieser suchende Blick steht.

Claudia: Es hat nicht geklappt. Funktioniert hat es dennoch. Ich war allein unterwegs, trotzdem war Jörg dabei. Ich habe New York gesehen und ihn und mich. Und als wir uns endlich trafen, war es aufregend, sogar sexy. Darum heißt das Spiel wohl „Ero-Tourism“. Wir sollten das noch mal probieren.

 

Tipps:

Wohnungen von Privatleuten und individuelle Stadttouren organisiert Erol Inanc, ein Münchner, der seit 14 Jahren in New York lebt: http://www.echtnewyork.com

 

Literatur:

Joel Henry, „Guide to Experimental Travel“
Lonely Planet 2005
Nur auf Englisch erhältlich
ISBN: 1741044502
Rund 15 EUR.

 

Kategorien
Mixed Reisen

Wie München ist

Warum München die Hauptstadt Deutschlands ist

Oktober 2005

Sonnenpfützen schimmern auf Sitzflächen. Ein Cafe in Hamburg, Stühle und Bänke stehen vor der Fensterfront, Linden tröpfeln ihre klebrigen Tränen. Zum Espresso wird ein Glas Wasser gereicht, Tageszeitungen mit Holzhalter liegen auf den Tischen, hier bleibt man sitzen. Frank, ein Dreißiger mit wenig Haaren, hält mit dem Fahrrad an. „Ey, Frank, alter Lappen, was geht ab?“, tönt es fordernd neben ihm. Es ist Mark, ebenfalls in den ersten Zügen der 30, mehr Haare, nicht so dünn wie Frank, aber auch diesen stoppeligen Halbbartwuchs, Cordhemd in blau, alte Jeans, Clocks an den nackten Füßen. „Du bist zu spät“,

„Na und?“,

„Ich freu mich auch, dich zu sehen“.

Ein Aufstehen, ein Fahrradabschließen, ein Zugehen, eine Umarmung. „Erzähl!“

„Was denn?“

„Witzbold, wie war’s in München, du warst fast zwei Jahre dort. Also wie war´s? Wohnen, wo andere Urlaub machen? Oder was?“

„Es sei bei dir anders, aber ansonsten fällt mir auf, dass alle, die diese Frage stellen, ohnehin nur ihre Vorurteile bestätigt oder widerlegt haben wollen. Wer fragt heute schon noch, um dann zuzuhören? Aber ganz abgesehen davon, wie soll man ohne Vorurteile in eine Stadt einziehen? Denn Wünsche hatte ich nicht an die Stadt, ich wusste, es wird gut werden, weißt schon, wie ich meine. Schließlich bin ich es, der da hingeht.“

„Ja, ja, versteh schon, aber einen Batzen von schon mal Gehörtem bringt doch jeder mit in seine neue Bleibe. Normal.“

„Wir haben alles gehört: <München ist ein Dorf>, und <München ist spießig, aber das Umland ist toll>. Bei mir kam noch etwas dazu, das über Vorurteile hinaus ging, nämlich eine Abneigung gegen katholische Lehren und den damit zusammenhängenden Obrigkeitsglauben, der aus meiner Sicht von der Kirche aus seit Jahrhunderten virusartig auf das soziale Gefüge der bayerischen Gesellschaft übergegriffen hatte. Na ja, so ähnlich.
Um es schnell loszuwerden: Und irgendwie war es auch genau so, aber irgendwie war es genau anders. Keine Angst, es folgt jetzt keine differenzierte Abwägung von Gut und Schlecht für München, sondern es folgt eine hemmungs- und erbarmungslose Niedermachung einer Stadt, über der der Materialismus wie eine schwangere Blase hängt und das Licht der funkenden, selbstgenügsamen und daher zunächst immer auch nicht profitorientierten Idee für Jahre und vielleicht Jahrzehnte verdunkelt.“

„Na, das ist doch ein Scherz, es gibt auch in München Künstler und andere Penner.“

„Das war Mal. Gleich zu Beginn unserer Zeit dort ist Louis Marzaroli gestorben, ein Künstler aus Schwabing. Wenn ich traf, warnte er mich vor München. Sicher, das lag auch daran, das er auch privat nicht glücklich geworden war, aber er behauptete steif und fest, dass die künstlerische Szene in München eine reine Chimäre ist, ein potemkinsches Dorf, dass alle voreinander hin- und herschieben. Und selbst in der Vergangenheit lassen sich doch Beispiele der frustrierten Künstler finden. Lies doch mal Erich Kästners „Hausapotheke“, ein unfreiwilliger, aber furchterregender Beweis seiner Unlust am Leben in der Stadt. Ich sah Louis sterbliche Hülle im Krankenhaus, da passte keine Seele mehr rein, die saß am anderen Ende des Universums, so hoffte ich für ihn, bei Pasta und Rotwein, neben ihr eine schöne Frau.“

Die Bedienung, ein Rotwein, ein Astra, ein einparkendes Auto.

„Wie man sich dem Münchner Naturell am klügsten annähert?, fragst du mich. Das kann ich dir sagen, Mark. Mir reicht der Ausspruch: „Mir san mir“, in der freien Übersetzung so etwas wie <Wir haben’s voll raus>. Das ist der Fachausdruck für eine satte, bornierte Selbstzufriedenheit, gepaart mit krachlederndem Humor, immer rauf auf die Schenkel, har, har; Hauptsache wir bleiben subtil wie ein Panzerkreuzer. Ja, wir Bayern sind geschäftstüchtiger, schlauer, gottgläubig noch dazu! Neoliberale mit Hostienzugang, wenn es den Primat des Mammons nicht schon geben würde, für die Münchner müsste er erfunden werden.

