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Fincahotels im Hinterland: Das andere Mallorca

www.aufdemhoevel.de, September 2006

Jenseits der Küste – das andere Mallorca

Ballermann, Sangria und proppenvolle Strände? Mallorca ist ganz anders, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Juli 2006, Hochsaison, Ankunft in Palma de Mallorca und wir haben keine Unterkunft. Aber einen Mietwagen, den wir recht preiswert über www.doyouspain.com reserviert hatten. Abfahrt vom Flughafen Richtung Stadt, es ist spät. Wir sind in Top-Laune und müssen nur eine Nacht überbrücken, bevor wir auf ein Finca-Hotel im Landesinneren ziehen dürfen. Über zwei Wochen lang wollen wir verschiedene kleine Fincas, Hotels und Pensionen ansteuern, dabei möglichst gut Essen und viel Lesen.

In einem Anfall von Übermut steuern wir Richtung El Arenal. Etwas Kalkül ist auch dabei, denn die Zimmer sind vielleicht billig, sicher aber preiswert vor Ort. Vom Flughafen aus sind es nur ein paar Minuten bis in die Hochburg deutscher Auslandskultur. Nichts los rund um den Ballermann, trotz Hauptreisezeit wirkt es trostlos, ein paar Besoffkis, ein paar Bauchnabel.

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Wir halten vor einem kleinen Hotel in einer Nebenstraße, Pool vor der Tür, ich öffne die Eingangstür und stehe im Inferno: Ein riesiger Köter kommt auf mich zugewatschelt, aus den Boxen tönt Hühnerstall-Techno, auf dem Riesen-TV in der Ecke läuft RTL, vor dem Bartresen ein paar dumpfe Gestalten, der Geruch vom „Kleinen Feigling“ liegt in der Luft. Hinter der Bar ein freundliches Lächeln, ja, hier sei noch was frei, eine Nacht?, o.k., zahlbar im voraus, Frühstück von 8 bis 14 Uhr. „Nehmen wir!“ Koffer hoch, der Hund schnuppert an mir rum.

Lockeres Buffett, etwas schwitziger Käse, aber alles lecker. Und natürlich: Wärme auf der Terasse, endlich Sonne. Wenig Gründe hier längern rumzulungern, wir fahren Richtung Norden. Vor uns spannt sich der Bergrücken der Serra de Tramuntana. Da müssen wir rüber, um Richtung Soller zu kommen. Wir fahren lieber hindurch, der Tunnel kostet ein paar Euro, aber egal, man spart sich den Bergpass. Erst mal einen Cafe und ein paar Encimadas. Soller sollte als Blaupause für mallorcinische Kleinstädte dienen, dann wäre alles gut. Umgeben von Berggipfeln öffnet es sich Richtung Meer.

Ein typisches Großdörfchen, auf dessen Kirchplatz sich schon Morgens die Einwohner zum Plausch treffen. Kinder spielen, Stühle werden für eine abendliche Fiesta aufgebaut. Am Bahnhof fährt gerade eine antike Bahn ein, die, wie ich später erfahre, kein Touristengag ist, sondern regelmäßig (6 x täglich) zwischen Palma und Soller pendelt. Eine Siemens-Lok aus dem Jahre 1927 zieht die Wagons, pitturesk. Das Ding wird noch immer „Roter Blitz“ genannt. Unweit vom Bahnhof fährt ein genauso schräges und altes Gefährt, die Straßenbahn von Soller nach Port de Soller. Wir sind begeistert, als wir durch die engen Gassen stromern, ich komme mit einer Künstlerin ins Gespräch, die in ihrem offenen Atelier aus Olivenbäumen organische Kunstwerke formt. Sie empfiehlt uns ein Lokal am rechten Rande des Marktplatzes, in dem wir Tage später gute Tappas essen werden.

Steilküste bei Deia
Steilküste bei Deia

„Willkommen auf Can Coll“, sagt der Mann zu mir. Es ist Daniel Seeling, der zusammen mit seiner Frau das Finca-Hotel am Hang leitet. Es wirkt paradiesisch vor Ort: Palmen, Öl- und Feigenbäume, Zitrusfrüchte. Vom Pool aus, der zwischen alten Olivenbäume liegt, hat man einen Blick auf Soller, hier suche mir meine Liege aus und nehme mir vor, sie die nächsten drei Tage nicht mehr zu verlassen. Willkommen in Wellville von T.C. Boyle ist der Plan. Real und im virtuellen Raum. Die Hütte ist mehr als gepflegt: Grafiken an den Wänden, Bildbände, eine Bodega, eine offene Küche. Top-Styling, mir etwas zu durchdacht, aber für viele garantiert die Erfüllung aller Urlaubsträume.

Die diverse Teesorten überfordern mich zum Frühstück. Earl Grey funktioniert immer, dazu frisch gepressten Orangensaft. Luxus, lange wollen wir uns das nicht leisten. Wir schauen uns die anderen Zimmer an, alle nach Früchten und Düften benannt. Fernsicht, die Suite im Obergeschoss ist mit Teleskop ausgestattet. Am Pool liegt ein rund 50-jähriger Mann mit seiner Frau, der mir schon beim Frühstück aufgefallen war. Sie bewohnen die Suite, Morgens ist er heiß auf die FAZ. Erfolgreicher Geschäftsmann mit trockenem Zynismus, der erst im Urlaub richtig zur Geltung kommen, dann, wenn alles gut läuft und es trotzdem immer was zu verbessern gibt. Die griesgrämige Fresse konterkariert wunderbar mit der Badehosen, die mit Inka Mustern in Neonfarben überrascht. Beim Eincremen scheint er von seinem eigenen Körper angewider zu sein. Um besser drauf zu kommen, kümmere ich mich um den Sonnenschutz bei meiner Frau.

Strandbeben

Immerhin ist die Inselküste 555 Kilometer lang. Aber in der Hauptsaison ist es so gut wie unmöglich einen einsamen Strand auf Mallorca zu erwischen. Aber: Die Steilküste im Norden bietet schwer zugängliche Abschnitte, die zwar kein Sand-Feeling, dafür aber Einsamkeit und klares Wasser bieten. Zwischen Soller und Deja (Deia) windet sich eine Serpentine, die wenig befahren und höchst attraktiv ist. Teilweise ist Schritttempo angesagt, wir genießen die Langsamkeit und den vollklimatisierten Wagen – bis wir merken, dass die Klima-Anlage Mengen an Sprit verbraucht. Fahrtwind tut es auch. Bei „Es Canyaret“ und einem Hotel mit Namen Costa d’Or steigen wir hinab. Ein langer Kletterpfad führt hinunter, Trittsicherheit ist hier gefragt. Unten relaxen ein paar Spanier, Felssteine bieten Sichtschutz, gut so, die meisten sind nackt. Ein Tag Sonne. Auf dem Rückweg schauen wir uns das Hotel näher an, Wahnsinnslage mit Blick aufs Meer, sehr einsam gelegen. Wir merken uns das vor – wenn wir mal wieder volle Kassen aufweisen können.
Deia selbst gilt als sogenanntes „Künstlerdorf“. Das verspricht den Ausverkauf der Kreativität. Einige Promis haben sich hier und in der Nähe niedergelassen, Michael Douglas wird hier gesichtet, der Chef von Virgin-Recors. Na ja, ich würde ja lieber Lukas Podolski begegnen, der soll laut „Mallorca Magazin“ auf der Insel sein.

Im Gegensatz zu Orten wie Port d‘ Andratx hat Deia seinen Charme behalten, keine Neubau-Siedlungen verschandeln das Dorf. Wir schlendern zu einem Restaurant, was uns von einer Freundin empfohlen wurde, das Xelini. Wir Essen nur Tapas, davon aber viele. Klassiker wie die Gambas in Öl sind genauso lecker wie eingelegtes Hühnchen. Dazu der Wein des Hauses und alle sind zufrieden.

Schön, weil nicht benötigt: Zahnarztpraxis in La Palma
Schön, weil nicht benötigt: Zahnarztpraxis in La Palma

Nach ein paar Tagen suchen wir uns eine neue Unterkunft. Wir kommen im „El Encinar“ unter, einem Finca-Hotel in der Nähe von Arta. In der Nähe befinden sich gleich vier, der für Mallorca inzwischen obligaten Golfplätze. Uninteressant für uns, wir unternehmen Tagesausflüge an die Küste. Wie stolpern an einige Strände an der Ostküste, aber egal wie sie heißen, Cala Estany, Cala Nao oder Cala Bona, sie sind voll. So ein, zwei Mal haben wir nichts dagegen, zwischen eingeölten Leibern zu liegen, die ihren Kinder damit drohen, dass es „heute kein Eis gibt, wenn ihr jetzt nicht Ruhe gebt“, aber dann haben wir genug.
Die Cala Falco ist da ein Tipp, sie ist schwer zu finden: in der Nähe von Son Forteza Vell, kurz vor der Abzweigung nach Manacor, eine 300 Meter langer Feldweg, wir parken vor einem Tor, vier andere Autos stehen da. Nach einer zehnminütigen Wanderungen durch herrliche Landschaft erreichen wir die Bucht. Feiner Sandstrand, sechs Menschen, ein Traum. Bis in den Abend hinein sitzen wir hier.

Den nächsten Tag genießen wir die Finca, ich spiele mit dem Hund. Abends geht’s nach Capdepera, einem Bergdorf hinter Arta. Wir klettern auf die nahe Burg, der Hunger treibt uns ins Kikinda, ein Restaurant. Als ich sehe, dass drinnen ein Holzkohleofen brennt, vor dem ein symphatischer Spanier Pizzen belegt, weiß ich, was zu tun ist. Volltreffer.

Das Autofahren ist auf Mallorca kein Abenteuer mehr, es wird erheblich ruhiger gefahren als beispielsweise auf der Nachbarinsel Ibiza. Mehrere Autobahnen durchziehen die Insel, nicht schön, aber praktisch. Es wird immer weiter gewühlt, um auch den letzten Winkel bequem erreichbar zu machen. Wir schaukeln über die 220 nach Port de Pollenca (Puerto de Pollensa), um ein paar Freunde zu treffen. Der Strand ist lang, die Straße zwar direkt dahinter, aber das stört nicht. Die Strandpromenade ist niedlich, immer wieder durchbrechen kleine Buchten die Sicht, in denen sich deutsche, englische und spanische Familien tümmeln. Der Ort ist irgendwie reizend, wirkt mediteran. Wir verbingen den Tag spielend im Wasser, Abends fallen wir nur zwei Luftmatratzenlängen weiter in ein Hotel mit Namen „H. Bahia“, auf deren Terrasse wir köstliches erwarten. Wasser und Wein schmecken auch gut, die kalte Tomatensuppe geht noch durch, die Paella allerdings ist undiskutabel. Das ficht uns nicht an, wir beobachten die Scharen von versandeten Strandgängern, die erst mal zu Hause duschen wollen, bevor das leichte Hemd übergeworfen und das Restaurant der Wahl angesteuert wird. Quirlig hier, die Promenade wird immer voller, Musikanten spielen auf, die Sandburgerbauer lassen Münzen in ihre Objekte werden, überall im Blickfeld Billig-Uhren und Sonnenbrillen.

Tage vergehen, wir schauen uns aus Interesse noch ein paar Fincas und Landhotels an. Gut gefällt uns das Can Verderol in der Nähe von Inca. Die hohen Räume geben großzügige Gefühle, alles wirkt trotz der schweren Steine und des dunklen Holzes sehr licht. Leider sind die deutschen Herren ausgebucht.
Palma de Mallorca besuchen wir gleich mehrmals. Die Stadt freakt angenehm vor sich hin, natürlich auch hier die Touristenströme, aber in den ruhigeren Ecken der Stadt ist davon nichts zu merken. Gleich hinter dem Mühlenhügel erinnert es an das Hamburger Schanzenviertel. Zur Mittagszeit landen wir zufällig Bon Lloc, einem vegetarischen und politisch verdammt korrekten Restaurant. Sehr preiswert, sehr gut. Abends sitzen wir über Stunden im Celler Sa Premsa, einem urgemütlichen Schuppen mit unkomplizierter Hausmannskost.

Fazit: „Mallorca hat auch schöne Seiten“, das ist zwar ein Allgemeinplatz, aber die Insel bietet alleine schon aufgrund ihrer Größe tatsächlich einen ewigen Fundus für Entdecker. In Bettenburgen braucht sich keiner mehr quälen, die vielen Finca-Hotels und kleinen Ressorts sind zwar meistens nicht ganz billig, bieten aber dafür Ruhe, Natur und nette Gäste. Strandleben, dass heißt auf Mallorca eng zusammenrücken. Nur an den steinigen Steilküsten findet man ruhige, aber auch schwer erreichbare Plätze.

 

Tipps für Mallorca

Reiseführer
Mallorca
Dumont Verlag, 2006
Rund 12 EUR.

Webseiten
Bei der Suche nach Fincas und Landhotels ist www.mallorcadream.de zu empfehlen. Übersichtlich, gute Auswahl der stilvollsten Ressorts, die Beschreibungen der Anlagen sind stimmig.

Restaurants
Bon Lloc
Sant Felin 4
Palma de Mallorca
Tel: +34 971-718617
Das klingt ja meist schon abschreckend: „vegetarisch“, aber das Bon Lloc in Palma de Mallorca ist lecker. Auf dem Speiseplan stehen täglich wechselnde Menus, preiswertes, gesundes Essen wird serviert. Viele Studenten und Künstler, gerade Mittags gut gefüllt.

Celler Sa Premsa
Plaza Obispo Berenguer de Palou 8
Palma de Mallorca
Tel. +34 971 723 529
www.cellersapremsa.com
Uriges Lokal, umgeben von alten Weinfässers sitzt man unter stetig schaufelnden Ventilatoren. Einfaches, gutes, spanisches Essen. Amüsante Kellner. Preiswert.

