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Elektronische Kultur Mixed

Freiflug für Buchschnipsel

Telepolis, 30.06.2006

Das Hamburger Landgericht beschert Google mehr als einen Teilerfolg beim Aufbau ihrer digitalen Bibliothek

Krawatten wurden zurechtgerückt, die Roben übergeworfen, dann ging es hinein in Raum 347 des Hamburgischen Landgerichts. Der Kläger: die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1) (WBG), Verlag und Buchgemeinschaft aus Darmstadt, rund 90 Angestellte. Die Beklagte: Google, Medienkonzern und Suchmaschine mit Hauptsitz in Kalifornien, rund 3.000 Angestellte weltweit. Welche Gewichtsklassen hier gegeneinander antreten, wurde auch an der Anzahl der Anwälte deutlich. Genau einer vertrat die WBG, vier saßen für Google im Ring, einer hatte sogar den weiten Weg aus Mountain View auf sich genommen. Das Streitobjekt: die deutsche Sektion der Buchsuche (2) von Google. Durch das massenhafte Einscannen von Büchern baut die Firma eine riesige Bibliothek für die Volltextsuche im Internet auf.

Die WBG sieht in diesen Vorhaben eine Verletzung ihrer Rechte, denn vor einiger Zeit tauchten Teile von urheberrechtlich geschützten Werken des Verlags bei Google auf. „Kein Problem“, sagte man bei Google wie üblich, „es gibt doch Opt-Out.“ Dieses Verfahren bietet man jedem Verlag an, der seine Bücher nicht in den Ergebnisfenstern sehen will. Das reichte der WBG nicht, man beantragte vor Gericht eine „einstweilige Verfügung“, ein scharfes Instrument, das Google im Falle einer Niederlage dazu gezwungen hätte, alle Digitalisierungsvorgänge sofort zu stoppen. Dementsprechend alarmiert war man in Kalifornien und dementsprechend böse auf die WBG, die ein Geschäftsmodell im Eilverfahren eingefroren hätte.

Bevor man vor Gericht zu den Kernfragen vorstoßen konnte, suchten die Google-Anwälte daher der Klage schon auf formaler Ebene den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dem Hauptgeschäftsführer der WBG, Andreas Auth, warf man die Widersprüche in der Aussage vor, wann er von der angeblichen Urheberrechtsverletzung erlangt hätte. Zudem wurde die Aktivlegitimation bestritten, also die Befugnis der WBG, überhaupt einen Anspruch geltend zu machen. Und der WBG wurde vorgeworfen, dass sie nur als Stellvertreter für den Börsenverein herhalten würde. Fakt ist nur: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels unterstützt das Musterverfahren, er trägt auch die Prozesskosten.

Um das Eilverfahren und die Bedrohung des gesamten deutschen Buchhandels zu rechtfertigen, sprach der Anwalt der WBG von einer „netzartigen Ausbreitung“ des Google-Imperiums und bezeichnete die Geschäftsidee der Buchsuche als „plattwalzen“. Tatsächlich arbeitet der Börsenverein derzeit am Projekt „Volltextsuche online“, mit dem künftig auf digitale Inhalte zugegriffen werden kann. Aber Google hat hier wieder einmal Fakten geschaffen, jedwedes neue System wird es schwierig gegen den Platzhirsch haben.

Um in der Voranhörung des Prozesses aufgeworfenen Fragen endgültig zu klären, reichte der WBG-Anwalt sodann Testamentsauszüge ein, die eine Klagelegitimation bekräftigten sollten. Nach einer Stunde Verhandlungsdauer ließ sich der vorsitzende Richter zur Bemerkung hinreißen, dass man „zu den wirklich interessanten Punkte noch nicht gekommen“ sei. Die Kernfrage, die das Gericht zu beantworten hatte: Hat Google das Urheberrecht verletzt?

Die Antwort: Nein. Denn, so die Richter, die fraglichen Bücher habe Google nach entsprechender Aufforderung der WBG umgehend aus dem Netz genommen. Und: Googles Vorgehen, immer nur kurze Ausschnitte („Snippets“) zu zeigen, deute ebenfalls darauf hin, dass das Urheberrecht gewahrt bleibe. Ein Zusammenpuzzeln eines Werkes bis zur Vollständigkeit sei nicht möglich. Gleichzeitig, so deutete das Gericht an, sei man aber mit der Opt-Out Funktion grundsätzlich „nicht glücklich“.

Das Gericht gab dem Kläger zehn Minuten Zeit, man beriet sich. Dann war klar, die WBG zieht den Antrag zum Eilverfahren zurück. Man trägt die Kosten des Verfahrens, bei einem Streitwert von 100.000 EUR rund 2.500 EUR. Triumphgrinsen bei Google.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, spricht (3) nun davon, Googles Vorgehen weiterhin aufmerksam zu beobachten: „Insgesamt aber ist die Situation unbefriedigend, weil jederzeit eine weitere Urheberrechtsverletzung drohen kann. Dadurch wird dem Missbrauch geistigen Eigentums Tür und Tor geöffnet.“

Google hat mit verschiedenen Universitätsbibliotheken in den USA Kooperationsverträge über die Digitalisierung von Büchern aus deren Bestand abgeschlossen. Nicht nur WBG und Börsenverein vertreten die Auffassung, dass Google von den Universitätsbibliotheken keine Lizenzen zur Vervielfältigung und Online-Nutzung erwerben können, weil diese keinerlei Verwertungsrechte an ihren Buchbeständen haben.

In den USA und Frankreich sind ähnliche Prozesse anhängig. Das Hamburger Landgericht wollte sich mit dieser Frage nicht befassen, da sie nach seiner Ansicht nur in den USA geklärt werden kann.

Bei Google versteht man die Aufregung ohnehin nicht ganz. 75 Prozent aller urheberrechtlich geschützten Bücher seien nicht mehr lieferbar. Die wolle man auffindbar machen. Eine Reihe deutscher und europäischer Verlagen sieht das ähnlich und in Googles Buchsuche ein sinnvolles Marketinginstrument. So kooperieren heute bereits mehr als 10.000 Verlage mit Google.
Links

(1) http://www.wbg-darmstadt.de/
(2) http://books.google.de/
(3)

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/23/23002/1.html

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Cannabis Drogenpolitik Interviews Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Carsten Schäfer, Autor der Max-Planck Studie über Cannabiskonsum und Strafverfolgung in der Bundesrepublik

telepolis, 18.06.2006

Von der ewig missachteten Gerichtsentscheidung

Interview mit Carsten Schäfer, Autor der Max-Planck Studie über Cannabiskonsum und Strafverfolgung in der Bundesrepublik

Vor zwölf Jahren gab ein Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe den Anschub zu einer politischen Diskussion und gesellschaftlichen Entwicklung, die bis heute anhält. In ihrer „Cannabis-Entscheidung“ legten die Richter fest, dass ein gelegentlicher Eigenkonsum von Haschisch oder Marihuana straflos bleiben soll. In einem zweiten Schritt verpflichtete das Gericht die Bundesländer dazu, die Strafverfolgung von Haschisch- und Marihuana-Konsumenten anzugleichen. Es könne nicht sein, so die Richter, dass in Bayern der Konsum viel härter als in Schleswig-Holstein verfolgt würde. Seither herrscht Verwirrung in der Republik. Die Entscheidung fiel in die Ära von Love-Parade, Neo-Hippies und Spaßkultur, viele interpretierten den Richterspruch als Quasi-Legalisierung von Cannabis. Kiffen war cool, alle wollten dabei sein, die Konsumenten schienen immer jünger zu werden. Von den Bundesländern wurde der Auftrag eine im wesentlichen gleichmäßigen Rechtsanwendung zu garantieren und ihre Vorschriften zu harmonisieren tapfer ignoriert.