Es ist ja auch kein Wunder, das die so satt sind. Die Verfettung der Bevölkerung ist sichtbar, selbst an heißen Sommertagen sieht man sie in den draußen in Restaurants oder Biergärten sitzen, um in praller Sonne schwitzend Schweinsbraten mit Soße zu fressen, dazu ein Liter Bier in sich reinschüttend und einen Krapfen hinterher werfend. Selbstzufrieden schmatzende, rosige Gesichter sind das, völlig mit dem Braten vor ihnen verschmelzende Zentauren, „Jo mei, is das a Hitz heut“ brummelnd, noch echte Stofftaschentücher aus der Hosentasche ziehend, Wildmosers in Herden, oft auch noch in Kostümen, Entschuldigung , Tracht nennt sich das ja, rumlaufend, „Zahlen, bitte“, kleines Trinkgeld an die Kroatin, das wär ja wohl gelacht, erstmal was leisten, „kann froha sein, dass sie hier ist, joa, hier sein darf (!). Lauter gestandener Mannsbilder und dralle Frauen, immer etwas älter wirkend. „Der hat´s geschafft,“ denkt der Mann und seine Denkblase wandert zum Fahrer des glänzenden Vehikels – „und der da nicht“, denkt sein Kind, das so herrlich brav an seiner Hand flaniert, den Fußgänger nachsehend. Da, mit einem sanften Ruck reißt es sich los, geht kurz ein Stück alleine des Weges, wundert sich über alles neu, wie bunt der Rock, wie schwarz der Mann, wie faltig der Opa, wie grün der Halm aus Plattenwegen. „Vorsichtig, da vorn, komm her“: die Mutter ruft, neu andocken, traute Sicherheit oder auch: hiergeblieben (!), du Wildfang, dich ordnen wir schon ein, und unter sowieso. Nachher gehen wir zu den Stoibers, eine Art Doku-Soap in Bayern, da wirst du lernen, wie man gerade bei Tisch sitzt, du Feuerkopf. Ab in den fetten BMW und davon brausend.“

„Ja, Ja, Frank, ich weiß Bescheid. Ein einziges Würgen.“

„Ja, klar, das sind jetzt Überzeichnungen, Mark, aber was tut das gut. Aber ich bleibe dabei: Nach oben buckeln, nach unten treten, so heißt es dort. Die Stadt bewegt sich zwischen genau zwei Polen: Duckmäusertum und Großmannssucht. Hier wollen sich die Erfolgreichen stets von den Erfolglosen unterscheiden. Letztere, und das ist das Neue, machen dieses Spiel auch noch mit. Sie schauen traurig aus der Wäsche, weil sie nicht so viel von diesem nutzlosen Dreck haben. Eine Kultur des Habens liegt wie eine feucht-schwangere Blase über der Stadt. Tropfen für Tropfen sondert sie ihr Sekret ab und alle, die davon lecken, werden mit einem Virus infiziert und der heißt: Neid.

„Was du Neid nennst, ist wahrscheinlich nur Broterwerb. Aber dir ist ja jede kaufmännische Haltung zuwider. Kaufen und Verkaufen, das ist für dich nur ein anderer Name für elegantes Bescheißen. Und Freude an der Arbeit zu haben ist blinde Unterwürfigkeit. Wenn ich nach deinen Tiraden auch mal etwas Sagen darf: der historische Prozess kennt nur eine Konstante: Veränderung, nicht Beharrung. Und die Welt befindet sich, diese Erkenntnis ist mittlerweile offensichtlich auch bei dir angekommen: im Wandel. Und dieser Wandel, ob wir das wollen oder nicht, ist ein ökonomischer. Und er bestimmt das Bewußtsein.“

„Komm mir doch nicht mit der <Welt im Wandel> Propaganda. Das musst du mir erstens nicht erzählen und zweitens: Das ist doch genauso wahr wie die „ewigen Werte“, und die hast du doch noch vor kurzem immer gepredigt, du Wendehammer. Wie denn nun? Dass das ökonomische Sein das Bewusstsein bestimmt, das kommt ja Gott sei Dank nicht von dir, sondern vom dem Mann mit dem Bart, aber auch hier gilt: Umgekehrt wird der zweite Schuh draus. Soll heißen: Wenn ich die Welt als gigantischen Tauschhandel sehen will, dann wird sie mir auch so erscheinen. Man stelle sich die Anwendung dieser Theorie auf alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens vor. Na, vielen Dank. Die Ökonomie unterliegt kulturellen und noch tausend anderen Bedingungen. Kapitalismus ist heute in erster Linie Konsumkapitalismus, im dem es um den Verkauf von aus meiner Sicht meist kranken Lebensanschauungen geht. Und vielleicht ist deine Argumentation vom „ewigen Wandel“ nur eine Bejahung des unablässigen ökonomischen Fortschritts, der auf diese Karte setzt.