Portixol
Hotel und Restaurant
Calle Sirena 27
Palma de Mallorca
Tel: + 34 971-271800
www.portixol.com
Fein designtes Hotel, die Segler kommen vom nahen Hafen rüber. Liegt etwas am Rand von Palma. Hervorragendes Restaurant. Blick auf’s Wasser. Das alles hat seinen Preis.

Restaurant Kikinda
Placa de L’orient 6
Capdepera
Tel: +34 971-563014
Unkompliziertes Restaurant auf dem kleinen Dorfplatz von Capdepera. Spezialität: Pizza aus dem Holzofen. Restaurant Xelini
Archiduque Luis Salvador
Deià
Tel. +34 971-639 139
www.xelini.com
Vielleicht die besten Tapas der Insel. Die Promis in Deia wollen’s halt wissen.

Hotels
Sardeviu
Carrer Vives 14
7100 Soller
Tel: +34 971-638326
www.sollernet.com/sardeviu
Das S’Ardeviu ist ein gemütliches Hotel im Zentrum der Stadt, ganz in der Nähe des schönes Hauptplatzes. Suchen sie sich ein gutes Zimmer aus, die sind unterschiedlich.

Can Verderol
Ctra. De Santa Maria a Portol
07320 Santa Maria del Cami
Tel: +34 971-621204
www.canverderol.com
Sehr ruhig gelegenes Finca Landhotel zwischen Palma und Inca. Schöner Pool, gediegene Räume, alles sehr großzügig. Anwesen aus dem 15. Jahrhundert. 9 Doppelzimmer und 2 Junior-Suiten.

Can Coll
Cami de Can Coll 1
07100 Sóller
Tel.: +34 971 633 244
www.cancoll.com Hostal Bahia
Paseo Vora Mar
07470 Pollenca
www.hopoesa.es
Kleines Hotel am Hafen von Pollenca. Direkt an der Fußgängerpromenade. Strand vor der Tür. Das Essen ist nicht berühmt, am man sitzt gut.

El Encinar
Ctra. Son Servera
ARTÀ (PM 404 – 1)
Bei km 3 in die CAMÍ DEL RAFAL
TEL: + 34 971-18 38 60
www.elencinardearta.com
Malerisch gelegenes Fincahotel in der Nähe von Arta. Panoramablick auf die Berge und das Meer. Pool. Netter Besitzer. Nur 10 Zimmer, die gut verteilt in mehreren Häusern liegen.

 

 

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz

Abenteuer Künstliche Intelligenz, Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine, Auszug aus Kapitel 5

 

Jörg Auf dem Hövel

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine

 

Auszug aus Kapitel 5:

Zivilisationshype: Amerikanische Träume
Was die Forscher am MIT so stark macht und was sie in die Irre treibt. Mit Joseph Weizenbaum in der Hotellobby.

 

Die Fahrstuhltür schiebt auf und heraus kommt ein rotes Tuch. Einigen Autoritäten schwillt der Kamm, wenn das Gespräch zu ihm und seinen Ansichten führt, andere halten ihn für die Kassandra eines Fachbereichs, wieder andere erheben ihn zu dem KI-Philosophen, weil er die Amoralität einer Branche aufgedeckt. Die wenigsten aber winken gelangweilt ab, denn der Mann ist eine lebende Legende, einer der wenigen Gelehrten der Informatik und Künstlichen Intelligenz, der weit über die Grenzen des Forschungsgebiets prominent ist. Dementsprechend werfe ich mich in der Hotellobby verbal auf die Knie, was ihn mehr irritiert denn kalt lässt. Er hilft mir auf, ich stammle noch was von „eine Ehre Sie hier zu treffen…“, dann gehen wir zur Sitzgruppe über.

Mir gegenüber sitzt Joseph Weizenbaum, unter dessen Namen in Fernsehinterviews oft das Wort „Computerpionier“ flackert – er arbeitet bereits 1955 am ersten Computersystem für die Bank of America mit. Als er zwischen 1964 und 1966 die Tastatur-Psychaterin ELIZA programmiert ahnt er nicht, dass selbst einige seine Kollegen das Programm für voll nehmen werden. Der Schock darüber wirkt bis heute nach. Eine Maschine mit menschlichen Eigenschaften? Das ist für Weizenbaum seit ELIZA nur ein Kategorienfehler des Betrachters.

Wir wärmen uns mit einen Plausch über den letzten Streifen von Steven Spielberg auf, der den programmatischen Titel „A.I.“ trägt. „Etwas über A.I. lernen kann man durch den Film nicht, es geht um eine rührige Mutter-Kind Beziehung“, ärgert sich Weizenbaum. Ich frage nach der vorbehaltlosen Liebe gegenüber seiner menschlichen Mutter, die dem Jungen einprogrammiert ist, Weizenbaum lächelt neckisch: „Ach, wissen Sie, bedingungslose Liebe, die haben wir ja bereits in dieser Welt: Wir nennen es Hund. Ob wir das noch mal als künstliches Produkt brauchen? Ich bin da unsicher.“

Das Schlagwort der Künstlichen Intelligenz wird seit der historischen Konferenz 1956 in Dartmouth von einem Glatzkopf visualisiert, an dem sich alle behaarten Antagonisten reiben können, Marvin Minsky. Um es vorweg zu nehmen: Vieles, ja, fast alles, was heute von den Primadonnen der Künstlichen Intelligenz wie Hans Moravec und Ray Kurzweil als neue Hauptspeise auf der Menukarte publiziert wird, ist eine aufgewärmte Suppe, welche der Meisterkoch des Posthumanismus schon vor 40 Jahren erhitzt hat.

Um ehrlich zu bleiben, ja, dieses Kapitel will ihnen diese Suppe versalzen, sich der Demontage des Gerüsts widmen, das die sogenannten „KI-Päpste“ hochgezogen haben. Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Eine Demontage kann auf zweierlei Wegen geschehen. Zum einen kann die Unmenschlichkeit der Entwürfe heraus gearbeitet werden; eine Aufgabe, der sich Ethik-Liebhaber wie der Mann in der Hotellobby verschrieben haben. Leider interessiert Ethik diese spirituellen Führer kaum. Darum ist es sinnvoll, sie dort abzuholen, wo ihre interne Logik greift, ihnen das Heimspiel anzubieten und mit ihnen gemeinsam das Match nach ihren Regeln zu spielen.

Gemeinsam mit John McCarthy gründet Marvin Minsky 1959 das KI-Labor am schon damals renommierten, zungenbrecherischen „Massachusetts Institut for Technology“, kurz MIT. Ist die Wahl dieses Ortes Zufall? Nein, sie konnte gar nicht anders ausfallen. Schon ab dem 18. Jahrhundert ist der Bundesstaat Massachusetts mit seinen Universitäten in Boston und Harvard das geistige Zentrum Nordamerikas. Von dort aus predigt zunächst der Pfarrer Jonathan Edwards seine Philosophie, die im Anschluss an Augustinus alles Geschehen als „god´s acting“ betrachtete. Später soll es wissenschaftlicher zugehen, und das MIT und die Philosophie des Pragmatismus erleben zusammen ihre erste Blüte. Es mutet seltsam an, dass sich kaum einer der frühen und heutigen MIT-Koryphäen der Tatsache bewusst ist, dass die Steine ihrer Universität mit dem heißen Geist der Philosophie eines William James gebacken sind.

Minsky und seine Nachfolger predigen die Anti-Philosophie, stellen jede Reflektion über Sein und Werden als okkulten Humbug dar, als ob nicht auch der Fluss ihre Sätze in das Bett einer sozialen Umwelt eingebettet ist. In einer rhetorisch fantastischen Umkehrung nennt Minsky Philosophie und Religion „einen Aberglauben“, dessen Akzeptanz dazu führe, das man sich um die „Chance des ewigen Lebens“ betrügen würde. Aber: Die gesamte technische Theorie der Amerikaner wurzelt tief in der Philosophie von William James, John Locke und David Hume, die ihrerseits wiederum in Francis Bacon wurzeln. Und dort, wo nix wurzelt, existiert zumindest eine Grundeinstellung, die in der Natur einen zu besiegenden Gegner sieht, der dem Planwagen-Treck des Fortschritts im Wege steht. Wer aber ist dieser William James?

Im Hörsaal herrscht dichtes Gedränge, Akademiker und Studenten, aber auch interessierten Laien feiern den Philosophen William James wie einen neuen Propheten. Nur 20 Gehminuten vom MIT-Campus entfernt, an der Harvard Universität, hält James 1907 seine umjubelten Vorlesungen zum Pragmatismus. Was ist es, was diese Denkschule so attraktiv macht? Hume hat es einmal in aller wünschenswerten Klarheit ausgedrückt:
„Nehmen wir ein beliebiges theologischen oder metaphysischen Werk zur Hand und fragen wir: enthält es irgendeine theoretische Untersuchung über Quantität oder Zahl? Nein. Enthält es irgendeine experimentelle Untersuchung über empirische Tatsachen? Nein. Nun, dann werfe man es ins Feuer, denn dann kann es nur Sophistik und Spiegelfechterei enthalten.“

Seither gleichen sich die bis zur Ermüdung wiederkehrenden Leitmotive des pragmatischen Denkens: Die Erfahrung ist der Koran, in dem alle Wahrheiten aufgezeichnet sind. Die wissenschaftliche Methode schlechthin ist dabei die Induktion, dass heißt der Schluss vom besonderen Einzelfall auf das allgemein Gültige, das Gesetzmäßige. Die Induktion ist die möglichst lückenlose Beweisführung, die alle Widerlegungen im Keim erstickt.

Eine Grundfrage der Philosophie, nämlich die nach der Wahrheit, beantwortet James forsch: Das Kennzeichen der Wahrheit sei ihre Nützlichkeit. Folglich sei Wahrheit die Summe dessen, was vom menschlichen Kollektiv als nützlich anerkannt worden ist. „Die verschiedenen Arten, wie wir empfinden und denken“, sagt James, „sind so geworden, wie wir sie kennen, wegen ihres Nutzens für die Gestaltung der Außenwelt.“ Es ist schnell bemerkt worden, dass dieser Konzeption mehr als nur ein Hauch von Darwin anhaftet, sie läuft Gefahr, das Opportune für das Legitime zu halten. Ein Baum, so kann man den Pragmatismus verdichten, ist dazu da um uns Früchte zu schenken.

Ganz klar, in James und dem Pragmatismus verkörpert sich die Neigung der Neuen Welt zum Unmittelbaren, Gegenwärtigen und Praktischen. Zugleich wird ein markanter Charakterzug deutlich, den Hans-Joachim Störig „skeptische Unbefangenheit“ nennt. Diese hält sich möglichst alle Optionen offen und ist zugleich immer bereit, die Möglichkeiten bis an ihr Ende zu denken. Es ist eben dieser stets nach vorne gerichtete „Westwärts!“-Optimismus, der die amerikanischen Wissenschaften so erfolgreich macht. Eng damit verbunden ist die Ablehnung der Herleitung der realen Welt aus irgendeinem grundlegenden Prinzip. Und wo kein grundlegendes Prinzip mehr herrscht, steht es dem Menschen frei, die Welt nach seinem Willen und seinen Kräften zu formen. Jedwede Intuition, das Gefühl, spielt für dieses Denken und die wissenschaftliche Erkenntnis keine Rolle. Das sind Blasen und Schäume, die im frommen Waschbecken zu blubbern haben, denn nach James haben die Gefühle nur eine Funktion: Sie führen zur Religion.

Und noch etwas liegt dieser Perspektive zugrunde: Das konstant und immer wirkende Prinzip einer linearen Kausalität, wonach jede Wirkung eine Ursache hat. Seine letzte Reinform hat dieses Prinzip, wie beschrieben, im Behaviorismus gefeiert. Input – Operation – Output sind die Modi einer Maschine, und es liegt gedanklich nahe, dass auch lebende Wesen nach diesem Schema funktionieren.

 


„Mens et Manus.“ Das von privaten und industriellen Kräften finanzierte „Massachusetts Institute of Technology“ zeigt in seinem 1864 entworfenen Siegel, wohin die Reise gehen wird – Hand und Hirn sollen fruchtbar zusammenarbeiten. Damit ist nicht nur die für Europa ungewöhnliche enge Verbindung von Industrie und Wissenschaft symbolisiert, in dem Logo lebt auch die cartesianische Trennung von Körper und Geist weiter.
Über Minsky, heute über 70 Jahre alt, zerreißen sich seit Beginn seiner Karriere die Medien das Maul. Dies liegt weniger an seinen wissenschaftlichen Verdiensten, als vielmehr an seinen Sentenzen zur Zukunft der Menschheit. Dabei könnte die Kluft zwischen den Leistungen seines MIT-Labors und seinen Vorhersagungen nicht größer sein. Ende der 60er Jahre stellt sein Team einem Roboter eine schlechterdings kinderleichte Aufgabe. Mit einer Kamera und Greifarmen ausgerüstet soll die Maschine aus Bauklötzchen einen Turm bauen. Die Forscher staunen selbige, als der Roboter mangels gesunden Menschenverstands anfängt den Turmbau an der Spitze zu beginnen. Die Verfolgung des programmierten Pfads führt zum ungenauen Ablegen der Klötze, zudem haben die Kamera-Augen Probleme bei dem Erkennen von hinter- oder übereinander liegenden Objekten. Der Fehlschlag hält Minsky nicht davon ab, vom Debugging evolutionärer Fehlkonstruktionen im Menschen zu fabulieren. Und obwohl seine Predigten abstrus erscheinen, frohlockt die junge KI-Gemeinde, setzt Minsky ins virtuelle Papamobil und schiebt ihn durch die Straßen des Erfolgs. Davon angespornt verstrickt er sich mit der Zeit in seinen flammenden Reden immer tiefer in die Verkündung des Techno-Evangeliums. Was aber erzählt der Mann?

Die Grundannahme Minskys ist die der sogenannten „harten KI“: Zwischen dem Denken im menschlichen Hirn und der Informationsverarbeitung in der Maschine besteht kein Unterschied. Auf Basis dieser Prämisse klackert seit Geburt der klassischen, harten KI, ein Satz durch die Gebetsmühle: Die Konstruktion eines Maschinengehirns scheitert nur an technischen Unzulänglichkeiten.