Jetzt scheint Bewegung in die festgefahrene Situation zu kommen: Das Bundesgesundheitsministerium hatte beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg eine Studie in Auftrag gegeben, die die gegenwärtige Rechtspraxis untersuchen sollte. Zusammen mit Letizia Paoli analysierte Carsten Schäfer über 2000 Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und befragte Experten zur Lage der „Kiffernation“. Im Interview spricht Schäfer, der heute als Staatsanwalt in Baden-Baden tätig ist, über erwachsene Ersttäter, den umstrittenen Begriff der „geringen Menge“ und den Unterschied zwischen juristisch und politisch zu klärenden Fragen.

Frage: Herr Schäfer, durch ihre Studie haben sie ein umfangreiches Bild über die Strafverfolgung bei Cannabis-Besitz gewinnen können. Ist die Praxis der Verfahrenseinstellung in den verschiedenen Bundesländern gravierend unterschiedlich?

Antwort: Aus meiner Sicht ja. Die Unterschiede ergeben sich insbesondere aus den unterschiedlichen Höchstewerten für die Anwendung des § 31 a BtMG, die zumeist in Länderrichtlinien festgelegt sind (zwischen 6 g und 30 g), insbesondere aber aufgrund der Unterschieldichen Anwendung des § 31 a BtMG auf Wiederholungstäter. Insbesondere bei Letzterem ergibt sich eine sehr große Bandbreite: von der Anwendung nur auf Ersttäter, bis zu regelmäßigen oder gar obligatorischen Anwendung bis zu bestimmten Cannabis-Höchstwerten. Dies führt auch in der Praxis zu den festgestellten und auch prozentual messbaren Unterschieden. Da die absolute Mehrzahl aller Cannabis-Konsumentendelikte sich in einem Grammbereich deutlich unter sechs Gramm abspielen, haben hier die unterschiedlichen Höchstgrenzen keinen großen Einfluss.

Foto Carsten Schäfer
Carsten Schäfer

Frage: Eine andere Frage ist aber, ob diese gravierenden Unterschiede auch zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Rechtspraxis geführt haben.

Anwort: Hier gibt es derzeit noch sehr wenig Rechtsprechung und kaum Literatur. Diese Frage ist aus meiner Sicht – auch nach Vorliegen unserer Studie – vollkommen offen. Der Grund: Die förderalistische Grundstruktur des GG verbietet grundsätzlich die Anwendung des Art. 3 GG – und damit des Gleichheitssatzes – über die Bundesländergrenzen hinweg. Verlangt wird vom Bundesverfassungsgericht eine „im Wesentlichen gleichmäßige Rechtsanwendung“, ohne dass dies allerdings bisher konkretisiert worden wäre.

Frage: Also kann es auch in Zukunft normal und rechtskonform sein, wenn in den Ländern unterschiedlich bestraft wird? Die Bundesregierung sieht ja auch nach der Veröffentlichung ihrer Studie weiterhin „primär die Länder in der Verantwortung“.

Antwort: Grundsätzlich ist eine unterschiedliche Rechtspraxis zulässig, die Frage ist jedoch „wie“ unterschiedlich diese sein darf. Hier ist es auch weiterhin grundsätzlich die Pflicht der Länder, durch Anpassung der Richtlinien für eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu sorgen. Erst wenn dieses nicht gelingt, und ein Ergebnis unserer Studie war ja, dass trotz der Cannabis-Entscheidung aus dem Jahr 1994 (!) bisher keine Einigung erzielt werden konnte, wäre der Bundesgesetzgeber in der Pflicht, durch Neuregelung des § 31 a BtMG für eine gleichmäßigere Rechtsanwendung zu sorgen. Dies aber nur unter der Prämisse, dass der Gesetzgeber aufgrund unserer Studie Handlungsbedarf sieht. Sieht er das nicht und belässt alles beim Alten, wäre letztendlich das Bundesverfassungsgericht – nach erneuter Vorlage dieser Streitfrage durch ein erstinstanzliches Amtsgericht – berufen, dies zu entscheiden und die derzeitige Rechtspraxis als verfassungskonform oder verfassungswidrig zu erklären.

Frage: Hier gibt es dann ja ein weiteres Problem: Da Art. 3 GG nicht anwendbar ist, besteht grundsätzlich auch kein Anspruch des betroffenen Cannabis-Konsumenten auf Gleichbehandlung.

Antwort: Richtig. Ein Beschuldigter, der z. B. in Bayern wegen Besitz von 10 g Cannabis angeklagt und verurteilt wird kann sich also grundsätzlich nicht darauf berufen, dass er zum Beispiel in Berlin oder Schleswig-Holstein nicht verfolgt würde! Lediglich ein zu entscheidendes Amtsgericht kann der Rechtsauffassung sein, dass die Rechtslage so ungleich ist, dass der § 31 a BtMG in seiner jetzigen Fassung nicht verfassungskonform ist und diese Frage sodann Karlsruhe vorlegen.

Frage: 12 Jahre nach der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts ist man also nicht nur keinen Schritt weiter gekommen, die Frage nach der „geringen Menge“ droht zur endlosen Geschichte zu werden. Existieren solche Burlesken in anderen Rechtsbereichen auch?

Antwort: In der empirischen kriminologischen Forschung wurden auch bei anderen Opportunitätseinstellungen im Bereich der sogenannten Bagatellkriminalität unterschiedliche Rechtsanwendungen festgestellt. Hierbei handelt es sich um Einstellungen wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO, etwa bei Diebstählen mit geringfügigem Schaden. Das Problem besteht darin, dass der Beschuldigte hinsichtlich der Nichtanwendung sogenannter Opportunitätseinstellungsvorschriften durch die Staatsanwaltschaft – und hierzu gehört nebend dem erwähnten § 153 StPO u. a. auch der hier behandelte § 31 a BtMG – kein Rechtsmittel einlegen kann. Somit gelangen die Voraussetzungen des § 31 a BtMG nicht zur Überprüfung höherrangiger Gerichte, die mit ihrer Rechtsprechung für eine gleichmäßige Rechtsanwendung sorgen könnten. Voraussetzung einer Einstellung nach § 31 a BtMG ist neben der geringen Menge auch eine geringe Schuld, und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Diese „unbestimmten Rechtsbegriffe“ unterliegen grundsätzlich der Auslegung durch den sachbearbeitendenden Staatsanwalt, regelmäßig gesteuert durch Länderrichtlinien, die durch diesen bindend anzuwenden sind. Unterschiedliche Richtlinien im Bundesgebiet führen so fast zwangsläufig zu einer unterschiedlichen Rechtsanwendung, ohne dass höhere Gerichte, etwa der BGH, regulierend eingreifen könnten.

Frage: Welche cannabisbezogenen Tatbestände führen häufig zur Einstellung des Verfahrens seitens der Staatswaltschaft und Amtsgerichte?

Antwort: Im Rahmen unserer Studie hat sich eine „Idealkonstellation“ herauskristallisiert, bei der davon ausgegangen werden kann, dass in allen von uns untersuchten Bundesländern eine Einstellung des Verfahrens nach § 31 a BtMG erfolgt: Bei erwachsenen Ersttätern ab dem 21. Lebensjahr, Umgang mit einer Cannabismenge unter 6 g, keine Fremdgefährdung und lediglich eine Tatbegehung. Diese Verfahrenkonstellation betrifft allerdings nur knapp 20 % aller untersuchten Cannabisverfahren. Bei den Amtsgerichten werden hauptsächlich Verfahren gegen Jugendliche bis 18 Jahren beziehungsweise gegen Heranwachsende bis 20 Jahren nach dem Jugendstrafrecht eingestellt. Zumeist gegen die Ableistung von Arbeitsauflagen. Hier ließ aber die Untersuchung aufgrund der geringeren Fallzahlen keine Klassifizierungen zu. Regelmäßig dürfte es sich um Delikte handeln, die geringfügig oberhalb der für eine Einstellung relevanten Kriterien angesiedelt sind; etwa bei Mengen knapp oberhalb des Höchstwertes, oder – bei konservativeren Bundesländern – erstmaliger Wiederholungstat. Andere Einstellungen durch die Gerichte sind von eher untergeordenter Bedeutung.