Aber darauf wollte ich ja gar nicht hinaus. Das, was ich über München sagte, das gilt immer nur abstrakt, immer nur auf die Münchner als Gruppe bezogen. Sobald ich irgendeinen dieser Klöpse persönlich kennen lernten, stellte er sich als zwar sehr direkter, aber durchaus differenzierte Mensch heraus. Das Problem ist nur: meistens kam er oder sie dann gar nicht aus München, sondern war ein „Zugereister“, wie das so heißt. In knapp zwei Jahren habe ich nur zwei Münchner näher kennen gelernt. Einen Maurer aus Harlaching und eine Tischler und Designer aus dem Glockenbachviertel. Sie waren in München geboren, ich war alarmiert, aber trotz bösen Willens konnte und kann ich beiden Stadt-Vertretern nichts anhängen. Geordneter Bierkonsum, der eine wollte sogar kiffen. „Teert und federt ihn“, rufen da jetzt manche, aber die Drogenpolitik des Freistaates ist ein eigenes Thema, so abstrus, so hinter dem Mond, dass ich nicht weiter darüber reden möchte, weil ich mich nicht aufregen soll, sagt mein Arzt. Das erinnert mich an den Junkie, der aus Bayern flüchtete, der vertrug das Klima noch weniger als den schlechten Stoff.“

Ein Winken, die Bedienung: „Noch ein Bier, äh, bitte.“

„Mir auch noch Eines, bitte.“

„Du also wieder in Hamburg. Und hier ist alles besser, oder wie? Hier, wo man bewusst lässiges rumschlomt, ein Kiffergesicht macht und trotz erstklassiger Connection so Straight wie Rumsfeld ist? Hast du den Heroin-Chic der Schanze vermisst, oder was? Nebenbei, München hat eine Uni mit Zehntausenden von Studenten, du willst mir doch nicht erzählen, das die nicht ändern oder auch nur feiern wollen? “

„Ach, den bleibt kaum was anderes übrig, als sich Strähnchen zu färben. Absurd, die Schweinsteiger-Frisuren. Punk für Arme. Der gesamte Fankult um den FC Bayern lässt sich genau daran festmachen. Da geht’s nicht um die Identifikation mit der Seele bayerischer Spielkultur, sondern um die Identifikation mit dem Bankkonto und dem Pokalschrank des Vereins. Die Motzerei des Publikums ist schlimmer als beim HSV. Aber die Grundstimmung der Stadt ist sowieso wütend. Es ist Wut darüber, noch nicht so erfolgreich zu sein wie die anderen, Wut darüber, dass der Verkehr nicht richtig läuft, Wut darüber, dass die Großkopferten doch machen, was sie wollen. Wollte man München mit einem Ton beschreiben wäre es ein motziger Grunzlaut. „Dammischer Dreck“.

„Ich habe nach den Studenten gefragt. Aber egal, du willst mir erzählen die Stadtbevölkerung pöbelt den Tag so munter vor sich hin – so wie du jetzt?“

„Studenten? Da ist ja dagegen die Christian-Albrechts-Universität in Kiel ein brodelnder melting-pot. Wenn die ohne Schlips in der Jura-Vorlesung erscheinen ist das schon Revolution. Völlig konform. Sie atmen die gleiche Luft. Irgendein Museumsdirektor sagte mal: <Wenn man hier in München etwas gut findet, das unbekannt ist, ist das Gotteslästerung. Und wenn man hier etwas gut findet, was bekannt ist, dann ist es ein Hype. Eine interessante Stadt.>

Aber hör hin, ich habe ein Beispiel: Eine alte Oma führte bei uns um die Ecke in den Straßen ihren Hund Gassi. Wahrscheinlich pinkelte er ihr nicht schnell genug, auf jeden Fall motzte sie ihn die ganze Zeit an: „Du Saubuab, du dammischer Saubuab, jetzt komm hinni, du Saubuab.“ Ihre Tonlage vibrierte zwischen Aggression und Zuneigung, sie konnte ihre Liebe zu dem Tier nur in zeternder Form ausdrücken.“

„Das musste dir doch entgegen kommen.“

„Witzbold, ich pöbel vielleicht auch gerne, vielleicht um meinen Weltschmerz zu befreien, aber in mir wohnt doch keine aggressive Grundstimmung gegenüber den Dingen dieser Welt. Na, sei’s drum. Ich will hier jetzt auch gar nicht den Münchner das Gefühl für’s Schöne absprechen, aber es ist immer alles so brachial. Anstatt sich wie die Leute auf dem Land ihren Ursprüngen bewusst zu sein, denken die Freaks sie wären die Aufsteiger. Bei jedem Fest riecht es nach tumber Bauerntümelei, da vereint sich die motzende Grundhaltung mit kräftiger Fröhlichkeit und heraus kommt bestenfalls eine „zünftige Rauferei“, wie die das dann nennen.

„Du lässt ja kein gutes Haar an der Aktion. Wie bist du denn dort zwei Jahre durch die Gegend gerannt? Erzähl doch Mal was Positives!“

„Schwer, wenn man nicht kitschig werden will. Willst du was über die Landschaft hören, die fruchtbar-furchtbar, unfassbar schönen Berge?“

„Auch, aber lieber was aus der Stadt. Von den Menschen.“

„O.k., was ich sagen kann: Die Dickköpfigkeit der Münchner ist in gewisser Hinsicht charmant, denn sie ist kommunikativer als die Sturheit der nordischen Schlickrutscher. Im Biergarten kommt es schnell zum Erstkontakt mit den Aliens, ich sag’s dir. Das eine Mal saßen wir in einem solchen Garten unter Kastanienbäumen. Die Sonne schien, es war warm, brennend heiß sogar, aber unter den Bäumen war es kühler. Ein paar Metal-Freaks sprachen Tina und mich an. Der eine Langhaarige zeigte sich im Laufe des Gesprächs begeistert über den von uns auf dem Flohmarkt erstandene Salat-Schleuder. Aus seinem gepiercten Mund kam der Satz: „Die meisten Leute wissen ja nicht, dass ein feuchter Salat das Dressing überhaupt nicht richtig annehmen kann.“ He, he.