Kollegenschelte ist unbeliebt und so hält sich Joseph Weizenbaum zurück. Das Gespräch verläuft schleppend, was wohl daran liegt, dass er fast alle meine Fragen an anderer Stelle schon einmal beantwortet hat, trotzdem überlegt er vor jeder Antwort verdammt lange. „Wissen Sie“, fängt er an, „Marvin und ich sind trotz unserer Differenzen gut befreundet, auch wenn er Lust auf seltsame Scherze hat. In einer öffentlichen Podiumsdiskussion wurde er einmal gefragt, was er von einem gewissen Argument von mir hält. Seine ernste Antwort war sinngemäß, dass man zunächst einmal wissen muss, dass ich Kommunist sei“. Weizenbaum muss selber lachen, obwohl so eine Zumutung in den USA wahrlich kein Scherz ist. Als Weizenbaum ihn später auf den Vorfall anspricht, winkt Minsky nur lachend ab und sagt: „Ach, du kennst mich doch.“

(…)

Aber zurück zum missionarischem Eifer des 21. Jahrhunderts. Es ist anzunehmen, dass die Utopie der totalen Beherrschung der Natur und des Menschen, wie alle bisherigen Utopien, nicht an ihren Gegnern, sondern an ihren eigenen Widersprüchen und ihrem Größenwahn scheitert. Auf der anderen Seite steht die Tatsache der technischen Evolution. Je mehr das technische Vermögen anwächst, um so selbstbewusster wird das ingenieurhafte Bewusstsein. Damit werden seit jeher die Fantasien beflügelt, welche die Metamorphose des irdischen Raums in eine perfekte, maschinale Ordnung anstrebt. Dass Gott, wenn es ihn denn gibt, ein Mathematiker sein muss, ist seit Platon Idee, seit dem 17. Jahrhundert technisch unterfütterte Überzeugung. Und das wiederum heißt, dass das Wesen der Welt nur in einem mathematischen Code aufbewahrt sein kann.

Der Einzug der maschinalen Ordnung in den Raum der Natur zeigt die stete Hoffnung, dass diese sich dem Zugriff der gestaltenden, gottähnlichen Potenz des Menschen nicht entziehen wird. „Tut sie aber doch“, wird der Liebhaber natürlicher Wildnis jetzt einwenden, „und zwar vor allem dort, wo sich die Technik gegen die Natur stellt und sich nicht ihren Gesetzen anpasst.“ Aus Sicht der Techno-Utopiker ist das vorsintflutliches Wehgeschrei, mystisch angehauchtes Gejammer, denn ihr Plan ist bestechend: Man beachtet die natürlichen Gesetze, indem man sie benutzt, weiterentwickelt und anschließend überwindet. Sie entwerfen eine „Theologie des Schleudersitzes“, der die Menschheit nicht nur aus ihren sozialen und ökologischen, sondern auch ihren spirituellen Bestimmungen rauskatapultieren soll.

Wenn auf der einen Seite die digitalen Evangelisten stehen, dann sind die ewigen Warner und Mahner, die stets behaupten, dass mit jeder neuen Entwicklung Sinnverlust und Uneigentlichkeit einher gehen, nicht weit. Aus obrigkeitsgeschwängerter Sicht gefährdet jedes neue Medium die Moral der Bürger. Vor der Lektüre von Romanen wird im 18. Jahrhundert ebenso vehement und mit denselben Argumenten gewarnt, die heute gegen das Fernsehen ins Feld geführt werden. Wohl gemeinte Ratschläge zur Bewahrung der Volksgesundheit sind die andere Seite. In einem frühen Fall von Technologiefolgeabschätzung warnt das „Königlich Bayrische Medizinalkollegium“ um 1835 vor den Gesundheitsrisiken beim Benutzen der Eisenbahn. In dem Gutachten heißt es: „Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, <delirium furiosum> genannt, hervorzurufen.“ Seither muss dieses Beispiel für die Irrungen der Fortschrittsbremser herhalten. Das Problem dabei ist nur, dass neuere Forschungen ergeben haben, dass dieses Gutachten nie existiert hat, sondern schon damals von den Befürwortern der Eisenbahn eingesetzt wurde, um die Gegner lächerlich zu machen.

Bei genauerer Betrachtung waren die damaligen Ängste vor der Eisenbahn nicht unbegründet: Bei einem der ersten großen Zugunfälle kamen bei Belleville in Frankreich 50 Menschen ums Leben, im Jahre 1889 wurden allein in Deutschland 602 Personen bei Eisenbahnunfällen getötet, in den USA waren es nicht weniger als 6000 Tote und über 29.000 Verletzte. Zugleich war die Eisenbahn die erste Maschine, die wirklich öffentlich sichtbar wurde. Die Dampfmaschinen in den Fabriken kannte man nur vom Hörensagen, mit der Lokomotive wurde die neue Zeit greifbar. Ihre Schnelligkeit, ihre schier unaufhaltsame, schienengeleitete Fahrt machten sie zum positiv wie negativ besetzten Symbol. Politisch stand sie für die einen für Demokratie und Republik, die sich unter Volldampf durchsetzen würden, für die anderen für die eiserne Unerbittlichkeit, die alle althergebrachten Traditionen überrollt.

Bis zur Aufklärung wird Technik ohnehin nicht als Menschenwerk, sondern infernalische Innovation abgelehnt. Bis in das 16. Jahrhundert hinein gelten Technik und Magie als weitgehend identisch. Mit Beginn der Industrialisierung ändern sich die Argumente. Dahinter steht zum einen oft die begründete Angst, durch den technischen Fortschritt den Arbeitsplatz zu verlieren, zum anderen sind es apokalyptische Urbilder, die in den Technikmäklern nach oben gespült werden. Hier wirkt das mythische Modell des Zauberlehrlings, der die herbeigerufenen Geister nicht mehr los wird. Das Prinzip der Furcht gleicht sich seitdem: Die technisch perfekte Maschine überholt und beherrscht ihren Erfinder, den imperfekten Menschen. Selbst Karl Marx benutzt Metaphern, die die Industrie als monströses Ungeheuer darstellen.

Das Schlagwort des „Maschinenstürmers“ müssen sich heute alle diejenigen um die Ohren hauen lassen, die den ständigen Innovationen der Technik feindlich gegenüber stehen. Dabei ist bis heute umstritten, ob der „Maschinensturm“, diese prügelnde Protestbewegung von Arbeitern in England und auf dem europäischen Kontinent, nur eine blinde Aversion gegen das Neue oder ein Protest gegen das System der maschinell gestützten Arbeitsteilung war. Wahrscheinlich beides. Fest steht, dass der Einzug der Maschinen in die Fabriken von den Arbeitern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht zwangsläufig als bedrohlich angesehen wurde. Die Opposition war erst dann besonders ausgeprägt, wenn die Meister, Unternehmer und Fabrikanten die Webstühle, Druckerpressen und Förderanlagen dazu nutzten, herkömmliche Qualitätsstandards zu senken und die Löhne zu drücken.

Auf der anderen Seite rüttelte die Kraft der Maschine an den vertrauten Statusgrenzen der ständischen Ordnung. Die spannende Frage von heute ist nun, welche Grenzen die Wissenschaft und Praxis von der maschinellen Intelligenz überschreitet. Auch ihr wird die Kraft zugesprochen (zu) schnelle Veränderungen herbeizuführen. Traditionen behindern nicht nur Fehlentwicklungen, sondern Entwicklungen überhaupt. Aber welche Traditionen sind in Gefahr? Aus Sicht der Kritiker stehen die humanistischen Traditionen auf dem Spiel, aus Sicht der Förderer nur der Größenwahn des Menschen, der nicht einsehen will, dass auch er nur ein wohl geordnetes Prinzip ist, eine chemisch-physikalisches Verfahren, das damit prinzipiell nachbaubar ist.

(…)

 

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz Bücher

Abenteuer Künstliche Intelligenz Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine Auszug aus Kapitel 2:

 

Jörg Auf dem Hövel

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine

 

Auszug aus Kapitel 2:

Erste Zwischenlandung: Schach matt!
Das 8×8 Felder große Universum, Alan Turing und die Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz.

(…)

Übersichtlicher ist es, die Idee der Mechanisierung von menschlicher Intelligenz von der Möglichkeit ihrer praktischen Realisierung zu unterscheiden. Mit einfachen Worten: Rumspinnen kann man viel, wann aber rückte die Konstruktion von Maschinen mit Denkvermögen in greifbare Nähe? Wer legte als erster ein überzeugenden Konzept eines Apparats vor, der so schnell, so sicher und so flexibel denken und eventuell sogar handeln konnte wie ein Mensch? Erst ab diesem Zeitpunkt kann von Künstlicher Intelligenz gesprochen werden, alles andere ist Ebnung des Weges, Vorgeschichte, gleichwohl aber relevant, denn die frühen Idee der Mechanisierung des Menschen fungieren noch heute als Blaupause für die Konstruktion künstlicher Intelligenzen.

Ein Mann steht sicher im Pantheon der Wissenschaft von der Künstlichen Intelligenz. Ein Mann, der nicht als Romanautor, sondern als Mathematiker den Geist in die Maschine bringen sollte. Ein Mann, wie ihn die Geschichtsschreibung liebt: Vertrottelt, nachlässig gekleidet, ungeschickt im sozialen Umgang, exzentrisch, aber ein begnadeter Zahlenjongleur, der vom britischen Verteidigungsministerium in das Team berufen wurde, welches den Code der deutschen Funkspruch-Chiffriermaschine Enigma knacken sollte. Ein Homosexueller, der seine Leidenschaft vor seinen Kollegen verbergen musste, und von einem Gericht aufgrund einer publik gewordenen Affäre dazu verurteilt wurde, entweder ins Gefängnis zu gehen oder sich ein Jahr lang Östrogen zur Beruhigung seiner Libido injizieren zu lassen. Ein Mann, dessen Fähigkeiten so sehr überzeugten, dass er eine abhörsichere Verbindung zwischen Churchill und Roosevelt aufbauen sollte, ein Mann, den seine Kollegen als eifrig, wissbegierig, begeisterungsfähig, als zornig und einzelgängerisch empfanden. Ein Mann, der dafür sorgte, dass Männer wie Frederic Friedel heute ihre Brötchen verdienen, ein Mann, dessen verschiedene Schriften den Grundstein zur Informationstheorie, Informatik, neuronalen Netzen, Chaosforschung und vor allem zur theoretischen und praktischen Wissenschaft von der Künstlichen Intelligenz legten. Kurzum, eine wahre Geistesgröße, ein Genius und darum nicht von dieser Welt. Wobei das nicht einmal stimmt, denn der Mann war eine Sportskanone und wurde nur durch eine Verletzung davon abgehalten, als aktiver Teilnehmer zu den Olympischen Spielen zu reisen. Der geneigte Leser wird den Namen wissen, der Unbeleckte ihn schon gehört haben, der Oberschlaue hat das Buch eh schon aus der Hand gelegt: Alan Turing. Um ganz korrekt zu sein Alan Mathison Turing, der erste Hacker.

Universität Cambridge, 1935. Der 23 Jahre alte Turing sitzt in einer Vorlesung des Geometrie-Professors Maxwell Newman und hört, dass eine vom deutschen Mathematiker David Hilbert gestellte Frage noch immer ihrer Antwort harrt. Gibt es eine immer gültige definitive Methode oder einen Prozess, um zu entscheiden, ob eine aufgestellte mathematische Behauptung überhaupt beweisbar ist? Dies ist das sogenannten „Entscheidungsproblem“. Mit anderen Worten: Existiert ein Verfahren, das für jede Aussage deren Wahrheit beziehungsweise Falschheit feststellt? Turing setzte sich an sein Schreibpult und tat das, was er in seiner Freizeit mit seinen Freunden eh gerne tat – er knobelte. Turing beantwortet diese Frage und zeigte, dass das Problem unlösbar ist. Er weiß natürlich, dass es Fragen ohne Antworten gibt, die Frage nach dem Ursprung des Universums ist eine solche, die nach dem Sinn des Lebens ebenso. Auf der anderen Seite weiß er, dass es durchaus Probleme gibt, die sich eindeutig entscheiden, das heißt lösen lassen, beispielsweise arithmetische Aufgaben. Dies ist aber nicht das Brisante, denn Turing geht in seiner Antwort weit über das spezielle Problem hinaus, denn er liefert eine exakte Definition des Begriffs „Verfahren“. Er erkennt zunächst, dass die Kapazität eines Menschen für das Durchdenken eines solchen Prozesses allein durch die Zeit begrenzt ist. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, welche die abstrakte Frage im abstrakten Raum der Mathematik belassen, geht Turing allerdings davon aus, dass ein solches Verfahren ohne höhere Einsicht ausgeführt werden muss, um nicht zu sagen, rein mechanisch. Turing greift daher die Idee früher Rechenmaschinen auf und entwirft zur Lösung des Entscheidungsproblems eine theoretische Maschine, die das Hilbertsche Problem lösen soll.