Frage: Und auf der Ebene der Staatsanwaltschaften?

Antwort: Im Rahmen der Untersuchung konnten lediglich in Bayern und Sachsen Einstellungen mit Auflagen in nennenswerter Anzahl beobachtet werden. Auch hier handelt es sich überwiegend um Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende. Dies führt letztlich auch zu den oben dargestellten Ungleichheiten bei Abweichungen von der beschriebenen „Idealkonstellation“, wenn man den Parameter „Alter“ des Täters verändert. Insbesondere in Bundesländern mit liberalerer Einstellungspraxis wird hier aber regelmäßig nach § 31 a BtMG, bei Jugendlichen auch nach Jugendrecht, § 45 Abs. 1 JGG, also ohne Auflagen eingestellt.

Frage: Neben der Auswertung von knapp 2000 Akten haben sie für ihre Untersuchung auch Gespräche mit Amtsrichtern, Polizisten und Strafverteidigern geführt. Kann man deren Einschätzung in Bezug auf die Rechtspraxis der Strafverfolgung von Cannabis-Konsumenten länderübergreifend zusammenfassen?

Antwort: Grundsätzlich konnten wir im Rahmen unserer Expertenbefragungen feststellen, dass in der Justiz (Staatsanwaltschaften, Gericht) zwar bekannt ist, dass gewisse Unterschiede und ein Nord-Süd-Gefälle bestehen, im großen und ganzen jedoch wenig über die Rechtspraxis in anderen Bundesländern – insbesondere etwa die Höhe der unterschiedlichen Grenzwerte – bekannt ist. Naturgemäß sind es eher die Stravferteidiger, die sich diesbezüglich bereits Wissen angeeignet haben. Allerdings war auch zu beobachten, dass die Einschätzung stark von der konkreten Problemlage abhängt. In ländlichen Gebieten ist die Belastung mit BtM-Verfahren, insbesondere auch was die sogenannten „harten“ Drogen anbetrifft, bei weitem nicht so ausgeprägt wie in Großstädten oder in grenznahen Bezirken wie beispielsweise Aachen. Dies hat natürlich auch Einfluss auf die Strafverfolgung von Massendelikten, wie es Konsumentendelikte mit kleinen Mengen Cannabis sind. Letztendlich werden diese Delikte in Bezirken mit hoher Belastung eher nierderschwellig behandelt und zwar nicht nur auf Seiten der Staatsanwaltschaften durch vermehrte Einstellungen, sondern bereits auf Ebene der Polizei durch die Anwendung vereinfachter Verfahren, bei denen die Ermittlungstätigkeit auf ein Minimum beschränkt und insbesondere auf ausführliche Beschuldigtenvernehmungen verzichtet wird. Dies spiegelt sich dann natürlich auch in der Einschätzung der Problemlage durch die Ermittlungsbeamten wider.

Frage: Kann man nach den Ergebnissen ihrer Studie die praktikable Höhe der „geringen Menge“ Cannabis genauer festlegen?

Antwort: Das Problem ist ja, dass es sich hierbei um eine rein politische Frage handelt bei gleichzeitig relativ geringer Praxisrelevanz. Im Rahmen der Studie betrafen über 80 % aller untersuchten Cannabisverfahren Delikte im BtM-Mengen unterhalb von 6 Gramm. Dennoch hat beispielsweise die hessische Landesregierung nach dem politischen Wechsel von der SPD zur CDU die Höchstmenge von 30 Gramm auf 15 Gramm Cannabis herabgesenkt, während die Berliner Landesregierung zum Zeitpunkt des Abschlusses unserer Untersuchung umgekehrt eine Anhebung von 15 auf 30 Gramm beschlossen hatte. Aus meiner Sicht ist dieses Problem aber weniger dringlich, als eine Einigung hinsichtlich der Auslegung anderer Kriterien. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 festgelegt, dass der „gelegentliche Eigenkonsum“ straflos bleiben soll. Dies betrifft zweifellos das Kriterium der Wiederholungstäterschaft: wie behandelt man einen Konsumenten, der zum Beispiel mit 2 Gramm Cannabis erwischt wurde, aber bereits ein Jahr zuvor – oder auch schon mehrfach – durch BtM-Besitz oder Erwerb aufgefallen war? Hier entstehen die gravierenden Unterschiede, da dies auch einen prozentual höheren Anteil an Verfahren betrifft. Um auf die Höchstmenge zurückzukommen: Der BGH hat 1998 einmal – ausgehend von einem angenommenen relativ geringen Wirkstoffgehalt 10 Gramm Cannabis ins Spiel gebracht, ohne dass dies allerdings Bindungswirkung für die Staatsanwaltschaften oder Instanzgerichte entfaltet hätte. Dies scheint mir ein tragfähiger Kompromiss zu sein.

Frage: Spielt der Wirkstoffgehalt eine Rolle?

Antwort: Damit ist tatsächlich ein weiteres Problem angesprochen: Grundsätzlich ist juristisch nicht auf die Grammmenge, sondern auf den Wirkstoffgehalt abzustellen. Die Festlegung von Höchstgrenzen für die Anwendung des § 31 a BtMG diente einzig der Verfahrensvereinfachung, da ein an sich notwendiges Wirkstoffgutachten bei Bagatelldelikten unverhältnismäßg wäre. Die derzeitige Diskussion über Marihuana-Produkte mit relativ hohem Wirkstoffgehalt lassen erwarten, dass unter Umständen auch die Diskussion über die Höchstmengen neu entfacht wird. Zumindest in der juristischen Fachliteratur werden Konsequenzen bezüglich der Gefährlichkeitseinstufung von Cannabis neu diskutiert. Hier muss die weitere Entwicklung abgewartet werden.

Frage: Welche Rolle sollte ihrer Ansicht nach das Strafrecht bei der Regulierung des Drogenkonsums der Gesellschaft zukünftig spielen?

Antwort: Ich denke, dass das Strafrecht nach wie vor eine wichtige Rolle spielt und auch spielen muss, man sollte aber die Auswirkungen auf das Drogenkonsumverhalten nicht überbewerten. So hat gerade die Drogenprohibition der letzten Jahrzehnte nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Umgekehrt halte ich aber auch eine Freigabe von Cannabis nicht für angebracht. Aus meiner Sicht wird das Gefährdungspotenzial von Cannabis – insbesondere bei Dauerkonsum Jugendlicher – nach wie vor unterschätzt. Letztlich geht es doch um die Frage, in wieweit der Staat mit seinem schärfsten Schwert – dem Strafrecht – in das selbstbestimmte Handeln des Menschen eingreifen darf. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 in diesem Zusammenhang die Strafbarkeit des Umgangs mit Cannabis grundsätzlich für legitim erklärt, gleichzeitig aber festgelegt, dass ein gewisser Bereich der „selbstverantwortlichen Eigengefährdung“ straflos bleiben soll. Das Gericht hat dies mit „gelegentlichem Eigenkonsum geringer Mengen Cannabis zum Eigenkonsum ohne Fremdgefährdung“ umschrieben. Diese Linie sollte konsequent fortgeführt und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtseinheitlichkeit umgesetzt werden. Wo dann die Grenze der „geringen Menge“ und des „gelegentlichen Eigenkonsums“ gezogen wird, vermag ich nicht zu entscheiden. Im Fahrerlaubnisrecht wird bereits seit längerem zwischen gelgentlichem und regelmäigem Konsum unterschieden und Anhand des Abbauproduktes THC-COOH im Blut bestimmt. Dies könnte auch für das Strafrecht ein gangbarer Weg sein.

Parallel hierzu sollte jedoch die Strafbarkeit nicht aufgegeben werden. Zum einen halte ich gerade die Einwirkungsmöglichkeiten im Jugendrecht für unverzichtbar, denken Sie an die Möglichkeit von suchstspezifischen Auflagen, wie zum Beispiel Drogenscreening, Drogenberatung, ambulante Therapien. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass die Strafbarkeit des Drogenbesitzes häufig auch als Auffangtatbestand für die Bestrafung von Dealern eingreift, denen ein Handeltreiben nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden konnte. Deswegen ist es auch wichtig, dass den Staatsanwaltschaften durch den § 31 a BtMG ein Spielraum verbleibt, in Einzelfällen von der vorgegeben Linie auch abzuweichen.