Ein anderes Mal saß ich alleine im Biergarten des Englischen Gartens, beim Chinesischen Turm. Ein Rentner hatte es sich auf der Bank schon bequem gemacht, es war Nachmittags, die Sonne schien mal wieder und sein Klappfahrrad stand direkt neben ihm. Ich setzte mich zwei Plätze neben ihn, wir schwiegen. Oben auf dem Turm spielte eine Kapelle, in Tracht, weißt du, täterä. Blasmusik, aber auch Interpretationen von bekannten Hits aus den 50ern. Na ja, nach der ersten Maß Bier tippte ich leicht mit den Fußspitzen mit. Der Rentner zog sich seine zweite Maß rein und blinzelte in die Sonne. So verging eine Stunde, vielleicht etwas mehr. Ich war bei der dritten Maß angelangt, die hatte ich aber schon als Radler panaschiert. Kleine Bläschen formten sich über meinem Kopf. Die Band spielte. Langsam wandte sich der Rentner zu mir, grinste, und sagte: „Is’ a herrlich Sach’ heit.“

“Mehr nicht?“

„Mehr nicht. Und ich konnte auch nicht antworten, ich war zu beeindruckt von seiner Weisheit, denn besser konnte man es nicht ausdrücken. Es war herrlich: Sonne, Bier, dazu a Musi; Herz, was willst du mehr?“

„Einfach, aber gut.“

„Gut, weil einfach. So gefallen mir die Bayern am besten.“

„Und dann?“

„Nix dann, irgendwann habe ich mich auf mein Fahrrad geschwungen und bin nach Hause geeiert. Wobei ich keine 100 Meter an der Isar entlang gefahren war, als wieder einer dieser Deppen mich anpöbelte, ich solle auf der richtigen Seite fahren. „Rechtsfahrgebot“, brüllte er. „Rechtsfahrgebot, wenn ich das schon höre, so eine biedere Klugscheißerei.“

„Jetzt kommst du wieder ins Pöbeln.“

„Ach, ist doch wahr. Und weißt du, woran das liegt? Radfahrer sind die ursprünglichen Verlierer in München. Das Auto hat Vorfahrt, wenn nicht nach den Verkehrs-, so dann doch nach den sozialen Regeln. Fahrradwege, so meine Meinung, sind hier und meinetwegen auch anderswo nur Abschiebungsmaßnahmen, nur dazu da, den Fluss der Abgasheinis nicht zu stören. Und um der drohenden Abdrängung ins soziale Abseits entgegen zu treten, bedienen sich die Radler des üblichen bayrischen Tricks: Sie rüsten auf. Hier wird auf technisch hohem Niveau gegurkt, Gore-Tex am Bein, Carbon unterm Arsch, Fleece über den Schultern. Eine ständige Selbstbehauptung. Und ihr Stück Radweg wird dann auch wieder den strikten Regeln unterworfen. „Falsche Straßenseite“, ich weiß nicht, wie oft ich mir das anhören musste, selbst wenn der Radweg zehn Meter breit war. Der Höhepunkt war als mich irgendein Depp sogar im Wald bei Schäftlarn, einem Vorort an der Isar, anpöbelte, ich solle auf ihn auf der richtigen Seite überholen. Ich voll in die Bremsen, brülle: „Was ist denn nun schon wieder, Mann, Leben und Leben lassen, begreift es doch Mal.“

Aber du wolltest etwas Positives hören. Gleich nebenan von unserer Wohnung am Sendlinger Tor öffnete jeden Morgen um 6.15 Uhr Ida ihren Milchladen. Eine Miniatur-Ausgabe eines Geschäftes, aber mit Herz geführt. Mit Edamer belegte, frische Brötchen, Paninis, Nudelsalate, alles von dem Frauenteam dort selbst gemacht. Eine Goldgrube, zurecht. Manchmal, wenn ich im Hinterhof auf dem Balkon saß, hörte ich die Schläge auf das nackte Fleisch der Schnitzel. Mittagstisch. Jeden Nachmittag um 16 Uhr schloss Ida, aber vorher versammelten sich immer ein paar Leute auf der anderen Straßenseite von dem Laden. Ich wunderte mich zunächst, bis ich mitbekam, das Ida und ihre Frauen die Reste des Tages immer an Hilfsbedürftige verteilten. Sie konnten sich aussuchen, was sie wollten und Ida packte es ihnen in genau die gleichen schönen bedruckten Tütchen, die die anderen Kunden erhielten.“

„Dir blieb anscheinend nur eine schmale Lücke zwischen Naturverherrlichung und Ablehnung der Stadtkultur, etwas abgefedert durch Sozialromantik?“

„Vielleicht. München fördert den Kampf alle gegen Alle, die bleibende soziale Ungleichheit wird durch christliches Mitleid und Fürsorge abgedämpft. Es herrscht das Geld, und die Ideale, die kommen später, auch die <leistet> man sich. Ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst: <Erst das Brot, dann die Moral>; alles bekannt, aber den globalisierten Kapitalismus gab es doch wahrlich nicht vor dem ersten Erscheinen der Demokratie. Er fußt auf ihr und seine habgierigen Macher sind drauf und dran diese aufzulösen.“

„Ach, Frank, der Humanismus und die Aufklärung ist der geistige Ausfluss eines mit viel Mitteln und wenig Rechten ausgestatteten global kapitalisierten Bürgertums. Das nannte sich Merkantilismus, du Schlaumeier. Und er ist daher nicht ohne Grund in Handelszentren entstanden. Oder auch: Nur weil es schlechte Fußballer gibt, muss ich ja deswegen den Fußball nicht insgesamt Scheiße finden.“

„Es ist wieder nur die halbe Wahrheit, die du da rausstöhnst. Der Humanismus und die Aufklärung sind nur in ihrem bewusstem Rückgriff auf die griechische Philosophie zu verstehen. Muss ich dir das sagen? Und zu deinem Fußballbeispiel: Wenn in den Regeln des Fußballs eine immanente Ungerechtigkeit eingebaut wäre, dann, erst dann, würden wir nicht mehr hinschauen.“