 


Die Turing-Maschine
Warum sollte nicht, so Turing, eine Maschine existieren, die aus zwei Teilen besteht: Einem endlosen Papierstreifen, unterteilt in Felder, auf denen Symbole, beispielsweise das Alphabet, aufgedruckt sind und einem Lesekopf, der – sich nach links und rechts bewegend- die Symbole auf dem Papierstreifen lesen und löschen und wieder beschreiben kann? Turing denkt weiter: Der Papierstreifen darf nur eine begrenzte Anzahl von unbeschriebenen Feldern haben und zu jeder Zeit muss der Lesekopf in einer Position über dem Band schweben, die ihr das Lesen und Schreiben erlaubt. Eine simple Serie von Instruktionen treibt diese Maschine an: Ist-Zustand, Ist-Symbol, Neuer Zustand, Neues Symbol, links/rechts. Die Arbeitsweise einer Turing-Maschine wird durch diese sogenannte Maschinentafel bestimmt. Diese Tafel definiert für jeden möglichen Ausgangszustand der Maschine in Abhängigkeit von dem jeweils gelesenen Symbol eine bestimmte Operationsvorschrift. In dieser Vorschrift werden festgelegt: Der neue Zustand der Maschine, das neue Symbol, das die Maschine in das Feld schreibt, das sie gerade gelesen hat, sowie die Richtung, in der sich der Schreib/Lese-Kopf um ein Feld vorwärtsbewegt (links/rechts). Man mag es kaum glauben, aber mit diesem Regelset lässt sich theoretisch der Teil der Welt, der sich durch Berechnung erschließen lässt, durchkalkulieren. Theoretisch! Da die Turing-Maschine über keinen internen Speicher verfügt, benötigt sie selbst für eine einfache Aufgabe relativ komplexe Operationsvorschriften. Bei der Multiplikation von 3×4 führt die Maschine 323 Operationen aus, bis das Ergebnis feststeht. „Computer“, so wurden Anfang des 19. Jahrhunderts die Hilfskräfte mit ihren Rechenschiebern genannt, die nautische Berechnungen auf Basis umfangreicher Tabellen durchführten. So einfach sie auch ist, aus logischer Sicht hat die Turing-Maschine die Kraft eines heutigen digitalen Computers.

 

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Die ersten 13 Schritte der Turing-Maschine bei der Multiplikation von 3×4. Der gesamte Rechenverlauf ist unter zu bewundern. Die exakte Erklärung der vorgehensweise steht unter . Bei dieser Rechenaufgabe ist jede positive natürliche Zahl n durch den „unären Code“ dargestellt, das heißt als eine Folge von n+1 aufeinanderfolgenden Einsen. Die Zahl 3 wird so als 1111 kodiert, wobei jede 1 in einem eigenen Feld steht. Der Vorteil der unären Codierung liegt darin, daß so Verwechslungen der Null mit leeren Feldern vermieden werden, denn die Null wird durch 1 kodiert. Im ersten Schritt rutscht der Schreibkopf ganz nach rechts und schreibt eine 1. In einem zweiten Schritt hängt der Turing-Maschine für jede „1“ der ersten Zahl (bis auf die erste) alle 1-en der rechten Zahl (bis auf die erste) rechts an. W, X und Y und Z sind nur Markierungen, um sich zu merken, was schon kopiert wurde und was noch nicht.

 

Es ist die Korrespondenz dreier Faktoren, welche die Einzigartigkeit des Entwurfs von Turing ausmachen: logische Instruktionen, das menschliche Denken und die Aktion einer virtuellen, im Prinzip aber baubaren Maschine. Die damit verbundene Definition einer definitiven Methode ist der Durchbruch für die Idee der mechanischen Berechnung – der maschinell abarbeitbare Algorithmus, die Software, ist geboren. Mit einem Regelset ausgestattet kann diese mythische Maschine eine unbegrenzte Anzahl von Rechenaufgaben lösen, um nicht zu sagen: Jedes Problem, für welches es eine Lösung gibt, stellt für die Turing-Maschine kein Problem dar. Der Clou: Bei einem unlösbaren, weil nicht berechenbaren Problem hält die Maschine einfach an oder rechnet für ewig, unermüdlich den Papierstreifen verarbeitend. Aber das Grauen einer jeden Theorie, nämlich die Anwendung auf sich selbst, übersteht diese theoretische Maschine nicht: Sie selbst ist ein Beispiel für eine nicht lösbare Aufgabe, denn ein unendliches Band, wer will das herstellen?

Jeder Schüler zerlegt eine kompliziertere Rechenaufgabe in Einzelschritte und arbeitet sie einzeln und nacheinander, sequentiell, ab. Turings Gedankenmaschine leistet genau das. Das Schöne für Mathematiker: Die rechnerische Leistung seiner Maschine ist nicht zu übertreffen, denn Turing trieb die Zerlegung algorithmischer Prozesse in einfache Schritte an die äußerste Grenze. Sie geben ein Statement ab und wollen wissen, ob es wahr oder falsch ist? Nicht denken, nicht diskutieren, die Lösung liegt in der Auflösung in die kleinstmöglichen Bestandteile und deren mechanischer Verarbeitung. Damit zieht zugleich der technisch fundierte, binär codierte Pragmatismus in das Denken der zukünftigen Techno-Elite ein. Darum steht Alan Turing so sicher im Pantheon, denn er erbrachte die Definition von Berechenbarkeit mit Hilfe der Beschreibung des mathematischen Modells eines mechanischen Apparates. Zugleich fielen seine Ideen in eine Zeit, in der die technische Realisierbarkeit seiner Entwürfe in naher Zukunft möglich schien. Nicht mehr klickernde Zahnräder sollten summieren und subtrahieren, sondern elektronische Bauteile, die schnell und sicher mit nur zwei Werten hantierten, 0 und 1. Die Idee der Berechenbarkeit menschlicher Intelligenz steht und fällt mit dem binären Code.

Aber soweit ist es zunächst noch nicht. Turing veröffentlicht seine Ideen und ist fasziniert von dem Gedanken nicht nur das Rechnen, sondern auch andere Aktivitäten des menschlichen Verstands mit der von ihm erdachten universellen Maschine repräsentierten zu können. Die Vorstellung ist revolutionär: Eine Maschine, die jedes Problem in seine Bestandteile zerlegt und damit entzaubert, der absolute Zerhäcksler, eine Maschine für alle nur denkbaren Aufgaben. Denn obwohl seine Ausführungen zum Hilbertschen Entscheidungsproblem die Grenzen des Berechenbaren gezeigt haben, ist er als Forscher naturgemäß eher davon angezogen was ein praktisch realisierte Turing-Apparat wohl alles berechnen könnte, als davon, was er nicht kann. Die dahinter stehende Frage ist nur: Was alles ist berechenbar? Gibt es unzerlegbare Probleme? Turing weiß nur zu gut, dass er damit an den Grundfesten der Philosophie rüttelt, und hält sich zunächst bedeckt. In einem weiteren Aufsatz lässt er die Tür für das Unberechenbare noch einen Spalt offen. Die menschliche Intuition könnte, so Turing, das sein, was in einer mathematischen Argumentation als nicht-berechenbarer Schritt gilt.

Etwas Geschichte, um den spannenden Stoff etwas trockener zu gestalten? Im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Nachrichtentechnik sprunghaft, elektronische Technologie galt als schnell und zuverlässig. Konrad Zuse baute 1941 seinen Z3-Rechner noch mit schwerfälligen, aber preiswerten Relais. In den USA ging der erste Computer 1944 in Betrieb; „Mark I“ bestand aus 3304 Relais und einem überwiegend mechanischen Rechenwerk, das sogar noch im Zehnersystem arbeitete. Schon damals spielte „Big Blue“ seine Rolle: Eine großer Teil des Projekts wurde von IBM finanziert. Zwei Jahre später wurde ein 20 Tonnen schweres Monster mit dem Namen „Eniac“ geboren, in welchem bereits 18.000 Vakuumröhren dampften. Für Turing waren diese Fortschritte deutliche Zeichen dafür, dass sein virtueller Computer Praxis werden kann. 1944 spricht er gegenüber seinen Kollegen Donald Bayley zum ersten Mal davon „ein Gehirn zu bauen“.

(…)

 

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Buch: Abenteuer Künstliche Intelligenz

IX Rezension zu: Jörg Auf dem Hövel Abenteuer Künstliche Intelligenz

 

IX. Magazin für professionelle Informationstechnik 8/2003 Rezensionstext IX 8/2003

 

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Bücher Elektronische Kultur

Abenteuer Künstliche Intelligenz

Buchcover Abenteuer Künstliche Intelligenz. Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine
Ist Künstliche Intelligenz machbar oder scheitert sie an natürlicher Dummheit? Was treibt Forscher dazu kluge Maschinen bauen zu wollen, was treibt sie zum Nachbau des Menschen? Was ist überhaupt ein intelligentes Artefakt, und was überhaupt ist Intelligenz?

Die Antworten auf diese Fragen berühren nicht nur das technische, sondern auch das soziale, kulturelle und religiöse Selbstverständnis des Menschen. Denn durch KI will der Mensch nicht nur die Gesetze der Natur, sondern auch sich selbst erkennen.

Jörg Auf dem Hövel
Abenteuer Künstliche Intelligenz
Auf der Suche nach dem Geist in der Maschine
Hamburg 2002
ISBN: 3-9807330-4-1
194 Seiten, Broschur
EUR 14,00
Discorsi Verlag

 

REZENSIONEN

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.05.2003
„Einfache Antworten gibt Jörg auf dem Hövel nicht – wohl aber eine Reihe ebenso geistreicher wie amüsanter Denkanstöße.
Auf dem Hövel hat ein lehrreiches Buch mit vielen Anhaltspunkten zum Nachdenken geschrieben, das auch für den Technik-Laien verständlich ist.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

IX. Magazin für professionelle Informationstechnik 8/2003
„Es gelingt ihm, die Grundlagen in einem zweitweise an Spiegel-Artikel erinnernden Ton zu diskutieren, ohne flach zu werden. Seine Reiseberichte packt er in eine kraftvolle, metpahernreiche Sprache, die sich meist süffig liest, aber immer wieder von dicht formulierten Abschnitten unterbrochen ist – schließlich handelt es sich um ein Lehrbuch der ganz anderen Art.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

de:bug November 2003
„Jörg Auf dem Hövel will so etwas sein wie der Peter Lustig der Künstlichen Intelligenz, kurz KI.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Mac Profiler 12/2002
„Ein intelligentes und ein bisschen verrücktes Buch, das um ein paar Ecken zu verblüffenden Perspektiven auf den Computer verhilft.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

rtv magazin 22/2003
„Fachkundig, neugierig, hochinformativ & zugleich unterhaltsam. Eine seltene Mischung.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Buch des Tages 5. April 2003
„Unterhaltsam und kompetent“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

Chessbase
„Wäre „Abenteuer Künstliche Intelligenz“ von kein Buch, sondern ein Film, so wäre es wohl ein Roadmovie.“
(Hier der gesamte Text der Rezension.)

 

INHALT

0. Nullpunkt. Fasten your seatbelts
Das Kartenmaterial. Wie man sich zielbewusst auf eine Reise vorbereitet.

1. Wer erklärt wen für dumm?
Am Tisch mit nachweislich intelligenten Menschen, oder auch: Definitionen der eigenen Scharfsinnigkeit.

2. Erste Zwischenlandung: Schach matt!
Das 8×8 Felder große Universum, Alan Turing und die Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz.

3. Alte und Neue Intelligenz
Von der reinen Berechnung zum autonomen Roboter: Jeder Geist braucht einen Körper. Zu Besuch im Schweizer Zentrum des neuen Paradigmas. Und was überhaupt ist Bewusstsein?

4. Zweite Zwischenlandung: Abseits!
Bei den Bonner Fussball-Robotern und ihre antiken Vorfahren. Reflexionen des Geistes in der Maschine: Automaten und Androiden in Literatur und Kino.

5. Zivilisationshype: Amerikanische Träume
Was die Forscher am MIT so stark macht und was sie in die Irre treibt. Mit Joseph Weizenbaum in der Hotellobby.

6. Dritte Zwischenlandung: Ich will Technik sein!
Mechanisch, organisch, wer will das unterscheiden? Wie intelligente Technik übers Kinderzimmer in den Alltag wandert. Gespräch mit einem Cyborg, der noch keiner ist.

7. Im Kreis geflogen oder zurück in die Zukunft?
Möglichkeiten und Grenzen des maschinellen Denkens. Wenn der Mensch sich als Maschine deutet.

 

Fragen, Kommentare, Anregungen? Mail an den Autor: joerg@aufdemhoevel.de

 

 

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Mixed

Lob der Übertragung. Die Kunstwerke der Ulrike Willenbrink

Für den Austellungskatalog „Werkknospen“, Hamburg 2003.

Lob der Übertragung Spannend wird es immer dann, wenn das Rätsel in einem Bild kein Denksport ist. Vor einem Bild von Ulrike Willenbrink stehen – dies strengt nicht den Kopf an, sondern lässt den inneren Ausguck rufen: „Land in Sicht!“. Alles weitere ist Schöpfung, anders gesagt, eine Geschichte, gebildet aus zwei Ideen, die sich finden. Es amalgieren das visuelle Gefühl der Künstlerin und der launig-deutende Plan des Betrachters. Was dabei rauskommt? Dichtung und eben auch ein Stück persönliche Wahrheit; wohlgemerkt eine Wahrheit, die man lächelnd ertragen kann.

Aber werden wir ruhig etwas konkreter. Am Anfang ist das gezeichnete Wort, gedruckt beispielsweise in einer orientalischen Zeitung, von Willenbrinck kaschiert auf Pappe. Diese Erzählung bildet den greifbaren Hintergrund, die haptische Basis vieler Bilder. Wer lustig ist, darf hier fragen: Sollte das Geheimnis des Werkes in diesem kalligraphischen Code aufbewahrt sein? Mitnichten, oder sagen wir lieber: nicht nur. Denn auf diese exotischen Buchstabensuppe folgt die Umwandlung der willenbrinkschen Umwelt: Gerüche, Pollen- oder Funkenflug, das Lächeln der Nachbarin – oft lässt sich auch eine geflügelte Tortenboden- Ornamentik auf dem Bild nieder. Ebene auf Ebene, Collage auf Collage, so erzählen Schichten die Geschichte, wobei die transparente Übermalung den Blick auf den Grund des Bildes frei hält.

Ein Titel muss nicht die inhaltsschwere Grundaussage eines Werkes repräsentieren. Im Gegenteil, die vermeintliche Tiefsinnigkeit einer Benennung ist oft nur Merkmal einer andauernden Krisenstimmung des Künstlers. Willenbrink geht anders vor: Sie malt, inspiriert beispielsweise von einer Reise nach China, und während der Gestaltung läuft ihr der Titel zu. Glaubt man den Aussagen der Künstlerin, muss sie dabei oft lachen. In der Folge verändert der gewonnene Titel die weitere Schöpfung des Werkes. So ist er für Willenbrink wie für die Rezipienten seltener Hilfestellung als vielmehr Schmunzelanleitung.