Literatur:
Carsten Schäfer; Letizia Paoli:
Drogenkonsum und Strafverfolgungspraxis. Berlin 2006, Duncker&Humblot.
447 Seiten. EUR 35,-

 

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Rezensionen

Rezension: Peyote und die Huichol-Indianer

HanfBlatt Nr. 101

Die kleine Gemeinschaft der in Nordwest-Mexiko lebenden Huichol-Indianer, die sich selbst Huixáritari (Wischaaritari ausgesprochen) nennen, ist hierzulande Manchem bekannt durch Ihre herrlichen farbenfrohen Garnbilder (teilweise von hohem künstlerischen Wert) und mit bunten Perlen besetzte Kunsthandwerks-Objekte. In deren Zentrum steht oft der Meskalin-haltige Peyote-Kaktus (Lophophora williamsii). Dieser spielt nämlich in der von christlichen Einflüssen noch relativ unberührten Huichol-Kultur eine zentrale Rolle. Das weckte das Interesse durch die psychedelischen 60er Jahre beeinflusster Ethnologen. Leider schlichen sich in dieser Zeit durch die damalige ethnologische Arbeit einige fälschliche Anschauungen der Huichol-Kultur ein, die die meisten Ethnologen heute nicht mehr teilen und korrigieren mussten. Auf der populären Seite trug der Ethno-Scharlatanismus eines Carlos Castaneda (inklusive einer Reihe ähnlich ambitionierter NachfolgerInnen) zu einem Zerrbild dieser Kultur(en) bei, das sich bis heute in den Köpfen ethnologisch Uninformierter festgesetzt hat.

Nicht nur für an exotischen indigenen Kulturen, sondern auch für am sozial integrierten Gebrauch psychedelisch wirksamer Substanzen Interessierte, ist die Beschäftigung mit der Huichol-Kultur spannend und lehrreich. Nun haben wir das Glück, dass uns Christian von Sehrwald, der die Huichol-Kultur seit 1985 beforscht, ein hervorragendes auf seiner Promotionsarbeit von 2002 basierendes wissenschaftliches Werk vorlegt. Einleitend geht der Autor zunächst auf die problematischen Publikationen der sogenannten UCLA-Riege (Furst, Myerhoff, Delgado, Castaneda) ein. Es folgt eine geographische und historische Einordung des Huichol-Siedlungsgebietes. Dann widmet er sich dem Zeremonialzyklus der Huichol mit dem Schwerpunkt auf der Bedeutung und Rolle des Peyote, aber ohne den Bezug zum kulturellen Ganzen, zum Kosmos der Huichol, zu verlieren. Reizvoll ist dabei auch das Einflechten der eigenen Beobachtungen vor Ort. Die Rolle der Schamanen wird beleuchtet.

Es folgt eine kleine Ethnobotanik, die sich besonders auf Peyote und das psychoaktive Nachtschattengewächs Quieri (Solandra maxima) konzentriert. Schließlich geht es um die Krankheitsbilder und Heilungskonzepte der Huichol, sowie um Opfergaben und die daraus entwickelten Kunstobjekte. Ein umfassender Glossar wichtiger Begriffe aus der Huichol-Sprache und eine gute Bibliographie runden das Ganze ab.
Beim Lesen wird doch deutlich, dass sich die Art und Weise, in der die Huichol den Gebrauch des Peyote zu einem integralen Bestandteil ihres komplexen, für uns schwer nachvollziehbaren Weltbildes und ihrer Kultur gemacht haben, so nicht ohne Weiteres als Vorbild für einen entsprechenden Umgang mit Psychedelika in der westlichen kapitalistisch-materialistischen, wohl auch noch immer christlich verbrämten Welt übertragen lässt. Aber da bilde man sich am Besten seine eigene Meinung. Das vorliegende, obendrein schön aufgemachte Werk ist kurz gesagt eine willkommene Bereicherung für jede psychedelische Bibliothek.
P.S.: Das sei allerdings noch besserwisserisch angemerkelt: Die am Rande aufgestellte Behauptung, dass rund ein Drittel aller Arzneien bis ca. 1920 THC-haltige Auszüge enthielten (S.156), wird sich zumindest für den deutschsprachigen Raum, bei näherer Nachprüfung wahrscheinlich nicht einmal für Hühneraugen- und Asthmamittel halten lassen, den letzten größeren und bereits umstrittenen Indikationsgebieten vor der Unterstellung von Cannabis indica unter das Opiumgesetz von 1929.
az

Christian von Sehrwald
„Auf den Spuren der Götter.
Peyote und die Ethnien Nordwestmexikos unter besonderer Berücksichtigung des Zeremonialzyklus der Huichol-Indianer.“
Nachtschatten Verlag, CH-Solothurn 2005
Geb. mit Su., 316 Seiten, mit vielen SW-Abb. und 4 Farbfoto-Tafeln
ISBN 3-03788-113-5

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Elektronische Kultur

Web 2.0

Telepolis, 07.06.2006

Lass das doch die Community machen

Mit Web 2.0 spielt das Kollektiv wieder eine größere Rolle im Internet. Gleich mehrere Branchen wittern das große Geschäft

Kaum jemand kann momentan das Schlagwort vom „Web 2.0“ ignorieren. Vor einigen Wochen tummelten sich die Zweinuller-Protagonisten beim „Next 10 Years“-Kongress ( Nach der Party ist vor dem Boom – oder doch dem Kater? (1)), jetzt trafen sich Kommunikationsexperten zum Hamburger Dialog (2) im Kongresszentrum der Stadt. Auch hier waren die Erwartungen an die „Neuerfindung des Internet“ groß.

Blogger, Bookmarker, Filmtauscher und Fotot-Communities: Es scheint, als würden plötzlich alle Besitzer eines Modems als Ultra-Kreative wiedergeboren. Die Zahlen sind tatsächlich beeindruckend. Alleine 250.000 Blogs in Deutschland, in Frankreich über 3,5 Millionen dieser Tagebücher. Die Blogger-Suchmaschine Technorati (3) scannt aktuell über 42 Millionen Blogs weltweit, Tendenz weiter steigend. Wie viele davon regelmäßig gepflegt werden, ist unklar. Fest steht: Blogger sind jung, die Hälfte aller Schreiber ist zwischen 13 und 27 Jahren alt. Bekannt geworden durch Krisenjournalismus wird Bloggen heute zum alltäglichen Kommunikationsmittel, wobei die Selbstreferentalität riesig ist. Blogger verweisen gerne auf andere Blogger.

Versorgung einer fragmentierten Verkaufslandschaft

Nun entdecken die Unternehmen die Weblogs und Communities. Es geht um Imageförderung, um Unternehmenskultur und um Maßnahmen der Kundenbindung. Beim Computer- und Softwarehersteller Sun Microsystems bloggen 3.000 der 32.000 Mitarbeiter öffentlich einsehbar. Wichtige Interna bleiben natürlich außen vor. Wer diese ausplaudert, so wie Mark Jen (4), wird entlassen. Der ehemalige Microsoft-Mitarbeiter hatte bei Google angeheuert und in deren Blog fröhlich auf seinen neuen Arbeitgeber gemotzt.

Das dürfte Charles Fränkl nicht so schnell passieren. Seit kurzem bloggt (5) der CEO von AOL-Deutschland über das Wetter in Hamburg. Die Firma Frosta hat einen Unternehmensblog (6), in dem Mitarbeiter über die Ereignisse der Firma berichten sollen. Aber nach anfänglicher Euphorie scheint das Projekt einzuschlafen. Eine Gefahr, die in anderen Bereichen der Web 2.0-Sphäre mit dem Wort „Konsolidierung“ bezeichnet wird.