„Die deutsche Wirklichkeit bietet auch in Bayer nachweislich Schwächeren die allergeringsten Aufstiegschancen im Vergleich zu allen anderen, zum Teil viel liberaleren Staaten. Einmal arm, immer arm. Sie ist die Gesellschaft mit den geringsten Geburtenraten. Uns stören die lauten, langweiligen Balgen doch nur. Bei uns sind in 20 Jahren die Hälfte, ich wiederhole: die Hälfte der Menschen über 60 Jahre, also fast alles Rentner. Wir werden ein Seniorenheim. Es gibt noch nicht einmal genügend Kindergartenplätze, die Schulen zerfallen. Bei mir bewerben sich deutsche Abiturienten, die DEVIENITIF der deutschen Sprache nicht mächtig sind – zumindest nicht in schriftlicher Form. Die Wissenschaftler, und zwar nicht nur Gentechniker, verlassen das Land. Ach nö, das ist alles so faktisch, so kalt?“

„Ja, das ist die Form, die ich hören will. Kann ich auch: Dieses Gerede vom Aussterben der Deutschen ist doch hahnebüchen, die sollen doch alle Kinder aus der 3. Welt adoptieren, wenn sie so heiß auf Muttisein sind. Einwanderer rein, heiße Afghanen sollen die 60-jährigen meinetwegen dusselig poppen.“

„Da fällt dir nichts Besseres ein, was? Meiner Meinung nach sind aber nur das die Bereiche, aus denen sich eine Gesellschaft erneuert, und zwar geistig erneuert. Das sind die klassisch-staatlichen Bereiche: Kinder, Jugend, Bildung, Forschung, Lehre. Das gibt es aber hier nicht mehr oder kaum noch. Der deutsche Staat hat dafür kein Geld mehr, weil 6 Millionen Arbeitslose und 20 Millionen Rentner finanziert werden müssen. Und es werden täglich mehr. Und jetzt sag mir bitte nicht, dass das am Neo-Liberalismus liegt. Komm bitte nicht mit dieser verfickten Platte. Lass dir Besseres einfallen, als Antwort auf diese Herausforderung.“

„Für eine Herausforderung müsste ich nachdenken, das hier schüttel ich so aus dem Ärmel. Erstens: Wieder stellst du mich hin, als ob ich gegen Unternehmertum in jeder Form bin. Blödsinn, aber hinter jedem Unternehmer steckt halt eine Idee, weshalb er den Laden aufmacht und führt. Selbstverwirklichung? Gemeinwohlmehrung? Leben, um zu arbeiten? Arbeiten, um zu leben? Oder aber eben Raffung von Geld, weil er dann irgendwann eben doch dem Geist des Kapitalismus erlegen ist; hier definiert als habgieriges Anhäufen von Besitztümern auf Kosten von Menschen und Umwelt. Das ist das Problem. Wer viel arbeitet, soll viel verdienen, auch einverstanden, aber daran krankt es nicht. Es krankt an den egoistischen Geistern in der Gesellschaft, die ihr Wohl über das aller anderer stellen, nur um sich den dritten Porsche zu kaufen.

Bücher und Reagenzgläser kosten Geld, korrekt. Woher nehmen? Aus den Steuern, korrekt. Wer zahlt die? Wir. Wer oft nicht: Die Großkonzerne. Wer hat sie über Jahre veruntreut? Die von uns gewählten Damen und Herren. Was tun? Ehrliche Politiker wählen, geht nicht, gut. Denn auch Sie denken wieder nur an sich oder sind meinetwegen auch nur gefangen im falschen System.“

„Quatsch. Eine Politik, die sich spät, aber nun immerhin hinstellt und sagt: Wir brauchen mehr Arbeit, mehr Arbeitsplätze. Und leider macht die nicht der liebe Gott und die macht auch nicht der Schröder und die Merkel und auch nicht der Fischer, deren Rotweinkeller sind prallgefüllt, sondern die machen Menschen wie Du und ich oder meinetwegen auch irgendwelche Scheißkonzerne. Alles nur damit der Staat zumindest einen Teil seiner Ausgaben finanzieren kann. Und es müssen alle mit weniger auskommen, die die bekommen und denen, denen es genommen wird. Aber es muss erstmal wieder Menschen geben, denen etwas genommen werden kann, um es denen geben zu können, die es brauchen. Ja, das ist alles profan materiell. Aber Scheiße noch einmal: Das ist doch deswegen trotzdem richtig. Es entspricht menschlichen Erfahrungswerten, wenn ich schon nicht mit Kategorien wie Wahrheit kommen darf. Ich kann das doch nicht alles verdrängen, nur weil es mir noch so gut geht und weil mir die Argumentation nicht gefällt. Was wollt ich sagen? Ach ja: So eine Politik finde ich verantwortungsvoll und ehrlich. Und nicht kalt und herzlos, wie mir irgendwelche ahnungslosen ignoranten Spinner erzählen wollen. Leute, die die Wahrheit ignorieren, verdrängen, verdrehen. Leute, die sich dann auch noch anmaßen, moralisch im Recht zu sein. Gerade auf dieser Anklagebank sitzend, finde ich die Standhaftigkeit einer solchen Politik verantwortungsvoll und ehrlich. Aber Du glaubst nach wie vor am Deutschen Wesen, soll die Welt genesen. Na denn Prost, solang es hier noch Bier gibt.“