Ist eine Kaffeetasse komisch? Für Willenbrinck schon. Oder um es mal anders herum zu sagen: Wer das Leben ernst nimmt, dem seien diese Bilder als therapeutische Wärmflaschen ans Herz gelegt. Das uns umgebene „Leben unter der Woche“ wird hier im Detail aufgelöst und anschließend lächelnd gewendet, so für uns gedreht, dass die verschüttete Wunderlichkeit neu zu Tage tritt. So was nennt sich Ironie des Alltags.

Jörg Auf dem Hövel

 

 

WALDFEE

WALDFEE (Ulrike Willenbrink, 1999, Mischtechnik auf Papier 67 x 97 cm)

 

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Mixed Reisen

Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt. Wer ist dieser Mann?

telepolis, 20.09.2006

Der Monarch, das Militär, die Demokratie

Nach dem unblutige Putsch in Thailand ist wieder einmal König Bhumibol gefragt

Der eloquente Thaksin Shinawatra scherzte gerade mit den Diplomaten und Geschäftsleuten in New York, als ihn die Nachricht von seiner fristlosen Kündigung erreichte. Die Armeeführung hatte Thailands Ministerpräsidenten abgesetzt, gerade einmal zehn Panzer in Bangkok und ein paar königstreue Lieder im landeseigenen Armee-TV haben ausgereicht, um das seit Monaten andauernde Machtvakuum zu beenden. 15 Jahre lang hatte sich das Militär das demokratische Treiben im Land angeschaut, nun folgte der 20. Staatsstreich seit 1932.

Shinawatra hat sich nach London abgesetzt und wartet ab. Noch schweigt der Palast unter König Bhumibol, ihm wird aber bei der Re-Demokratisierung des Landes eine entscheidene Rolle zukommen. Ein „Rat für demokratische Reformen unter der Monarchie“ unter Generalleutnant Sonthi Boonyaratglin erklärte: „Wir haben nicht die Absicht zu regieren, sondern werden die Macht sobald wie möglich an das Volk zurückgeben, um den Frieden wiederherzustellen und die Ehre des Königs, dem Verehrtesten aller Thais.“

Das Berufen auf den König ist seit Jahrzehnten die Allzweckwaffe in Thailand, um sich der Unterstützung der Gesellschaft sicher zu sein und zugleich soziale Ruhe zu verordnen. Auch die aktuell putschenden Soldaten tragen gelbe Bändchen, um ihre Solidarität mit der Monarchie zu bekunden. Die in protestfreudigen Studenten Bangkoks wurden aufgefordert Demonstrationen zu unterlassen, sie sollten sich aber am „demokratischen Wiederaufbau des Landes“ beteiligen. Die Medien wurden aufgefordert „wahrheitsgemäßt und konstruktiv zu berichten, um die Einheit des Landes zu fördern“. Die Webseiten der großen Tageszeitungen Bangkok Post, The Nation sind erreichbar.

Obwohl Bhumibol Adulyadej der am längsten regierende Monarch der Erde ist, bleibt seine zentrale Funktion im politischen Systems Thailands seit Jahrzehnten unbeleuchtet. Der Journalist Paul M. Handley hat genauer hingesehen und legte vor kurzem die erste umfassende Biographie des Königs vor (Paul M. Handley: The King Never Smiles). In Thailand hat man bereits reagiert: Das Buch ist nicht zu erwerben, Teile der Website des Verlages sind gesperrt.

Wahrhaft neues aus dem politischen Intimbereich des Palastes deckt Handley nicht auf, seine Recherchen stützen sich auf akribische Auswertung von Sekundärliteratur und Print-Medien. Warum dann die Aufregung um das Buch? Es reicht aus, dass Handley ein zum Teil differenziertes, zum Teil skandalbemühtes Bild zeichnet: Ein König, der zwischen buddhistisch-thailändischer Tradition und Hightech-Moderne, dem starken Militär und der demokratischen Bewegung balanciert will. Dabei steht Bhumibols Handeln stets unter der Prämisse Einfluss auf die Prozesse im Land zu behalten.

Die Amtsgeschäfte übernahm der neunte Spross der Chakri-Dynastie im Juni 1946. Seine Anhänger suchten den thailändischen Staat wieder mehr um den Thron herum zu organisieren. Wer immer dazu bereit war der Monarchie mehr Macht zuzubilligen, der war als Verbündeter willkommen. Zugleich passte die Person Bhumibols gut in die Pläne: Er sprach der Tradition des Theravada-Buddhismus zu und meditierte regelmäßig. Vierfünftel der Thais lebten damals auf dem Land, ihr Leben war rund um den Wat, die buddhistische Tempelanlage, organisiert. Hier viel die Idee eines selbstlosen, von politischen Querelen weithin unberührten König auf fruchtbaren Boden. Die lokale Verwaltung galt schon damals als inkompetent, Gesetze oder gar eine demokratische Verfassung als unberechenbar.

Trauriger Mann

Selten, dann aber mit weisen Worten, wandte sich der junge König an sie, seine Hilfsprojekte überzogen merklich das Land. Er gilt bis heute als Fels in der Brandung in unsicheren Zeiten: Stets diszipliniert, gleichmütig und vor allem über alle Maßen ernsthaft. Die gerne fröhlichen Thailänder sahen in diesen Eigenschaften eine Nähe zur Buddha-Natur. Eine Sicht, die vom Palast gerne gestützt wurde.

Es ist bis heute unklar, inwieweit Bhumibols kontinuierlich traurige Nachdenklichkeit eine mediale Konstruktion oder eine ihm innewohnende Eigenheit ist. So oder so sorgte die PR-Abteilung des Palastes schon früh dafür, dass keine Fotos eines lächelndes Monarchen mehr in die Öffentlichkeit gelangten. So entstand zwischen den 60er und 80er Jahren ein sakraler Nimbus, der sich bis heute zu einer religiösen Verehrung weiterentwickelt hat.

Für westlich-verweltlichte Beobachter ist es mehr als ungewöhnlich, wenn in Bangkok ganze Straßenzüge bei der Durchfahrt des königliche Autokorsos niederknien. Verehrung und Etikette gehen so weit, dass Bhumibol einmal annähernd an einem Kreislaufkollaps gestorben sein soll, weil niemand der Anwesenden ihm helfen wollte – die Regeln am Hof verbieten die Berührung des Königs. Abseits solcher Anekdoten ist mittlerweile klar, dass neben dem Volk auch der König selbst an seine Rolle als Vater der Nation glaubt.

Seit Beginn seiner Amtsübernahme steht Bhumibol unter scharfer Beobachtung der Militärs, die in Thailands Politik bis heute eine wichtige Rolle bei der Besetzung der zentralen politischen Posten spielen. Der aktuelle Staatsstreich ist nur, so bleibt zu hoffen, ein weiteres Intermezzo auf dem langsamen Weg Thailands in eine monarchistische Demokratie.

Bei Wohltätigkeitsveranstaltungen sammeln Bhumibol und seine Frau Sirikit jährlich Millionen von Baht ein, um damit Agrar- und andere Projekte zu finanzieren. Für die Thais ein Zeichen von Großmut, für Beoabchter nur ein weiterer Beweis für den unbedingten Willen des Königs, veraltete Wirtschaftskonzepte durchzusetzen und dies mit geschickter Public Relation zu verbinden. In den frühen 60ern, so behauptet Handley, hatte das Informationsministerium der USA die PR für die thailändische Regierung praktisch komplett übernommen. Equipment und Know-How wurden gestellt, über den Äther liefen entweder anti-kommunistische oder pro-monarchische Plattitüden.

USA als Verbündeter

In den Zeiten des Kalten Krieges positionierte Bhumibol sich deutlich gegen den Kommunismus, der aus seiner Sicht eine Gefahr für das Land darstellte. Im benachbarten Laos mobilisierte die nationalkommunistische Gruppe „Pathet Lao“ mit Unterstützung aus Hanoi die Massen, die Regierung in Bangkok bemüht sich um den Schulterschluss mit den USA. 10.000 US-Soldaten wurden 1962 auf Geheiß von John F. Kennedy eingeflogen. Schon zwei Jahre zuvor war die königliche Familie über einen Monat lang durch die USA gereist, Bhumibol, ein begeisterter Jazz-Musiker, hatte mit Benny Goodman spielen dürfen und neben Disney World auch IBM besucht. Der drohende Konflikt mit Laos kühlt schnell ab, die US-Truppen blieben. Im Gegenzug sandte Thailand im September 1967 10.000 Soldaten nach Saigon.

In den 60er Jahren wurden immer wieder Studenten, liberale Politiker und auch politisch aktive Mönche inhaftiert, die Führung des Landes wandert von einem Militär-Regime zum nächsten. Die protestierenden Hochschülern rät Bhumibol zu studieren statt zu demonstrieren. Es bildet sich ein Phänomen heraus, das sich bis in die heutige Zeit zieht: Der Palast steht, manchmal befürwortend, manchmal kritisch, aber meist schweigend an der Seite der Machthaber und bemüht sich, nicht in das Kräftefeld der rivalisierenden Parteien zu geraten.

1968 wird mit der neuen Verfassung ein Zweikammerparlament eingeführt. Die 219 Mitglieder des Unterhauses werden zwar gewählt, die 164 Senatoren des Oberhauses aber vom König eingesetzt. In der Praxis verfestigt dies die Macht des Premierministers und des Königs. Beide können zudem ein Veto gegen Gesetze einlegen. Aber der Samen für die freie Meinungsäußerung war gelegt. Für Bhumibol eine ambivalente Situation: Das ihn liebende Volk wollte Kritik üben, wenn nicht an ihm, so doch an den bestehenden Verhältnissen. In allen zukünftigen Auseinandersetzungen wähnten stets beide Seiten den König auf ihrer Seite. „Wir lieben den König“ und „Mehr Macht für den König“ sind bis heute gängige Transparent-Aufschriften auf Kundgebungen, die von allen Parteien genutzt werden.

Bhumibol zeigte sich derweil besorgt, dass mit dem Easy-Going-Mentalität seiner Landsleute keine Staat zu machen sei. Er mokierte in öffentlichen Ansprachen, dass die buddhistische feine Art, kein Verlangen nach irdischen Gütern zu entwickeln (non-desire), keine Zukunftsträchtigkeit besäße. Er proklamierte „harte Arbeit“, ein unbedingter Einschnitt in die moralische Lebenswelt der buddhistisch geprägten Thailänder. Aber sie folgten ihrem König auch hier. Bangkok 2006

Im Oktober 1973 kam es in der Folge von Protesten von Studenten der Thamasat-Universität gegen den Amtsinhaber Feldmarschall Thanom Kittikachorn zu einem Machtwort des Königs, das seine Ruf als Bewahrer der Nation festigte und bis heute als der Wendepunkt in der thailändischen Demokratie-Geschichte gilt. Mehr als 70 Personen waren in einem Kugelhagel gestorben, Militärs hatten auf friedliche Demonstranten geschossen. Kittikachorn flüchtete in die USA, Bhumibol erklärte die Regierung für aufgelöst und ernannte den Sanya Dharmasakti, den Rektor der Thamasat-Universität, zum neuen Premierminister. Aber der Geist von Kittikachorn war nicht gebannt.

Autoren wie Handley sind sich sicher, dass auch diese Episode weniger die neuentdeckte Leidenschaft des Königs für die Belange der Demokratie bewies, sondern nur seine Ordnungsliebe. An einer sozio-politischen Wende im Land, so die Meinung, sei Bhumibol nicht interessiert gewesen, sondern an Stabilität und Wiederherstellung der Ordnung. So oder so: Seit dieser Zeit ist Bhumibol eine, wenn nicht sogar die zentrale Figur im politischen Systems Thailands.

Village Scouts

In den 70er Jahren folgte Bhumibol weiterhin den Klängen des Kalten Krieges und unterstütze die Bewegung der sogenannten „Village-Scouts“. Dies waren dörfliche Vereine, die strenge Traditionen bewahren und das Land vor der kommunistischen Gefahr schützen sollten. Zeitgleich gründeten sich Organisationen wie Krating Daeng (Red Gaur) und Navapol, die im Namen der nationalen Sicherheit Krawall und Vigilantentum gegen alles und jeden betrieben, der im Verdacht stand, anti-royalistisch oder kommunistisch zu sein. Der Palast schwieg wieder einmal; sogar noch, als die Gruppen anfingen, Sprengsätze während Studenten-Demonstrationen zu zünden.

Höhepunkt der anti-kommunistischen Hysterie war der 6. Oktober 1976. Arbeiter und Studenten hatten sich in den letzten Wochen vereinigt, um gegen die Rückkehr des Ex-Premiers Thamon Kittikachorn zu protestieren. Dieser war in einer klassischen Mönchskutte aus dem Flieger gestiegen und direkt zum Wat Bovonives gefahren, um sich dort zum Priester weihen zu lassen. Kronprinz Vajiralongkorn machte ihm seine Aufwartung, die Bevölkerung war mehrheitlich entsetzt, die Universität wurde von mindestens 10.000 Studenten und Demonstranten besetzt.

Village Scouts, Krating Daeng, Navapol und das Militär strömten nach Bangkok. Kurz vor Sonnenuntergang begannen die Truppen und die lokale Polizei wahllos in die Menge zu schießen, Granaten wurden auf das Gelände gefeuert, flüchtende Menschen in den Rücken geschossen. Offizielle Zahlen sprachen von 46 Toten, inoffizielle von weit über 100. Die Macht ging in die Hände einer Gruppe von Generälen über, ein paar Tage später wurde der Favorit des Palastes, Tanin Kraivixien, zum neuen Premierminister ernannt.