Am liebsten ist es aber den Unternehmen, wenn ihre Marke mit der Vertrauenswürdigkeit almagiert, die firmenexternen Bloggern zugeschrieben wird. Bei Vespaway (7) treffen sich Vespa-Fans und beglückwünschen sich zu ihrem Hobby. Traum aller Firmen ist es ein aktives Blog an die eigene Website zu binden. Derweil steigt die Popularität einiger Blogger. Opel engagierte jüngst vier solcher „A-Blogger“, um über ihre Erlebnisse mit einem zur Verfügung gestellten Astra zu berichten (8). AMD sucht nun Notebook-Blogger (9). Die Grenze zwischen klassischem Journalismus und Blog-Presse verwischen.

Es gibt viele Beispiele, ob daraus allerdings eine Schule wird, die sich nachhaltig ökonomisch nutzen lässt, ist noch offen. Unter den Top-Ten der deutschen Blogs befinden sich Perlen, die weit unter 1.000 Leser täglich haben. Ketzerisch wurde auf dem „Hamburger Dialog“ gefragt, ob eine Flugblattaktion in der Innenstadt nicht mehr Reichweite hätte.

Social Commerce

Weiter Hoffnungshorizonte zeigen sich: Statt großer E-Commerce-Portale sollen kleine Internetseiten für eine fragmentierte Verkaufslandschaft sorgen. Eines der Beispiele, das dies funktionieren kann, ist die Firma „Spreadshirt“. Jeder kann einen eigenen Shop eröffnen und wird dafür an den Verkaufserlösen von bedruckten T-Shirts beteiligt. Heute soll es bereits 150.000 Shop-Partner geben, Umsätze in der Region von 10 Millionen werden akklamiert. Das Schlagwort hierfür: „Social Commerce“, es soll den Übergang vom Massenmarkt zum Nischenmarkt beschreiben.

Was daran neu ist? Vielleicht wenig, viele haben klein angefangen, wurden groß und drängen nun kleinere Firmen aus dem Wettbewerb. Bis jetzt spricht wenig dafür, dass T-Shirt-Versender die anhaltende Konzentration der Wirtschaftskraft auf multinationale Konzerne aufhalten. Auch in Zeiten von Web 2.0 erwirtschaften unter ein Prozent der Unternehmen 75 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Es dürfte interessant sein zu beobachten, welche Konzentrationsprozesse sich im Rahmen der Blogger- und Community-Sphäre zwangsläufig ergeben werden.

Ohne Konkurrenz in Deutschland ist Open BC:www.openbc.com/ (10), eine kostenpflichtige Kontaktbörse für Geschäftsfreaks. Was zunächst aussah wie ein Treffpunkt für ehemalige Klassenkameraden, entwickelte sich zu einer ernsthaften Geschäftanbahnungsplattform. Der Club rechnet dieses Jahr mit einem Umsatz von mindestens 10 Millionen Euro. Über das Knüpfen von Geschäftskontakten hinaus berichtet inzwischen fast jeder Sechste von Geschäftsabschlüssen mit Open BC-Kontaktpartnern. Der Gründer Lars Hinrich hält in trockener Manier die Bälle trotzdem gerne flach. Auch er spricht von einer „Konsolidierung der Web 2.0-Branche in den nächsten zwei bis drei Jahren“.

Das Aal-Prinzip

Männer wie Andreas Weigand, früher Manager bei Amazon, hoffen gleichwohl weiter. Er prophezeite auf dem Web 2.0-Kongress eine noch stärkere Fragmentierung, „und zwar auf Angebots- wie auf Nachfrageseite“. Der entscheidende Satz, der die Geisteshaltung hinter der ökonomisch forcierten Web 2.0-Aufregung offenlegte, fiel kurz darauf. „Ich vertraue auf das ‚Aal-Prinzip'“, erklärte Weigand dem staunenden Publikum: „Andere arbeiten lassen.“

Aus dieser Sicht ist die Community nur eine Zielgruppe, deren soziale Kohäsion und geistiges Potential ausgenutzt werden soll. Warum, so die rhetorische Frage, sollen wir uns die Finger wund und Kassen leer werben? Zudem an eine Generation, die zunehmend werberesistent ist? Eine Generation, die eventuell immer weniger bereit dazu ist, den Versprechen der glatten Hochglanz-Körper zu glauben? Eine Generation, die selbst hinter anarchisch aufgemachten Spots die Kinderarbeit in Pakistan ausmacht?

Nur daher, so der Verdacht, sind die Vorstandsetagen zur Zeit so sehr vom Begriff der „Communities“ erregt. Deren eigentlicher Zweck, nämlich der Austausch von Wissen und die gemeinsame Identität, wird zur neuen Variable in der Kundenansprache. Und so kommt es, wie so oft im Internet: Eine soziale Idee wird monetär umgemünzt und verliert nicht nur den Charme, sondern eventuell auch ihr Gewicht.

Mix it!

Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Internet mit Web 2.0 tatsächlich eine grundlegende Veränderung ins Haus steht. Private Web-Applikationen greifen auf professionelle Datenbanken zu, die Grenzen zwischen Web- und heimischer PC-Anwendung zerfließen, es wird gemixt und gemasht, plötzlich kann hier jeder mit jedem. Blogs sind nicht nur Tagebücher in HTML, sondern an komplexe Datenbanken und Webservices angeschlossen. Durch Tagging und Trackbacklinks verteilen sich Modifikationen am Blog blitzschnell und auch weit. „Suchmaschinen lieben Blogs“, sagt denn auch Stefan Keuchel, Pressesprecher von Google Deutschland.

Die zugrunde liegende Technik ist für viele Blogger ein Rätsel. Wo früher Nerds im Code wuselten, mit einem Editor HTML-Dateien schrieben, über ftp auf einen Server schoben und ­ wenn es ganz schlecht lief ­ auch noch über Telnet und chmod-Befehle Zugriffsrechte regeln mussten, kann heute Jedermann mit grundlegenden Tastaturbedienungsfertigkeiten seine Ideen grafisch proper aufbereitet ins Web stellen. Das ist einerseits ein unbedingtes Mehr an Beteiligung. Auf der anderen Seite geben damit immer mehr User ihre technische Kompetenz an Software-Hersteller ab. Nur gut, wenn Codes der GPL (11) unterliegen.

Firmen wie Amazon haben den Trend zu Web 2.0 schon früh erkannt und ihre Schnittstellen für Webuser offen gelegt. Seither zeigen sich immer mehr Firmen bereit, den Kunden als Kompagnon anzusehen. Aber während Bloggen einfach ist, gestaltet sich die Anbindung über APIs (Application Programming Interfaces) technisch anspruchsvoll. Auch das mit Web 2.0 eng zusammenhängende AJAX ist kaum ein Feierabend-Hobby und verpflichtet beiden Seiten zum Einsatz neuester Technologien und Clients. Von der mangelnden Barrierefreiheit mal ganz zu schweigen.

Web 2.0-Blase?

Seit 2000 weiß man, es ist Vorsicht vor allzu euphorischen Erwartungen geboten, vor allem dann, wenn der Satz fällt: „In Amerika sind sie da schon viel weiter.“ Dies wurde vor dem Platzen der Internetblase ebenfalls wie ein Mantra wiederholt ­ mit den bekannten Folgen.

Gleichwohl hört man den Verweis auf die USA in den letzten Monaten häufig, nicht zuletzt, weil einige der Großkopferten auf Einkaufstour gingen. Yahoo erwarb zunächst für 20 Millionen Dollar den Bildersammeldienst Flickr (12), später für 30 Millionen Dollar die Online-Bookmarksammlung Del.icio.us (13). Beides mal wieder Portale, die aus purer User-Lust an Gemeinsamkeit entstanden waren. Um den Zug nicht zu verpassen sackte Rupert Murdoch für satte 500 Millionen Dollar MySpace (14) ein. 72 Millionen User, davon ein Fünftel unter 18 Jahre alt, wissen seither nicht so Recht, ob sie sich gut behütet oder vereinnahmt fühlen sollen.