„Ein weiteres unkonzentriertes Scheinargument gysischer Ausprägung.“

„Aber wie waren wir darauf gekommen? Richtig, es ging um München, für dich wahrscheinlich die neue Hauptstadt des am Neoliberalismus leidenden Deutschlands.“

„Stadt ist immer auch ein State of Mind. Und der kollektive Geisteszustand der Stadt ist ein ewiges Zur-Schau-tragen. Und zur Schau trägt man halt nur Erfolg. Der wiederum bemisst sich hier und auch sonst halt vor allem ökonomisch. Und das, Entschuldigung, wenn ich da jetzt noch mal einhake, empfinde ich als schädlich. Nach München passt dieses Zurschaustellen auch deshalb so hervorragend, weil es historisch eingebettet ist. Erstens in die Architektur: Die Stadt strotzt vor Kulissen und demnach fühlen sich auch alle wie Schauspieler. Ein eitler Maskenball. Zweitens politisch, weil es eine stringente Verbindung vom Wittelsbacher Herrscherhaus, mit so glanzvollen Gestalten wie Ludwig dem Zweiten, über Strauß bis Stoiber gibt. Und der Rest sind Hofstaat, Narren, so wie Mooshammer, und Promis, die den nötigen Größenwahn nur mit ner Prise Koks gebacken kriegen. Es is a Woansinn. Am meisten gefreut hat mich daher der Feinstaub-Alarm. München für ein paar Wochen als Hauptstadt des Rußes in Deutschland. Dabei hatte man sich doch so eine Mühe mit dem Dreck gegeben. Der eine Dreck ins Bahnhofsviertel, der andere ins Hasenbergl. Tja, aber der feine, der ganz feine Dreck, der hat sich halt in allen Ecken der Stadt schon festgesetzt.“

 

Kategorien
Mixed

Reine Ruhe statt Radau und Rabatz

Telepolis, 18.10.2005

Nach dem Feinstaub erscheint die nächste EU-Richtlinie am Horizont, die vor allem eine Reduzierung des Verkehrslärms zur Folge haben wird

Die Auflage aus Brüssel ist eindeutig: Der Lärm in den europäischen Ballungszentren soll abnehmen, bis 2008 müssen Maßnahmen entworfen sein, die helfen, dass es hier erheblich leiser wird. Der Bundestag übernahm das EU-Verdikt aus dem Jahre 2002 mit dem Namen EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm (1) erst im Juni 2005. Nun herrscht Zeitdruck. Über die konkrete Umsetzung (2) wird nun gestritten, denn durch welche Maßnahmen der Krach auf den Straßen, Flughäfen und Gleisen abnehmen soll ist unklar.

Zunächst müssen bis 2007 die Lärmbelastungen in 31 deutschen Großstädten, an 12 Flughäfen, den Hauptverkehrsachsen mit mehr als 16.000 Kfz am Tag und einigen Haupteisenbahnstrecken kartografiert werden. Die grafische Aufbereitung dieses Lärms ist aufwändig, die Kosten werden auf mindestens 60 Millionen Euro geschätzt. Einige Städte, wie beispielsweise Bonn, sind mit der Erstellung dieser Schallimmissionspläne (vulgo: Lärmkarten) schon fortgeschritten (3), in den meisten Großstädten – wie zum Beispiel in Hamburg – steht man am Anfang (4).

Sieht man von den Lärmausstößen von Flugzeugen, Eisenbahnen und Industrieanlagen einmal ab, so ist es vor allem der Straßenverkehrslärm, der heute und in Zukunft in die Bürgerohren gelangt. Trotz hoher Spritpreise wird in Deutschland soviel Auto gefahren wie nie, 2004 haben sich der Gesamtverbrauch an Kraftstoffen und damit die klimarelevanten CO2-Emissionen gegenüber 2003 wieder erhöht. In den nächsten zehn Jahren, so die Prognose, wird der Kfz-Verkehr um rund 25%, der LKW-Verkehr um mindestens 50% ansteigen.

Anhand der Lärmkarten müssen in einem zweiten Schritt bis 2008 so genannte „Aktionspläne“ zur Vermeidung und Verminderung von Lärm erarbeitet werden. Schon bei der Erstellung der Karten wird es zu Zeitverzögerungen kommen, korrekte Aktionspläne aber werden die wenigsten Städte bis dahin vorlegen können. Damit steht Deutschland nicht allein da – im Gegenteil: In vielen europäischen Ländern ist die EU-Richtlinie nicht einmal in Fachkreisen virulent.

Die EU gibt keine Grenzwerte vor, die Aktionspläne werden aber überall dort zum Tragen kommen, wo am Tag durchschnittlich 65 dB(A) überschritten werden. Zum Vergleich: Die Lärmkarten von Hamburg und anderen Großstädten verzeichnen regelmäßig einen Straßenlärmpegel zwischen 60 und 65 Dezibel tagsüber.

Wie nun aber den nervenden Rabatz eindämmen? Lärm berechnet sich logarithmisch, zehn Dezibel mehr bedeuten eine Verzehnfachung der Schallenergie, drei Dezibel eine Verdoppelung. Ansonsten gelten die nationalen Vorschriften. Das deutsche Bundes-Immissionsschutzgesetz ( BImSchG (5)) sieht zwar Grenzwerte (etwa für Wohngebiete von 59 Dezibel tagsüber und 49 Dezibel nachts) vor, aber: Dieses Gesetz gilt nur für den Neubau und die wesentliche Änderung von Straßen und Schienenwegen.

Zusammen mit den technischen Maßnahmen ist zunächst eine überdachte Verkehrsleitpolitik Erfolg versprechend. Auf lange Sicht, so sind sich zumindest diejenigen Experten einig, die den Individualverkehr nicht für eine der ehernen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts halten, mehr aber noch eine Politik, die Verkehr zu vermeiden sucht.