Nur ein Jahr später kam es zu einem erneuten Putsch, dieses Mal übernahm ein gewisser General Kriangsak Jamanandana die Macht. Diese Website gibt eine gute Übersicht über die wechselvolle Geschichte des thailändischen Kabinetts. Die Tradition der ständigen Staatsstreiche setzte sich fort, die Taktik ist bis in die 90er Jahre hinein die gleiche geblieben: Zunächst Angst, dann Unruhe und schließlich Gewalt erzeugen, die Polizei machtlos halten, schließlich das Militär einsetzen.

Lèse-Majesté

Eines wird ausländischen Besuchern und Pressevertretern schon kurz nach dem Ankommen in Thailand klar – oder gerne auch zügig klar gemacht: Fragen nach oder Kritik an Monarchie oder König sind unerwünscht. Der gute König von Siam wird hoch verehrt, er gilt als Bewahrer des inneren Friedens des Landes. Seit dem 2. Weltkrieg diente der Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“ verschiedenen Ministerpräsidenten und hohen Beamten dazu, unliebsame Gegner inhaftieren zu lassen. Dies geschah beispielsweise mit einem Mann, der öffentlich behauptet hatte, die Monarchie stehe nicht über der Politik. Die Folge: Drei Jahre Gefängnis. Ein Bauer wurde verurteilt, weil er seinen Hund nach dem König benannt hatte. 1984 wurde der Intellektuelle Sulak Sivarak verhaftet, er hatte dem Palast vorgeworfen, die neueren Entwicklungen in Thailand zu verschlafen. Der Wunsch nach Veränderung der sozialen Verhältnisse wurde von irregeleiteten Monarchisten immer wieder als Angriff auf den Thron gedeutet. Heute wird das Gesetz kaum noch angewandt, gleichwohl hält sich das Volk daran. Allerdings meist nicht aus Angst, sondern aus innerer Überzeugung. Die Verehrung gegenüber dem König sitzt so tief, das die meisten Thailänder die Beschneidung der Meinungsfreiheit einfach nicht empfinden.

Ein paar weitere Zahlen: 1988 lebten 25 Prozent der Familien unter der offiziellen Armutsgrenze, die Reichen 20 Prozent verdienten 56 Prozent des inländischen Einkommens. Jeder fünfte Schüler genoss nur vier Jahre Schule. In den Augen der Bevölkerung war es egal wer sie regierte, ihr Lebensverhältnisse blieben unter gewählten Ministerpräsidenten wie diktatorischen Generälen gleich schlecht. Ein erneuter Putsch des Militärs 1991 wurde von Bhumibol erduldet, in seiner traditionellen Geburtstagsrede am 4. Dezember bezeichnete er demokratischen Prinzipien als „hochintellektuelle Ideale, die eine Gesellschaft schwächen können“. Aus buddhistischer Sicht, so Bhumibol, seien auch Verfassungen zu unbeständig, um die Ordnung einer Gesellschaft zu garantieren. Kaufhaus in Bangkok

Nur ein Jahr später kam es erneut zu Protesten, die sich gegen die Regierung von General Suchinda richteten, wieder eröffnete das Militär das Feuer, Hunderte starben, Thailand stand am Rande eines Bürgerkriegs. Bhumibol lud Suchinda und den Oppositionsführer Chamlong zu einer Audienz, die später wohlüberlegt im Fernsehen gezeigt wurde: Beide Männer knieten vor dem König. Succhinda trat als Premierminister zurück, blieb aber als Verteidigungsministern im engen Dunstkreis der Machtelite. Es folgten Wahlen, Chuan Leekpai von der „Democrat Party“ wurde Premier.

2001 übernahm der bis vor kurzen amtierende populistische Premier Thaksin Shinawatra von der TRT-Partei („Thai Rak Thai“ = Thais lieben Thais) die Regierungsgeschäfte. Wie bei allen Premiers vor ihm durchziehen auch seine politische Existenz Finanz-Skandale und Korruptions-Affären. Der Medienmogul Sonthi Limthongkul lancierte 2005 eine Kampagne, die vor allem bei der urbanen Bevölkerung gut ankam: Man warf Shinawatra Amtsmissbrauch vor. Eigentlich nichts neues bei einem thailändischen Politiker, aber die Massen waren wieder einmal mobilisiert. Dazu kamen absurde Vorwürfe, die Shinawatra als Hintermann der Zerstörung des heiligen Phra Phrom Erawan Schreins denunzierten.

Im Februar 2006 beantragten 28 Senatoren beim Verfassungsgericht ein Amtsenthebungsverfahren, Shinawatra rief daraufhin Neuwahlen aus, die Opposition boykottierten die Wahl, die TRT gewann sie. Wieder griff Bhumibol ein, nach einer Audienz beim König erklärte Shinawatra seinen Rücktritt. Später erklärte das Verfassungsgericht die Wahlen für ungültig, nun sollte am 15. Oktober 2006 neu gewählt werden. Umfragen deuteten auf einen erneuten Sieg der TRT hin. (Einen guten Überblick über die Krise gibt dieser Wikipedia-Eintrag.

Welche Parteien zu den nun von General Sonthi Boonyaratglin für Ende Oktober angesetzten Neuwahlen zuglassen und welche Rolle die TRT und die „People’s Alliance for Democracy“ (PAD) dabei spielen werden ist unklar. Einen längeren Einsatz des Militärs, so scheint es zur Zeit, wird das Land nicht erdulden müssen. Wichtig war den Putschisten primär die endgültige Entmachtung Shinawatras – darin war man sich mit König Bhumibol einig.

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Elektronische Kultur

Interview mit dem Pressesprecher von Google Deutschland über Blogs, Gut und Böse

Telepolis v. 18. 09.2006

Jenseits von Gut und Böse

Ein Interview mit Stefan Keuchel, Pressesprecher von Google Deutschland, über Blogs, Journalismus und den Unterschied zwischen Gut und Böse

Hamburger Innenstadt, Geschäftsmänner neben Shopping-Touristen, Fahrradkuriere und hupende Taxis. Im dritten Stock eines Bürokomplexes sitzt die deutsche Dependance der größten und erfolgreichsten Suchmaschine weltweit: Google (1). Schon am Eingang die erste Besonderheit. Man muss sich in ein System einloggen, Name und Auftrag eingeben und eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben. Sodann wirft ein Thermo-Drucker ein selbstklebendes Schildchen mit einem Namen aus, das den Besucher ausweist.

Stefan Keuchel kommt flugs-kernig durch die Tür. Händeschütteln. Der Pressesprecher hat Hunger, das trifft sich gut. Der Tafelspitz in der betriebseigenen Mini-Kantine schreckt uns ab, ich greife trotzdem zu. Ein Warnhinweis hängt am Pfeiler: Kameras hängen im Raum, jeder muss damit rechnen, im Intranet beim unadäquaten Nasebohren in der Kantine beobachtet zu werden. „Durch die Kameras sehen alle, wann das Essen da ist“, erklärt Keuchel. Essen, Kaffee, Getränke, bei Google gibt es das alles umsonst. Die Belegschaft greift zu, es geht schnell. Alles geht schnell hier, eine behäbige Firma kann nicht alle paar Monate ein Produkt auf den Markt bringen, das die Online-Welt fasziniert oder zumindest irritiert.

Ein Mitarbeiter setzt sich zu uns, es geht um Tauchen in Ägypten, Problembären in Kanada und das unglaublich schöne Vancouver. Auch Googlerianer brauchen mal Urlaub. Rundgang. Die offenen Räume entsprechen dem Bild einer erfolgreichen Internet-Firma: Flottes Design, bunte Sofas, Lava-Lampen, ein Chill-Out Zone mit X-Box und Kicker. Bis auf die Arbeitsplatz-PCs ist wenig Technik zu sehen. Die meisten Mitarbeiter in der deutschen Google-Zentrale betreuen große Firmenkunden, erst zukünftig sollen auch Entwickler hier arbeiten.

In einem Flur hatte man eine Zeit lang die besten Artikel aus den größten Tageszeitungen und Magazinen ausgehangen. Dann ging man dazu über, nur noch die Cover-Storys einzurahmen, aber auch dafür ist der Flur inzwischen zu klein, Googles Durchgangs-„Hall of Fame“ verstaubt. Alle Konferenzräume bei Google tragen den Namen von bekannten Orten in Hamburg. Wir landen in Raum „Elbe“. Interview.

Google nimmt sich des Themas Blogs stark an. Warum ist das so?

Stefan Keuchel: Wir betreiben zur Zeit 30 Google-Blogs zu unterschiedlichsten Themen und Produkten. Der offizielle Google-Blog (2) hat seit der Eröffnung im Juni des letzen Jahres pro Tag rund 30.000 Besucher. Technorati sagt, dass der Google-Blog der einzige Corporate-Blog ist, der wirklich populär ist. Wir sind permanent in den Top 20. Heute ist es so, dass wir uns parallel zur Entwicklung eines neuen Produkts auch Gedanken über einen Blog machen, der das Produkt begleitet. Darin können wir dann Besonderheiten des Programms beschreiben und wertvolle Tipps geben. Der Adsense-Blog ist derzeit das einzige deutschsprachige Blog. Das liegt daran, dass auch in Deutschland immer mehr Website-Betreiber Adsense bei sich einbinden. Selbst kleine Webseiten können damit Geld verdienen, stark frequentierte sogar ziemlich viel.

So viel, dass die Print-Medien nervös werden. Werbung über Google Adsense steht in dem Ruf, erheblich zielgenauer und besser kontrollierbar zu sein.

Stefan Keuchel: Die Nervosität ist vielleicht berechtigt, auf der anderen Seite können die Printmedien auch partizipieren. Seiten wie Brigitte.de oder Max.de zeigen das. Die haben bereits die Vorteile des AdSense-Programms für sich entdeckt und generieren gute Einnahmen damit.

Wie Google auch.

Stefan Keuchel: Richtig. Vielen ist gar nicht klar, wie Google, obwohl der Suchdienst kostenlos ist, im letzten Jahr 6,1 Milliarden Dollar Umsatz generieren konnte. Mittlerweile trägt Adsense zur Hälfte dieses Umsatzes bei. Das automatisierte System ist inzwischen so gut, dass auf den Webseiten immer passende Werbung geschaltet wird. Auf einer Angelseite wird dann eben nicht für eine Waschmaschine geworben, sondern für Angelzubehör. Deshalb sind die Klickraten in diesem Bereich eben auch vier bis fünfmal höher als bei anderen Online-Werbeformen.

Wieviel erhält der Webseitenbetreiber prozentual pro Klick, wieviel Google?

Stefan Keuchel: Das genaue Verhältnis machen wir nicht öffentlich. Der Seitenbetreiber erhält aber, soviel kann ich sagen, mehr als 50 Prozent.

Zurück zu den Blogs. Für wen eignen sich die Online-Tagebücher?

Stefan Keuchel: Blogs sind ein schneller und direkter Weg, um mit bestimmten Zielgruppen in Kontakt zu treten. Das geht bei Firmen, die im IT-Bereich tätig sind, meist leichter von der Hand als beim Metzger um die Ecke oder einem Möbelhaus. Blogs sind sicher nicht für jede Branche ein geeignetes Kommunikationstool. Aber wenn die Zielgruppe sowieso schon internetaffin ist, dann bietet es sich an. Zudem ist ein Blog nicht so förmlich wie eine Pressemitteilung und der Journalist als Filter fällt weg.

Gleichwohl nutzen wenig Unternehmen Blogs als Kommunikationsmedium.

Stefan Keuchel: „Blog“ war das Wort des Jahres 2003 in den USA. Aber von den Fortune 500 Firmen in den USA sind es zur Zeit nur knappe sechs Prozent, die Blogs betreiben. In meinen Augen herrscht da unglaubliches Potential, das bisher nicht erkannt oder nicht genutzt wird. Die Menschen sind an großen Unternehmen interessiert und Blogs sind ein Kanal die Firma nach außen darzustellen.

In Deutschland dümpelt selbst der immer wieder zitierte Frosta-Blog, bis vor wenigen Monaten der einzige Corporate-Blog, vor sich hin.

Stefan Keuchel: Es ist dort wie so oft: Die Leute sind zwar begeistert von der Einrichtung, nur schreiben wollen die wenigsten dafür. Die Google-Blogs sind da heterogener.

Was unterscheidet dann noch einen Unternehmens-Blog von anderen Werbe-Instrumenten?

Stefan Keuchel: Wer einen Blog hauptsächlich als Werbeinstrument sieht, hat das Thema Bloggen offensichtlich nicht verstanden. Es gibt die Vermutung, dass einige CEO-Blogs gar nicht von den Verantwortlichen selbst, sondern der PR-Abteilung geschrieben werden. Das wird aber nicht funktionieren. Die Blogosphere ist da sehr sensitiv. Pressemitteilungen gehören auf die Presseseite und nicht in einen Blog.

Glaubt man den Zahlen von Technorati werden weltweit in jeder Sekunde zwei neue Blogs eröffnet. Noch verdoppelt sich jedes halbe Jahr die Anzahl der Blogs. Wer will das alles lesen?

Stefan Keuchel: Sicher ist, dass unter diesen Blogs eine riesige Anzahl von „Heute-war-ich-Schuhe-einkaufen“ und sogenannte „Montags-Blogs“ sind, die keine regelmäßigen Updates erhalten. Es ist doch logisch, dass solche Blogs nicht besonders populär werden. In Deutschland, so las ich vor kurzem, lesen nur fünf Prozent der deutschen Internetnutzer überhaupt Blogs. Doch diese Zahl wird ansteigen, denn es gibt auch immer mehr gut gemachte und interessante Blogs. Das ist eine Voraussetzung, damit Leser wiederkehren und im besten Fall zum Stammleser werden.

Interviewunterbrechung, unser Raum „Elbe“ wird benötigt, wir wandern zu Raum „Neuer Pferdemarkt“. Keuchel erzählt von einer Begebenheit: Vor einigen Monaten klingelte eine alte Dame an der Firmentür und wollte zur Röntgenabteilung von Google. Ihr Arzt hätte ihr gesagt, sie solle „ihr Beckenleiden bei Google recherchieren“. Das tat sie, allerdings offline. Sie suchte die Adresse von Google aus dem Telefonbuch und wurde vorstellig. Das Team am Counter erklärte den Irrtum und recherchierte mit ihr zusammen.