Aber im Gegensatz zum Zusammenbruch im Jahre 2000 soll dieses Mal alles anders sein. Denn, so die Auguren, dieses Mal wird Funktion und nicht Hoffnung verkauft. Tatsächlich ist man schlauer geworden, heute zählen Unternehmensgewinne mehr als windige Geschäftsmodelle. Und eine große und möglichst aktive Community soll Unternehmen helfen, Geld in die Kassen zu spülen. Ausgangspunkt aller Konzepte ist ein verändertes Medienverhalten gerader jüngerer Menschen. Diese kaufen sich nicht einmal mehr eine Lokal- oder Tageszeitung, um die U-Bahnfahrt zu überstehen, sondern informieren sich lieber zu Hause oder sonstwo: und zwar im Internet.

Medien-Imperien

Das Kerngeschäft der Medienunternehmen stagniert. Mit Grauen beobachten Zeitungsverleger das Absinken ihrer Auflage. Und Bücher und DVDs als Abkopplung seien, wie es auf dem Hamburger Dialog formuliert wurde, „als Thema ziemlich ausgelutscht“.

Die Macher von „Bravo“, „Bym“ und „Mädchen“ überlegen fieberhaft, wie die mobile Generation zu fassen ist. Die Lösung: Der Nutzwert der Inhalte im Internet muss den Grundstein für redaktionelle und anzeigengetriebene Erlösmodelle legen. Da passt es, dass die Selbstdarstellungsgesellschaft aufgrund einfacher technischer Tools neu im Netz angekommen. Die Blogs sind sicheres Zeichen einer Emanzipation der User, der nicht mehr nur passiver Rezipient, sondern auch Produzent sein will. Verlage, Unternehmer, Konzerne: Alle träumen von einer Community, deren Mitglieder ihre Homepage mit sprudelnden Ideen flutet. Sanfte Kritik würde sogar akzeptiert werden, auch sie ist dann natürlich Teil der „offenen Unternehmenskultur“. Egal, solange Blogs und Foren die emotionale Nähe verstärken. Dem Schnapshersteller Jägermeister beispielsweise ist das gelungen. Aktuell sollen in der Jägermeister-Community 50.000 User registriert sein.

Teile der Branche gehen von einer völligen Ablösung des klassischen Sender-Empfänger-Modells aus. Gemischt mit dem Umstand, dass sich viele Menschen die komplexe Welt am liebsten von Freunden und Bekannten erklären lassen, werden einige der Online-Communities zu den neuen „Gelben Seiten“ erkoren. Auf diesen Hype setzt auch Qype (15). Hier können registrierte Nutzer lokale Tipps geben und nehmen. Restaurants, Werkstätten, Friseure: Erna aus Wuppertal empfiehlt ihren Frauenarzt, Dieter aus Wanne-Eickel seinen Klempner. Stephan Uhrenbacher, Gründer von Qype, behauptet: „Die Ära der Massenmedien wird von der Ära der persönlichen und partizipativen Medien abgelöst.“

Bei Burda, Springer, Holtzbrinck und Bertelsmann hat man die soziologischen Studien zum veränderten Gesellschaftsbild gelesen ­ und will nun reagieren. Denn Gruppen definieren sich heute weniger als früher über ihre soziale Herkunft, sondern mehr über gemeinsame Interessen. Für Medien- und Werbemacher sind daher die Daten der bislang primär soziodemographischen erfassten Zielgruppen weniger relevant. Kunden können heute durch ihr hinterlegtes Nutzerprofil viel direkter angesprochen werden. Die auf Homepages werbenden Unternehmen kommen so dicht wie nie an ihre Zielgruppe heran, das One-to-One-Marketing ist keine Fiktion mehr. Und der Konsument macht sich freiwillig gläsern.

Der „Heavy-Web-User“, so Sven Dörrenbächer von Mercedes, sei mit klassischer Werbung schwer zu erreichen. Der Autohersteller versuche daher sich dem „digitalen Lifestyle“ seiner zukünftigen Kunden anzupassen. Sein Credo im Kongresszentrum in Hamburg: „Keiner braucht Werbung, jeder braucht Identifikation.“ Mit anderen Worten: Im Rahmen gegenseitiger Annäherungen verpasst der Konzern den Community-Mitglieder über Mixed-Tapes (16) die erste homöopathische Dosis Mercedes. Sie sollen, so Dörrenbächer, zu „brand advocates“ werden.

So sind Communities kein direktes Geschäftsmodell, sondern Maßnahmen der Vertrauens- und Aufmerksamkeitsförderung. Der Erfolg ist dabei von Markenbekanntheit und dem Mehrwert für das Community-Mitglied abhängig. Für Unilever flirtete der „Darf-Coach“, Bayer rief zu „Rettet-die-Liebe“ auf. Und Burda hat sich den Begriff der „Media Communities“ bereits schützen lassen. 2005 wuchs der Umsatz des Unternehmens im Internet um über 36 Prozent auf 174,3 Millionen Euro. Daran soll angeknüpft werden. Die Zeitschrift Bunte startet in Kooperation mit T-Online die Aktion Starshots (17). Jeder kann hier Videos und Fotos veröffentlichen.

Hinter den Mühen steht die schlichte Erkenntnis: „Auf eine Erholung des Kerngeschäfts deutet nichts hin.“ So formulierte es Manfred Schwaiger, der an der Universität München lehrt und eine Studie über Wachstumsfelder für Verlage durchgeführt hat. Die Anzeigenerlöse deutscher Printmedien sanken zwischen 2000 und 2005 um 20%. Die Finanzierung der Online-Auftritte durch Bezahlmodelle funktioniert selten, für Online-Artikel will kaum ein Zeitungskunde zahlen. Der andere und gängige Weg ist daher, Erlöse aus kontextueller Werbung zu beziehen.

Hier sind aber die Internet-Multis wie Google, Microsoft und Yahoo erheblich weiter. Immer mehr Firmen legen ihren Werbeetat lieber Online an. Werbeschaltungen bei den Suchmaschinen sind für beide Seiten lukrativ, für eine Firma ist die Abrechnung transparent, sie kann genau feststellen, welcher Klick über Google tatsächlich zum Kauf eines Produkts geführt hat. Von diesem Spiel wollen sich die deutschen Verlage mit eigenen Vermarktungsmodellen unabhängig machen.

Werbung für Werbung

Die an die Medienunternehmen angehängte Werbebranche will ebenfalls Morgenluft schnuppern. Mit stiller Bewunderung beobachtete man Jahre lang das Verbreiten von Chaos-, Nonsense- und Werbefilmen über Email. Beliebtes Beispiel ist hier Oliver Pocher, dessen Genöle im Media-Markt-Spot über sechs Millionen Mal im Download-Fenster landeten. Wie kann man einen solchen Erfolg vorhersagen? Antwort: durch geistige Krankheitserreger. Die alte Mund-zu-Mund-Propaganda hat es in den virtuellen Raum geschafft und wird nun „virales Marketing“ genannt. Aus den sich über Mail, Foren und Communities virenartig-unberechenbar verbreitenden Schnipsel sollen nun sorgsam geplante Kampagnen werden.

Robert Krause von der Agentur „This Gun is For Hire“ stöhnte auf dem Hamburger Dialog denn auch: „Jetzt sollen sich zwei Millionen Kunden über Haargel unterhalten.“ Auch seine Branche folge alle paar Jahre einem neuen Hype: „Tribal-Marketing“, „Guerilla-Marketing“ „virales Marketing“. Schöne Begriffe, oft war unklar, ob beim Konsumenten etwas von der Aktion hängen blieb. Für Krause ist evident: „Die Idee muss stimmen, dann kann virales Marketing hintendran gehängt werden.“ Ob das dann klappt, sei aber nie sicher, denn „letztlich bleibt es eine Markenaktion“.