OPA oder 2 OPA?

Spätesten ab 50 km/h, so die Forschung, ist es nicht mehr der Motor, sondern der Reifen, der ein Automobil zum Radaubruder macht. Die Abrollgeräusche der Pneus übertönen das Antriebsaggregat. Die Industrie experimentiert daher seit Jahren mit leisen Reifen und offenporigen Straßendecken, es ist von speziellen Gummimischungen, Radhausabsorbern und „Flüsterasphalt“ die Rede. Zwar sind moderne Reifen durchaus leiser als ihre Vorgänger, noch immer aber stehen Haltbarkeit und Hochgeschwindigkeit im Vordergrund bei Käufern und Entwicklern.Als ein Wundermittel zur Lärmbekämpfung gilt offenporiger Asphalt (OPA). Hierbei verläuft sich der Schall in kleinen Hohlräumen im Straßenbelag. Auf Schnellstraßen und Autobahnen konnten Reduzierungen der Emissionen um bis zu fünf Dezibel gemessen werden, was etwa einem Drittel der Schallabstrahlung entspricht. Unklar ist aber bislang, wie lange der empfindliche Asphalt hält. Ergebnisse aus Kopenhagen, wo die leise Decke verlegt wurde, deuten darauf hin, dass der ohnehin teurere Belag alle sechs Jahre ausgetauscht werden muss, wenn er seine dämpfenden Eigenschaften behalten soll.

Innerorts ist die Verwendung des „Flüsterasphalts“ zudem mit Problemen verbunden. Um einige zu nennen: Die Drainagen für den seitlichen Abfluss von Flüssigkeiten aus der Poren sind in der Stadt bei Straßen mit Bordsteinen sehr teuer, das Auftrennen und der anschließende Neuguss der Asphaltdecke bei Kabelverlegungen oder Kanalisationsarbeiten zerstört die Drainagewirkung, auslaufende Kraft- oder gar Giftstoffe dringen in den Asphalt ein, Salz und Split-Einsatz müssen neu koordiniert werden.

Um Teile dieser Probleme aufzulösen, befindet sich in Augsburg seit August 2003 ein zweilagiger, offenporiger Asphalt (2OPA) in der Testphase. Die obere Schicht gleicht dem normalen Asphalt und lässt keinen Schmutz durch, erst die zweite Schicht schluckt die Roll- und Antriebgeräusche. Laut bayerischen Landesamt für Umweltschutz (6) ist der 2OPA „ein voller Erfolg“. Die Minderung des Verkehrslärms gegenüber den Abschnitten ohne diesen speziellen Asphalt betrüge sieben dB(A). In Ingolstadt wurde der Belag dieses Jahr ebenfalls neu gegossen, eine erste Testmessung ergab laut dem bayerischen Umweltministerium eine Lärmverringerung von sechs Dezibel; das wären 75 Prozent. Ob der 2OPA auch in der Innenstadt eingesetzt werden kann und sollte ist umstritten.

Insgesamt, so schätzt Christian Popp von Lärmkontor (7) in Hamburg, lassen sich die Reifen-Fahrbahngeräusche mit den beschriebenen Maßnahmen langfristig um etwa fünf Dezibel, im Stadtverkehr um etwa drei Dezibel verrringern. Aus seiner Sicht müssen alle Pläne zum Lärmabbau viel deutlicher auf eine Änderung der Geschwindigkeit und die Förderung des Umweltverbundes setzen. Das heißt: zu Fuß gehen, Rad fahren, ÖPNV nutzen. „In Städten muss sich die Kfz-Geschwindigkeit, je nach Bebauungssituation, zwischen 30 und 50 km/h einpendeln.“ Dabei sei darauf zu achten, dass durch eine intelligente Straßenverkehrsführung ein stetiger Fluss des Verkehrs gewährleistet ist. Denn: „Anfahrende Autos erzeugen nun einmal mehr Lärm als gleichmäßig vorbei fahrende.“

Auch der jetzt veröffentliche Bericht des Sachverständigenrates für Umweltfragen (8) beim Bundesumweltministerium sieht ein Autobahn-Tempolimit von 120 km/h und im innerörtlichen Bereich 30 km/h vor. Das Gremium übergab der Bundesregierung ein Gutachten mit einem klaren Fazit: Das Auto schädige trotz aller technischer Fortschritte die Gesundheit weiterhin erheblich. „Die durch den Straßenverkehr verursachten Folgeschäden an Gesundheit und Umwelt“, so die Professoren, „sind nach wie vor unakzeptabel hoch“.

Laut Gutachten sind über 16 % der Bevölkerung nachts Pegeln von mehr als 55 dB(A) ausgesetzt. 15,6 % sind tagsüber Pegeln von mehr als 65 dB(A) ausgesetzt. Ab diesen Werten, darüber ist man sich einig, bestehe ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nervtötender Krach ist kein Einzelphänomen: 64 % der Bundesbürger fühlen sich durch Alltagslärm belästigt, sagt eine Studie des Umweltbundesamtes.

Die Macht der Spurt-Lobby hat bislang weitere Möglichkeiten der Lärmreduzierung verhindert

Dabei stehen die Alternativen bereit: Öffentlicher Personennahverkehr, Radfahren und der simple Fußgang stehen ganz oben auf der Liste, wenn es um Verkehrsvermeidung geht. Städte wie Zürich wurden durch solche Verkehrsplanungen erheblich befriedet. Die Stadt der kurzen Wege, in der Arbeit, Leben und Wohnen nicht mehr nur durch Autos zusammen geführt werden, ist für die Experten keine Utopie mehr, sondern naheliegendes und notwendiges Planungsziel. Und: Für die beteiligten Städte und Regionen muss die Investition in Lärmschutz nicht nur mit Kosten verbunden sein. Der Standortfaktor „Ruhe“ gewinnt zunehmend an Wert und damit auch der Grundstückswert in ruhigen Lagen. Kostenentlastungen im Gesundheitssystem wären eine weitere Folge von Lärmreduzierung.