Ein paar Schritte und Google Logos weiter stehen in einer Vitrine die Auszeichnungen, die das Unternehmen bislang erhielt. Bis vor kurzem lag hier auch noch der aufgeschlagene Duden mit dem Begriff „googeln“. Der hauseigene Jurist sah das nicht gerne, man stellt Kontakt zur Duden-Redaktion her. Sollte der Begriff „googeln“ nämlich in die Umgangsprache als Bezeichnung für eine Abfrage in einer beliebigen Suchmaschine eingehen, wäre das Recht an der Marke „Google“ gefährdet. „Googeln“ ist daher heute laut Duden nur noch „Internetrecherchen mithilfe einer Suchmaschine durchführen“.

Sind die Deutschen eventuell gar nicht extrovertiert genug, um wie die USA zu einer „Blogger-Nation“ zu werden?

Stefan Keuchl: Im privaten Bereich kann ich mir das vorstellen, ja. Im Unternehmensbereich dagegen ist das eher eine firmenpolitische denn psychologische Entscheidung. Und hier wird aus meiner Sicht von deutschen Firmen eine Entwicklung im großen Stil verschlafen. Das ist erschreckend. Auch für Journalisten sind doch Firmen interessanter, die einen Blog auf ihre Webseite anbieten.

Kommt auf den Informationsgehalt des Blogs an.

Stefan Keuchl: Vielleicht fragt man in Deutschland zu schnell nach dem Nutzen. Von Firmen wird hier ja eher auf die Gefahren hingewiesen, die so ein Blog mit sich bringt. Grenzwertig wird es auch da, wo Firmen anfangen, Blogger mit Produkten auszustatten, damit diese über ihre Erfahrungen damit berichten. Da steht Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

Ein Drittel der weltweit aufgesetzten Blogs ist in englischer, ein Drittel in japanischer Sprache verfasst. Was weiß man über die japanische Blogger-Szene?

Stefan Keuchl: Wenig.

Sie sagten einmal: „Google liebt Blogs“, was auch an den vielen Backlinks läge. Besteht nicht die Gefahr, dass Blogs daher in den Suchergebnislisten übergewichtet werden?

Stefan Keuchl: Ich denke nicht. Blogs sind Blogs und Webseiten sind Webseiten. Google hat verschiedene Services, um die beiden Suchbereiche abzudecken, zu Überschneidungen kommt es nur dann, wenn ein Blog so bekannt wird, dass er in den Ergebnissen oben landen muss. Aber ein Google-Nutzer erwartet im Regelfall keine Blogs als obere Einträge, also werden wir darauf achten, dass hier auch weiterhin nur relevante Suchergebnisse erscheinen.

Gefährden Blogs den Online-Journalismus?

Stefan Keuchl: Die Menschen werden immer das Bedürfnis haben sich aus verlässlichen und vertrauenswürdigen Quellen gut aufbereite Nachrichten zu informieren. Blogs werden den Journalismus nicht ersetzen, aber das Konsumverhalten ändert sich. Zukünftig wird man neben einer klassischen Nachrichtenquelle eben auch einen Blogbeitrag lesen, um eine andere Sicht auf die Dinge zu erhalten. Man denke an das Bombenattentat in London: Dort bloggten nur Minuten nach den ersten Detonationen die ersten Leute vor Ort. Größtenteils mit sehr eindrucksvollen Beschreibungen der sich dort abspielenden Szenen.

Wie kam es zur Kooperation mit der Nachrichtenagentur Association Press? Warum bezahlt Google plötzlich für Inhalte?

Stefan Keuchl: Dies ist tatsächlich ein neuer Schritt für Google, wir verweisen nicht mehr nur auf Inhalte, sondern bieten sie teilweise selber an. Entwickelt wird ein neues Feature für Google News, die News-Seite soll dadurch noch interessanter und informativer werden. Ich darf leider noch nicht darüber sprechen, wie das genau aussehen wird, aber ich kann versichern, dass Google News Nutzer auf keinen Fall dafür zahlen müssen.

Wie kommt es zu diesem enormen Ausstoß von immer neuen Produkten bei Google?

Stefan Keuchl: Die Hälfte der Google-Mitarbeiter sind Ingenieure. Diese Kollegen haben einfach Spaß daran, immer neue Dinge zu entwickeln. Wir haben eine Liste von 100 Produkten, die in „der Pipeline“ stecken und an denen bereits gearbeitet wird. Es arbeiten immer kleinere Teams von ca. 5-7 Leuten an einem Produkt. Daher können wir neue Services und Produkte relativ schnell entwickeln und auf den Markt bringen. Auch der Launch-Kalender für den deutschen Markt verspricht noch in diesem Jahr einige interessante neue Produkte.

Mit der Größe des Unternehmens wuchs auch die Kritik an Google. In den Augen einiger Netizens war Googles zensierter Webauftritt in China der Stein des Anstoßes.

Stefan Keuchl: Der Markteintritt in China war auch intern ein sehr kontrovers diskutiertes Thema. Aber wir haben uns dazu entschlossen, weil wir festgestellt haben, dass Millionen von Chinesen versucht haben, auf Google.com zuzugreifen. Das wurde allerdings von der sogenannten „Great Chinese Firewall“ erschwert oder gar verhindert. Daher war es ein konsequenter Schritt, Google.cn auf den Weg zu bringen. Zumal unsere Wettbewerber alle längst in China waren. Im Gegensatz zu unseren Wettbewerbern zeigen wir übrigens an, dass gewisse Suchergebnisse auf Grund lokaler Gesetze nicht angezeigt werden. Das ist in China nicht anders als in Deutschland oder auch den USA. Interessanterweise haben wir auch im Fall China versucht, unsere Beweggründe über unseren Corporate Blog zu erläutern.

Aber da kommt es doch nicht zu einer wirklichen Dialog mit den Kritikern?

Stefan Keuchl: Das stimmt natürlich. Der Blog versucht nur zu erklären, wieso wir diesen Weg gegangen sind. Kritikern stellen wir uns aber bei vielen Gelegenheiten, sei es auf Konferenzen, Vorträgen oder auch in Interviews. Kritiker von Google gibt es immer mehr. Spätestens seit Börsengang ist vielen klar geworden, dass Google eben keine Garagenfirma ist, die zu besonderen Anlässen mal ihr Logo verändert, sondern ein Milliarden-Dollar-Unternehmen. Und es ist ein normaler und guter Vorgang, dass vermeintlich mächtige Unternehmen kritisch beäugt werden.

Wie kam es eigentlich zu dem Firmengrundsatz „Sei nicht böse“?

Stefan Keuchl: Entstanden ist dieses Motto eigentlich einmal als interne Marschrichtung. Bei einem Meeting unter den ersten sechs Google-Kollegen kam die Frage auf, wie man eigentlich arbeiten wolle und wie die Marschrichtung ist. Es kam dann zu diesem salopp dahingeworfenen Satz eines Kollegen, „do no evil“. Dieser prägnante Satz hat in den Augen von Larry Page und Sergey Brin ihre Philosophie sehr gut auf den Punkt gebracht. So blieb dieser Spruch lange Zeit intern, tauchte aber dann eines Tages auf unserer Webseite auf und nahm so seinen Weg. Das Problem mit diesem Spruch ist: Es ist ein leicht anzugreifendes Motto, da jeder eine andere Meinung davon hat, was „böse“ ist.

Die Bereitstellung und Sortierung von vielen Informationen ist ein Ziel, das eben auch Probleme aufwirft.

Stefan Keuchl: Richtig, dies zeigt sich zur Zeit bei der Google-Buchsuche. Hier geht es darum, einen Wunschtraum der Menschheit zu erfüllen, und das Wissen, das in Büchern steckt, für jedermann zugänglich zu machen. Aus meiner Sicht an sich kein schlechtes Unterfangen.

Vor allem dann, wenn Urheberrechte abgelaufen sind.

Stefan Keuchl: Sicher, das gilt es zu beachten. Der Grundgedanke geht auf das erste Zusammentreffen von Larry und Sergej zurück, die darüber sinnierten, wie schön es wäre, wenn man zu jederzeit auf die Informationen dieser Welt zugreifen könnte. Das ist weiterhin unsere Motivation und hat sich auch in unserer Mission, „die Informationen dieser Welt zu organisieren und jedermann zugänglich zu machen“, manifestiert.

Wann musste Google Entscheidungen zwischen „Gut und Böse“ treffen?

Stefan Keuchl: Ich will ein Beispiel dafür geben. Larry wurde einmal ein Vorschlag gemacht, der ein Google-Produkt so verändern wollte, dass beträchtlich mehr Geld damit zu verdienen gewesen wäre. Larry fragte nur, wo der Vorteil für den Nutzer wäre – den gab es aber nicht und damit war das Thema von Tisch. Und so gibt es auch heute viele Services und Dienste, die nicht kommerzialisiert sind. Nehmen Sie beispielsweise Google News oder die Bildersuche. Diese Dienste sind werbefrei und wir verdienen absolut kein Geld damit.

Wird der Anspruch, nie Böses tun zu wollen, mit wachsender Größe und Kapitalkraft eines Unternehmens nicht immer schwerer zu erfüllen?

Stefan Keuchl: Wie schon gesagt, Sie haben sicher eine andere Auffassung darüber, was böse ist, als ich. Und ein Dritter hätte wiederum eine komplett andere Meinung darüber. Daher haben Sie Recht, der Anspruch ist schwer zu erfüllen. Ich kann dazu nur sagen, dass der Erfolg von Google abhängig ist von dem Vertrauen seiner Nutzer in Google. Wir wären beispielsweise sehr schlecht beraten, sorglos mit den Daten unserer Nutzer umzugehen. Der Schutz der Privatsphäre unserer Nutzer steht daher an erster Stelle. Unsere Datenschutzbestimmungen kann jeder Nutzer jederzeit einsehen und nachlesen. Derjenige, der das tatsächlich tut, wird feststellen, dass wir weder Daten an Dritte verkaufen, noch Nutzerprofile erstellen.

Aber was passiert, wenn Google verkauft werden würde?

Stefan Keuchl: Diese Frage lässt sich natürlich aus heutiger Sicht schwer beantworten. Zunächst einmal bestehen keinerlei Pläne, Google zu verkaufen. Ganz im Gegenteil. Doch ich bin felsenfest davon überzeugt, dass selbst dann, wenn es eines Tages dazu kommen würde, sicher gestellt wäre, dass kein Missbrauch mit Google-Nutzerdaten geschehen könnte. Denn das möchte niemand bei Google.

(1) http://www.google.de/
(2) http://googleblog.blogspot.com/

 

 

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Deutschlands Küsten werden sich auf den Klimawandel einstellen muessen

telepolis, 14.09.2006

Kein Land in Sicht

Klar ist: Der Klimawandel ist Realität, die Erdatmosphäre erwärmt sich. Klar ist auch: Das wird globale Auswirkungen auf das Wetter und den Meeresspiegel haben. Auf einem Kongress in Hamburg wollten Experten nun klären, was auf Deutschland dabei zukommt.

Es ist amüsant und erschreckend zugleich, mit welcher Nonchalance die Klimaforscher mittlerweile die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren. Dabei sie müssen einen Umbruch in der Erdgeschichte prognostizieren, der frappierender nicht sein könnte. Mojib Latif vom Leibniz Institut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel wies auf dem Kongress „aqua alta“ im herrlichen Hamburger Slang darauf hin, dass der Meeresspiegel aufgrund der globalen Erwärmung bis 2100 um mindestens 50 cm ansteigen wird. „Ich gehe aber eher von einem Meter aus“. Dabei sind die schmelzenden Eiswüsten von Grönland noch gar nicht eingerechnet. Deren Reduktion ist schwer zu berechnen, durch Schneefall vereisen sie oben neu, während sie unten durch das warme Wasser abschmelzen. Sollte das gesamte Eis Grönlands abtauen, und es gibt Szenarien, die dies für wahrscheinlich halten, stiege der Meeresspiegel um sechs Meter an.

Zu diesem Anstieg gesellt sich eine Erhöhung der Regenmengen. Aus dem bayerischen Hohenpeißenberg, wo man seit 1876 jeden Tropfen Regen misst, kommt die Meldung: Die Niederschlagsmengen hat sich seit 100 Jahren verdoppelt. Und so wie es aussieht, es das erst der Anfang der vom Menschen verursachten Ereignisse.

Mit jährlich rund zehn Tonnen CO2 trägt jeder Deutsche zum globalen Treibhauseffekt bei. Das ist das 127fache eines Bauern in Mosambik, das Sechsfache eines Brasilianers und die Hälfte eines US-Bürgers. Das Klima ist träge und reagiert zeitversetzt auf diese Kohlenstoffdioxid-Emissionen, die der Mensch in die Atmosphäre bläst. Die aufgeheizte Atmosphäre gibt einen Teil der Energie an die Ozeane ab. Diese, im Schnitt vier Kilometer tief, speichern die Temperatur und bleiben nach einer Erhöhung der Temperatur wie jetzt mindestens 200 Jahre lang erwärmt. Selbst wenn ab Morgen das Kyoto-Protokoll von allen Ländern befolgt werden würde, wäre immer noch mit einem Anstieg der weltweiten Temperaturen um rund 2 Grad Celsius in den nächsten 100 Jahren zu rechnen. Das alles heißt zwar für die meisten Wissenschaftler noch nicht, dass die heißen Sommer von 2003 und diesem Jahr bereits Zeichen des Klimawandels sind. Vom Wetter auf das Klima zu schließen ist problematisch. Aber das sich viele Länder in den nächsten Jahrzehnten an ein verändertes Klima anpassen werden müssen, steht außer Frage.