Der Erfolg der Communities hängt eng mit ihrer Authentizität zusammen – und die wurde bislang meist deshalb empfunden, weil Marketinginteressen keine Rolle spielten. Der Energieversorger E.ON muss das erfahren. Er baute schon 2002 eine Online-Gemeinschaft auf, die zwei Jahre später wieder geschlossen wurde. Das Interesse an der schlichten Nachricht „Ich-bin-on“ war zu gering geworden.

Links

(1) http://www.telepolis.de/r4/artikel/22/22661/1.html
(2) http://www.hamburger-dialog.de/
(3) http://technorati.com/
(4)
(5) http://www.charles-blog.com
(6) http://www.blog-frosta.de/
(7) http://www.vespaway.com/
(8)
(9) http://amd-notebooks.de/blog/
(10) http://Open BC:www.openbc.com/
(11) http://www.gnu.de/gpl-ger.html
(12) http://www.flickr.com/
(13) http://del.icio.us/
(14) http://www.myspace.com/
(15) http://qype.com/
(16) http://www3.mercedes-benz.com/mixedtape/mixedtape.html
(17) http://www.bunte-starshots.de/

Kategorien
Cannabis Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Amon Barth


Zuender (DIE ZEIT)

Aus Tiefen wieder aufgetaucht

Interview mit dem früheren Hardcore-Kiffer und Buchautoren Amon Barth

Sein Erfahrungs- und Leidensbericht aus seiner Zeit als exzessiver Kiffer verkaufte sich bisher über 20.000 Mal. Amon Barth erzählt darin Geschichte seiner Jugend, die sich zwischen dem 13. und 19. Lebensjahr vor allem um eines drehte: Dope.

Der ersten Joint, die Freude am Kiffen, die Unsicherheit gegenüber Mädchen, der Schulfrust, die kiffene Clique, das Abgleiten in die Sucht. Amon beschreibt seine Wesenveränderung und die Zunehmende Entfremdung von Elternhaus und Umwelt detailliert. Der Raubbau am eigenen Körper wird so weit getrieben, dass bei Amon schließlich eine Psychose ausbricht. 2004 holt er sein Abitur nach und schreibt innerhalb von einem Jahr sein Buch. Den Titel, „Breit. Mein Leben als Kiffer“, sucht er sich nicht selber aus. Heute lebt Amon, 21, in Hamburg. Eher zufällig landet er bei unserer Verabredung mit seinem Teller Pasta genau neben mir und meinem Kaffee. Begrüßung. Nachdem er ausgekaut und ich ausgetrunken habe fangen wir an über sein Leben als Nicht-Kiffer, den Hype in den Medien und eine vernünftige Drogen-Aufklärung zu sprechen.

Was mich in deinem Buch besonders beeindruckt hat, ist der Moment in dem du bemerkst, dass deine Freunde dich beklauen. Hast du das nicht als Einschnitt empfunden?

Dazu muss man meine Position in dieser Clique verstehen. Ich war immer unsportlich und galt eher als der Labersack. Auf der Schule gab es die Streber, die Undefinierbaren, zu denen gehörte ich, und die Cooleren und zu denen wollte ich gehören. Durch das Kiffen wurde ich zwar Teil dieser einer Kiffer-Clique, zugleich war ich aber auch da immer außen vor. Ich hatte nicht viele andere Freunde, o. k., ich hatte noch einen anderen Freund seit dem Kindergarten und einen, der der Sohn der besten Freundin meiner Mutter war, der ist aber ein einhalb Jahre älter als ich. Zum Teil war mir zwar klar, dass manchen Typen in der Clique Idioten waren oder wir zusammen eine idiotische Dynamik entwickelten , aber ich fühlte mich wie in einer Zwickmühle. Mir war enorm wichtig eine Art Hip-Hop-Klischee zu erfüllen, cool sein eben. Und obwohl sie mich beklaut hatten, wollte ich zu Ihnen gehören. Sie waren mir wichtig. Heute sehe ich ein, dass das Teil meiner Schwäche und hilflosen Unbewusstheit war.

In dem Buch beschreibst du ja sehr gut, wie sich dein Konsummuster immer mehr verstärkt und schließlich in einem psychotischen Schub endet. Deine Zeit in der Psychiatrie allerdings lässt du außen vor.

Zum einen wäre der Text dadurch zu lang geworden. Zum anderen empfand ich das Ende auch aus literarischer Sicht interessant zu erst mal bleibt es dadurch ja offen, ob ich überhaupt mit dem Kiffen aufhören konnte, was vielen ja nicht gelingt. Im Nachwort wird es dann jedoch klar.

Wie wurde dir im Krankenhaus geholfen?

Auf dieser Frage habe ich schon viele unterschiedliche Antworten gegeben. Manchmal habe ich gesagt, dass mir dort überhaupt nicht geholfen wurde, manchmal habe ich gesagt, dass die Medikamente und die Ruhe mir doch sehr geholfen zu haben scheinen. Ich habe anfangs Tavor, ein Benzodiazepin und später Risperdal bekommen. Was dort nicht stattgefunden hat ist eine Gesprächstherapie oder eine besondere Zuwendung. Ob das vielleicht gar nicht schlecht war, das ist eine andere Frage. Am meisten hat mir wohl der Schock geholfen in einer psychiatrischen Anstalt gelandet zu sein. Einige schizophrene Merkmale hatten sich ja schon ein Jahr vorher angekündigt und wurden von mir ignoriert. Dass mein Bewusstsein diese Psychose hervorgebracht hat, war auch so etwas wie ein allerletzter und radikaler Selbstheilungsmechanismus. Wenn man allen erzählen muss: „Ich war in der Psychiatrie“ und das auch seinem Spiegelbild sagen muss, dann ist das eine sehr eindringliche Erfahrung.

War dieser Schock der Hauptgrund dafür, dass du mit dem Kiffen aufgehört hast?

Nein, als ich draußen war habe ich ja danach noch bis zum Abitur, also rund zwei Jahre, weiter gekifft. Aufgehört habe ich erst nach dem Abitur. Der Schock hat eher dazu geführt, dass ich mich mit meiner eigenen Psyche mal weniger naiv auseinander gesetzt und innerlich um Klarheit bemüht habe. Dazu kam noch mein Ehrgeiz mehr aus meinem Leben machen zu wollen. Ich spürte plötzlich, dass ich noch Erwartungen habe. Dieser Prozess hält an. Ich will mich kreativ verwirklichen, dabei auch Erfolg haben, finanzielle Unabhängigkeit erlangen und die Liebe meines Lebens finden. Einfach wohl das, was die meisten Menschen sich erträumen. Und damals wurde mir klar, dass das Kiffen dem im Weg steht. Ein tolles Beispiel ist für mich, wenn jemand einmal im Jahr Cannabis raucht und dabei meditiert; das kann ihn unter umständen sehr bereichern. Nur war mir klar das ein solcher oder ähnlicher Weg (alle paar Wochen) mir versperrt war und noch immer ist, mein Hedonismus hat mich immer wieder auf die falsche Bahn geführt, das will ich nicht noch einmal erleben. Aber ich glaube durchaus, dass es Menschen gibt, die Glück, Zufriedenheit und kreative Selbstverwirklichung erreichen können und ab und zu kiffen, genausow wie es viele gibt die überhaupt nicht damit klarkommen.

 

amon barth

 

Schneiden einige der Medien, die dich interviewt haben, diesen letzten Satz von dir raus?

Das kam in der Tat schon vor. Ich habe oft beobachten können, wie Medienschaffende eine vorgefertigte Meinung zu dem Treffen mit mir mitbrachten und, teilweise erfolgreich, versucht haben meine Aussagen in ihr Muster zu pressen. Natürlich muss man, wenn man sich um eine diferrenzierte Debatte bemüht, einsehen, dass es Menschen gibt die mit THC haltigen Produkten genauso verantwortungsvoll umgehen wie gesellschaftliche Leitfiguren mit ihren gepflegten drei Gläsern Rotwein. Das exzessive Kiffen von jungen Schülern ist aber dennoch ein Problem, das eine differenzierte Herangehensweise schwierig macht. Die Medien denken sich wohl oft, dass eine ausgewogene Darstellung bei Eltern und Jugendlichen zu falschen Schlüssen führt.