Alternative Mobilitätsgarantien fristen nach wie vor ein Nischendasein, Erdgasfahrzeuge und Solarmobile haben auf dem Markt kaum eine Chance, der Hybrid-Antrieb setzt sich nur langsam durch. Die Macht der Spurt-Lobby hat bislang weitere Möglichkeiten der Lärmreduzierung verhindert: Ein Tempolimit auf Autobahnen würde nicht nur den Krach, sondern auch Unfallhäufigkeit und Schadstoffausstoß verringern. Fast scheint es, als ob die gesamte weltweite Automobilindustrie sich am deutschen Vorbild orientiert. Nach wie vor werden vor allem Automobile gebaut, die mit Hochgeschwindigkeit überzeugen wollen.

Für die gesamte Vollgas-Fraktion wäre es ein ökonomisches und psychisches Gräuel, zukünftig eventuell gleich doppelt ausgebremst zu werden: Auf der Autobahn schleichen müssen und in der Stadt sogar nur kriechen dürfen. Das schnelle Auto ist nach wie vor Machtsymbol und seit Jahrzehnten Innitiationsinstrument beim Übergang vom Jugend- ins Erwachsenendasein. Das mit Emotionen beladene Auto wird in der Freizeit heute noch häufiger genutzt als in den 90er Jahren – und auch die Fahrt zum 400 Meter entfernten Briefkasten ist nach wie vor üblich. Dieses Bewusstsein zu verändern, dürfte eine der schwierigen Aufgaben der Zukunft sein.

Zunächst aber wird die EU-Lärmrichtlinie für Krach in den Parlamenten sorgen. Die Aufregung wird sich zwar zunächst in Grenzen halten, denn individuell einklagbar sind diese Grenzwerte vor Gericht nicht. Gleichwohl stehen die Metropolen unter Zugzwang, denn die EU will Verstöße mit hohen Geldbußen ahnden.
Links

(1)
(2) http://217.160.60.235/BGBL/bgbl1f/bgbl105s1794.pdf
(3)
(4) http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/stadtentwicklung-umwelt/umwelt/laerm/schallimmissionsplaene/altona/start.html
(5) http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/bimschg/
(6)
(7) http://www.laermkontor.de
(8)

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21047/1.html

Kategorien
Rezensionen

Rezension: Mind-Altering and Poisonous Plants of the World

HanfBlatt Nr. 119

Mind-Altering and Poisonous Plants of the World

Eine weitere Enzyklopädie bewusstseinsverändernder und giftiger Pflanzen

Südafrika ist ein Land mit einer bedeutenden psychoaktiven Flora. Der Konsum des lokalen Rauschhanfes („Dagga“, „Insango“) hat eine Jahrhunderte zurück reichende Geschichte. Leider besteht dort nach wie vor ein das gestürzte weisse Apartheitregime überdauerndes ursprünglich rassistisch motiviertes Cannabisverbot. Trotzdem wird der Hanf weiterhin als Genuss- und Heilmittel gebraucht. Der Südafrikaner Ben-Erik van Wyk, Professor für Botanik an der Universität von Johannesburg, ist ein Experte für die Nutzpflanzen seiner Heimat. Die unter seiner Mitwirkung bereits erschienenen Nachschlagewerke „Medicinal Plants of South Africa“ und besonders „People`s Plants“ sind unverzichtbar für jeden, der an den lokalen Heil- und Genussmitteln interessiert ist. Wyk ist besonders bewandert in Sachen „Channa“ (Mesembryanthemum tortuosum et.al., Sceletium), einem milden gekauten oder gerauchten Psychoaktivum, auf dessen medizinische Anwendung er Patente erworben hat. Mit Spannung erwartet wurde sein jüngstes mit Michael Wink, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Universität Heidelberg, verfasstes Nachschlagewerk „Mind-Altering and Poisonous Plants of the World“, das zeitgleich in deutscher Übersetzung erschienen ist. Attraktiv übersichtlich gestaltet und mit zahlreichen exzellenten Farbfotos und Tabellen angereichert kann es in Anbetracht der Fülle der Materie trotz seines Gesamtumfangs nur einen Einstieg bieten. Nach einem kurzen auf Vergiftungen abhebenden Intro werden in 204 sehr knapp gehaltenen jeweils einseitigen Porträts wichtige Giftpflanzen und -pilze mit oder ohne psychoaktive Wirkungen sowie deren Verwandte vorgestellt. 98 informationsüberladener Seiten sind diversen „Toxinen“ gewidmet. Ein lange Liste giftiger und/oder psychoaktiver Pflanzen und Pilze, sowie ein Glossar ergänzen die Zusammenstellung. Die wegweisende monumentale „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“ des Genussmittelafficionados Dr. Christian Rätsch, die man hier mal wieder in einem Atemzug preisen muss, kann sie nicht ersetzen.

 

Michael Wink/ Ben-Erik van Wyk
„Mind-Altering and Poisonous Plants of the World.
A Scientific Accurate Guide to 1200 Toxic and intoxicating Plants.“
Timber Press 2008
www.timberpress.com
Geb., 464 S., zahlreiche Abb.
ISBN-13: 978-0-88192-952-2