Zeigen aber die bisherige Aufklärungsversuche nicht genau das Gegenteil? Hat nicht die undifferenzierte Darstellung der Auswirkungen des Kiffens dazu geführt, dass die Jugendlichen weder Eltern, Schule noch Anti-Drogen-Kampagnen ernst nehmen?

Ich kann aber durchaus nachvollziehen, wenn Schule und Eltern einem 14-Jährigen nicht sagen wollen, dass es Menschen gibt, die mit Cannabis umgehen können. Einem so jungen Menschen kann man durchaus sagen: Fang damit gar nicht erst an.

Wobei dann die Frage ist, ab welchem Alter man einem Jugendlichen zutrauen kann für eine vernünftige, differenzierte Aufklärung empfänglich zu sein. Ein Zehnjähriger sollte nicht mit potenten Rauschmitteln umgehen, klar, aber ist nicht schon hier der Keim zu setzen, dass er so oder so zukünftig lernen muss mit Substanzen und stoffungebundenen Versuchungen umzugehen?

Ich habe gleichwohl Verständnis für eine restriktive Haltung, nicht zuletzt, weil die Anzahl der jungen Extrem-Kiffer über die Jahre stetig angestiegen ist. Und die lange Zeit betriebene Verharmlosung von Dope hat daran einen Anteil. Ich kenne genug Leute, die stark abhängig von dem Zeug sind und Entzugserscheinungen, sowie grosse Probleme dadurch haben, wenn sie nicht täglich kiffen.

Das liegt an der Mär von der „weichen Droge“. Aus einer „weichen Droge“ kann bei entsprechenden Konsummuster eben auch eine „harte Droge“ werden. Interessant ist ja nun, dass du durch die enorme Aufmerksamkeit in den Medien in eine Rolle zugeschrieben wird, von der du nicht ganz genau weißt wie du sie erfüllen sollst.

(lacht) Richtig. Ich probiere mich da bisher auch jedes Mal von Neuem aus. Mittlerweile sehe ich das auf drei Ebenen. Auf der einen Ebene betrachte ich das humorvoll: Gestern habe ich gerade noch mein Abi geschafft und heute wollen Leute von mir Meinungen und Einschätzungen hören nur weil ich durchs Kiffen in der Psychiatrie war und aufgeschrieben habe wie es dazu kam! Auf der anderen Ebene sehe ich die gewisse Verantwortung die ich dabei habe, nicht zuletzt, wenn ich Lesungen abhalte und die Leute danach zu mir kommen und mir ihre intimsten Probleme anvertrauen. Und die dritte Ebene ist das mediale Brimborium. Manchmal erwecken die Medien den Eindruck als würden sie an mir ein gesellschaftlich virulentes Problem offenbaren und ja, das viele mit 13 schon Kiffen ist ein grosses Problem. In der Realität zeigt sich dann aber oft, dass dort nur ein Medienschaffendet oder eine Institution unbedingt neuen Stoff für einen Beitrag braucht. Klar gibt es da solche und solche Fälle und manchmal bleibt eben ein schaler Nachgeschmack.

Bisher bis du das geläuterte schlimme Beispiel.

Das ist mir bewusst, aber das ist nicht meine Intention. Diese besteht darin vom Thema „Kiffen“ wegzuführen und zu zeigen, dass es im Leben weniger darum geht ob man kifft oder nicht kifft, sondern darum was man aus seinem Leben macht und das man verantwortungsvoll mit seinem Körper und dem Geist umgehen sollte. Weder möchte ich Jugendlichen sagen „Kiffen ist harmlos“, noch „Kiffen ist Scheiße“, sondern höchstens: „Durchschaue die Massenverblödung und wehre dich. Übernehme mit Mut und Energie Verantwortung für dein Leben“.

Grundsätzlich: HSV oder St.Pauli?

St.Pauli, aber ich bin kein Fußball-Fan.

Am Ende des Buches schreibst du: „Das Wichtigste, was ich zum Umgang mit dem Kiffen zu sagen habe, ist: Kauf dir einen großen Beutel und versuche nicht mehr ranzugehen.“ Das frage ich: Wozu dann überhaupt kaufen, wenn man ihn nicht genießen kann?

Der Satz ist nur aus meiner damaligen Situation heraus zu verstehen. Er sollte ausdrücken, dass man eine Sucht erst dann überwunden hat, wenn man nicht mehr vor ihr flieht. Die beste Probe ist wohl, wenn man nicht kifft, obwohl der beste Freund neben einem sitzt und wieder eine Bong durchzieht. Erst, wenn der Beutel vor einem liegt und man will nicht zugreifen hat man es geschafft. Wer erst einmal Dauerkiffer war, dem ist es aus meiner Sicht kaum möglich in einen maßvollen Konsum überzuwechseln. Der muss erst einmal ganz aufhören. Das ist wie bei Alkoholikern.

Und nebenbei würde diese Situation auch ein neues Bild auf eine Freundschaft werfen. Hast du heute Kontakt zu Leuten, die viel kiffen?

Klar, und die Beispiele können unterschiedlicher nicht sein. Ich kenne einen, der kifft den ganzen Tag und hat nebenbei ein sehr gutes Abitur gemacht. Er ist wirklich sehr intelligent und lebensklug. Ich habe aber auch Bekannte, die kiffen täglich und haben riesige Probleme damit: Zukunftsängste, Paranoia, Streit mit den Eltern, Selbstdestruktion bis zur Selbstaufgabe, Verlust des rationalen Denkens, einige verlieren tatsächlich langsam ihren Verstand. Und das Problem bei Dope ist eben: Die meisten, die so was hier jetzt lesen, denken sie gehören zu denen, die das total im Griff hat. Sie haben nicht die Stärke ihre Schwäche zuzugeben. Wenn du zu Hilfsmitteln greifst um dich glücklich zu machen, dann musst du wenigstens durchschauen, dass du nicht stark genug bist mit deinern hasugemachten Energie genauso oder sogar noch glücklicher zu werden. Ich kann nur altklug und besserwisserisch dazu aufrufen sich auch als ganz junger Mensch wirklich intensiv mit dem eigenen Denken und Handeln auseinanderzusetzen.

Wenn du so etwas vor Schulklassen oder bei Lesungen sagst, wie sind die Reaktionen darauf?

Durchweg positiv. Es kommen immer sehr viele Fragen. Und zwar von witzig gemeinten „wo kann ich Gras kaufen?“ bis „ich habe da einen Freund, der will aufhören“. Die häufigste Frage ist allerdings, ob ich meiner Mutter böse bin, dass sie nicht härter durchgegriffen hat. Das ist die Antwort natürlich „Nein“, denn auch als 14-jähriger wußte ich schon wie ich meinen Kopf durchsetze. Meine psychische Veranlagung ist die Ursache: Meine Mutter hat mich mit 42 bekommen, ich bin ohne Vater aufgewachsen und war schon im Kindergarten anders als die anderen, wie es so schön heißt. Äußerst sensibel halt, dazu redseelig, stets gut behütet, materiell gut gestellt. Dann habe ich eine gewisse altkluge Art bekommen und mich früh zu Themen geäußert, deren Horizont ich nur erahnen konnte. Eine Sicht aus dem Elfenbeinturm. Spätesten die Welt der Grundschule war roh und hart für mich.

Wir müssen langsam zum Ende kommen. Was sind deine Zukunftspläne?

Ich möchte sehr gerne Drehbücher schreiben und sie auch verfilmen. Das ist ein weit entferntes Ziel, so schnell wie möglich werde ich mich an einer Filmhochschule bewerben. Zudem habe ich einen Roman angefangen und der wird nicht heißen „Endlich schmal Amon Barth’s Anleitung zum Nicht-Kiffer-werden in zehn Schritten“, nein, es soll ein Roman über die Liebe werden.

Viel Glück dabei und vielen Dank für das Gespräch.