Hans von Storch vom Institut für Küstenforschung am GKSS hat die möglichen Folgen für die norddeutsche Region anhand mehrerer Szenarien beschrieben. Bei hohen CO2-Emissionen sei bis 2085 mit einem Anstieg des mittleren Hochwassers an der Messstation in Hamburg St.Pauli von 50 bis 70 Zentimetern zu rechnen. Und selbst bei niedrigen Emissionen sind die Anstiege nicht viel geringer. „Man muss also unabhängig von der Emissionsentwicklung mit einem merkbaren Anstieg der mittleren und sturmbedingten Wasserstände in der Zukunft rechnen.“

Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen. Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC
Verlauf der global gemittelten Oberflächentemperatur der Meere nach drei Institutionen.
Grafik: WBGU nach dem Bericht des IPCC

Über die Folgen wollte man in Deutschland lange Zeit nicht nachdenken, aber die Küstenbundesländer sehen sich nun zum Handeln gezwungen. Im gesamten Nordseeraum leben 16 Millionen Menschen in tief liegenden Küstenregionen, die ohne Küstenschutz von den Fluten bedroht wären. Bremen und Niedersachsen wollen einen gemeinsamen Generalplan Küstenschutz aufstellen, unhängig davon wird im Projekt ComCoast noch bis Ende 2007 überprüft, wie man die Bürger vor Sturmfluten schützt und dies gleichzeitig sinnvoll in den ökologischen Raum einbettet. Natur- und Hochwasserschutz, das zeigten auch Katastrophen an den Binnenflüssen, müssen verknüpft werden.

„Die bisher geltenden Grundlagen für die Bemessung der Küstenschutzeinrichtungen sind nicht mehr angemessen“, sagt Michael Schirmer von der Universität Bremen, der das Projekt „Klimawandel und präventives Risiko- und Küstenschutzmanagement an der deutschen Nordseeküste“ (KRIM) koordiniert. Zusätzlich zu dem Klimawandel, so Schirmer, müsse das tektonische Absenken der norddeutschen Küstenlandplatte berücksichtig werden – ungefähr zehn Zentimeter im Jahrhundert. Schirmers Kalkulationen gehen davon aus, das sich die Chancen auf Wellenüberlauf bis Mitte des Jahrhunderts versiebenfachen. Er möchte einige Deiche an der Unterweser um 20 Zentimeter, andere gar um mehr als zwei Meter erhöhen. In Schleswig-Holstein ist bereits beschlossen, in zukünftigen Deicherhöhungen 50 Zentimeter allein für den Klimawandel einzuplanen. In Niedersachen ist man vorsichtiger, die 508 Kilometer langen Hauptdeiche sind im Schnitt heute schon 8 Meter hoch, eine Aufstockung würde Millionen kosten. Aber auch Skeptiker der Flutangst wie Hans von Storch plädieren dafür, über eine Erhöhung der Deiche nachzudenken und gegebenenfalls bestimmte Gebiete bei Sturmfluten sogar vorübergehend aufzugeben und als Überschwemmungsgebiet zu nutzen.

Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien. Grafik: WBGU
Anstieg des globalen Meeresspiegels nach Satellitenmessungen und den IPCC-Szenarien.
Grafik: WBGU

Die Bibel des Klimawandels, der neue Report des IPCC, wird Anfang 2007 erscheinen, die Eckdaten werden gegenüber dem vorherigen Bericht kaum anders aussehen. Der Meeresspiegel, so wird es auch hier heißen, steigt bis 2100 um einen halben Meter an. Das jüngste Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) spricht von einer „besonders bedrohlichen“ Gefährdung rund um die Nordsee.

Das Problem der Klimamodelle ist, dass die Vorhersagbarkeit der genauen globalen Wetterlagen schwierig ist. Es wird trockener in einigen Gebieten Deutschlands im Sommer, aber wie trocken, dies ist nicht ehrlich zu beantworten. Diese Unsicherheit verführt einige Forscher zu lauten Warnungen, andere reagieren mit Beschwichtigungen – die Gesellschaft ist irritiert.

Über die Prognosen für Deutschland sind sich die Experten weitgehend einig: Zu milden, regenreichen Wintern werden sich warme Sommer gesellen. Gleichzeitig nimmt die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen zu, alle paar Jahre ist mit einem „Jahrhundertsommer“, „Jahrhundert-Hochwasser“ oder einem extrem kalten Winter zu rechnen. Die Auswirkungen auf die Fauna sind noch nicht abzusehen, aber schon jetzt beobachten Biologen eine Wanderung wärmeliebender Arten nach Nord-Ost.

In Hamburg lief neben dem Kongress eine Fachausstellung zum Thema Hochwasserschutz. Die nötige Anpassung an den Klimawandel wird praktisch: Der Renner waren mobile Schutzwälle, die binnen kurzer Zeit mit nur wenig Helfern aufgebaut werden können.

 

 

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Drogenpolitik Interviews Psychoaktive Substanzen

Interview mit Rick Doblin von MAPS

HanfBlatt Nr. 103, September 2006

Psychedelische Forschung

Ein Interview mit dem MAPS-Gründer Rick Doblin

Rick Doblin ist der Gründer der einzigartigen „Multidisziplinären Assoziation für Psychedelische Studien“, besser bekannt als MAPS. MAPS unterstützt seit nun mehr 20 Jahren Wissenschaftler dabei, die staatliche Erlaubnis für die Erforschung heilender und spiritueller Potentiale von Psychedelika (wie LSD, Psilocybin, Peyote, Ketamin, Ibogain, DMT und Ayahuasca), Empathogenen (wie MDMA) und Cannabis-Produkten zu erhalten. Auch für die Forschung selbst stellt MAPS Gelder zur Verfügung. Die gemeinnützige Arbeit von MAPS wird durch die Spenden ihrer Mitglieder ermöglicht. Obwohl MAPS ihre Basis in den USA hat, ist sie international ausgerichtet und offen für jeden mit einem ebensolchen Geist, der etwas in dieser Hinsicht bewegen möchte. Nebenbei hat sich der MAPS-Informationsbrief zu einem bemerkenswerten Magazin voll erstaunlicher Informationen über die Szene der psychedelischen Forscher entwickelt. Auf dem erfolgreichen LSD-Symposium (www.lsd.info) anlässlich Albert Hofmanns 100tem Geburtstag in Basel im Januar 2006 mit über 2000 Teilnehmern aus 37 Ländern war auch MAPS mit den von ihr unterstützten Wissenschaftlern stark präsent.

az: Du hast MAPS 1986 gegründet, in dem Jahr, als die empathogene Substanz MDMA, auch „Ecstasy“ genannt, kriminalisiert wurde. Was war der Grund für diesen idealistischen Schritt?

Rick Doblin: Ich hatte gesehen, wie MDMA erfolgreich therapeutisch eingesetzt wurde, als es noch legal war. 1985 kriminalisierte die Drug Enforcement Agency (DEA) auf einer Notstandsbasis das MDMA, sowohl für den Freizeitgebrauch als auch den medizinischen und therapeutischen Einsatz. Das abschließende Verbot erfolgte 1986. Auch wenn wir zunächst einen Gerichtsprozess zur Aufrechterhaltung des legalen therapeutischen Gebrauchs gegen die DEA gewannen, wurde mir doch klar, dass wir am Ende wohl verlieren würden. Die DEA konnte die Empfehlung des Richters, MDMA legal für die Therapie verfügbar zu halten, ignorieren und tat es auch. Der einzige Weg, MDMA zurück in den legalen therapeutischen Gebrauch zu bringen, war der als ein von der Lebensmittel- und Arzneibehörde FDA zugelassenes verschreibungsfähiges Medikament. Ich gründete MAPS, um Gelder für die dafür nötige Forschung zu akquirieren, weil weder die pharmazeutische Industrie noch die größeren Stiftungen MDMA-Forschung finanzieren würden.

az: Wie war es für Dich mitzuerleben, wie MDMA, weitgehend unbekannt, aber erfolgreich als psychotherapeutisches Hilfsmittel eingsetzt, als es noch legal war, der Treibstoff für die schließlich riesigen Rave-, Acid House- und Techno-Szenen wurde?

Rick Doblin: Persönlich mag ich Raves und durch die Nacht bis zum Sonnenaufgang zu tanzen. Die Unterscheidung zwischen dem Freizeitgebrauch, dem therapeutischen und dem spirituellen Gebrauch ist oft willkürlich und keineswegs so klar und deutlich wie uns Anti-Drogenkrieger glauben machen wollen. Nichts desto trotz erkannte ich, dass der Gebrauch von MDMA auf Raves, die DEA dazu motivieren würde, alle unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten von MDMA zu kriminalisieren. Aber anstatt mich über Raves und Raver aufzuregen, wurde ich wütend auf die Regierung, dafür, dass sie sowohl den therapeutischen als auch den Freizeitgebrauch von MDMA kriminalisierten. Die Risiken von MDMA sind am Größten im Rave-Setting. Wie auch immer, ich denke, dass wir mit angemessenen Risikominderungsstrategien die Gefahren des MDMA-Konsums auf Raves erheblich verringern könnten. Ich glaube nicht, dass die Prohibition die Risiken, die mit dem MDMA-Gebrauch auf Raves verbunden sind, verringert.

az: Nach all diesen Jahren: Gibt es irgendwelche wissenschaftlichen Beweise für Gefahren des therapeutischen oder des Freizeitgebrauchs von reinem MDMA?

Rick Doblin: Ja, es gibt Gefahren sowohl beim therapeutischen wie beim Freizeitgebrauch von MDMA. Keine Droge ist vollkommen sicher oder frei von Nebenwirkungen. Die größte Gefahr des therapeutischen Gebrauchs ist erhöhter Blutdruck. Deshalb schließen wir derzeit in unseren MDMA-Studien Menschen mit Bluthochdruck und beeinträchtigter Herzfunktion aus. Das Risiko der Neurotoxizität und möglicherweise reduzierter geistiger Leistungsfähigkeit ist kein bedeutendes Problem im Zusammenhang mit dem therapeutischen Einsatz von MDMA.
Was den Freizeitgebrauch betrifft, sind unreine Drogen eines der größten Risiken. Ein weiteres meines Erachtens ernsthaftes Risiko ist die Aufdeckung tiefer und komplexer Gefühle, für deren Erfahrung manche Menschen nicht bereit sind. Das kann dazu führen, dass man sich nach MDMA schlechter fühlt, wenn Gefühle hochkommen und man sie dann zu verdrängen versucht. Überhitzung ist auch eine Sorge, weniger das Trinken von zuviel Wasser. Neurotoxizität ist meines Erachtens kein bedeutendes Problem, selbst bei Leuten nicht, die MDMA ziemlich regelmäßig und über lange Zeiträume nehmen. Wie auch immer, es gibt einige Beweise dafür, dass Menschen, die 60mal oder häufiger MDMA genommen haben, bei manchen neurokognitiven Tests schlechter als der Durchschnitt abschneiden, aber immer noch innerhalb der normalen Spannbreite. Ob das auf MDMA direkt oder auf andere Faktoren zurückzuführen ist, ist unklar.
Mit der Steigerung der Dosis und der Einnahmefrequenz steigt auch das Risikopotential.

az: Kürzlich hat es eine emotional aufgeladene Diskussion über Eure Unterstützung des Gebrauchs von MDMA in Fällen traumatisierter israelischer Soldaten gegeben. Kannst Du in Kürze die Fakten klar stellen?

Rick Doblin: MAPS sponsert eine Leitstudie in Israel, die den Einsatz von MDMA-unterstützter Psychotherapie bei Subjekten mit Kriegs- und Terrorismus-bedingtem Post-Traumatic-Stress-Disorder (PTSD) untersucht. Die Studie ist in Gänze genehmigt und soll im Juli 2006 beginnen. Derzeit (April 2006) sind wir dabei, die Ausbildung des israelischen Co-Therapeuten-Teams vorzubereiten, indem wir sie nach Charleston, SC, bringen, damit sie Dr. Michael und Annie Mithoefer dabei beobachten können, wie sie dort MDMA/PTSD-Sitzungen durchführen.

az: MAPS hat Forschung unterstützt, die sich damit beschäftigt hat, den sichersten Weg für die Applikation von Cannabinoiden herauszufinden. Vaporizer, Wasserpfeife, Purpfeife oder Joint, was ist die für die Atemwege sicherste Methode der Cannabinoid-Zufuhr?

Rick Doblin: Die sicherste Methode ist der Gebrauch eines Vaporizers, der die Verbrennungsprodukte eliminiert. Aber da selbst das Rauchen von Marijuana nicht ursächlich mit Lungenkrebs in Verbindung gebracht wurde, ist es schwierig zu artikulieren, welche Risiken durch das Vaporisierungssystem reduziert werden.

az: Hat es andere wichtige Entdeckungen rund um das heilige Kraut gegeben?

Rick Doblin: Die jüngste Studie von Dr. Donald Abrams hat gezeigt, dass Marijuana signifikante Wirksamkeit bei der Behandlung HIV-bedingter Neuropathie (Schmerzen) hat.

az: Wie sieht es aus mit Salvia divinorum und seinem Wirkstoff Salvinorin A? Gibt es derzeit irgendwelche Forschungen dazu, wie man sie effektiv in einem therapeutischen oder spirituellen Kontext nutzen kann?

Rick Doblin: Ich weiss von keiner klinischen Forschung am Menschen mit Salvia oder Salvinorin A. Wenn man wissen will, wie man sie am effektivsten im spirituellen Kontext gebraucht, dann sind die Kulturen, die sie bereits nutzen, die besten Informationsquellen.

az: Ich weiss, es dauert in den USA sehr lange, bis man die Regierungs-Erlaubnis für psychedelische Forschung erhält. Was sind die größten Schwierigkeiten dabei?

Rick Doblin: Die FDA betrachtet die Protokolle vorrangig unter wissenschaftlichen und nicht politischen Gesichtspunkten. Mehr können wir nicht erwarten. Die Hauptschwierigkeiten kommen von der DEA, die Lizenzen ausstellen muss, damit die Studien beginnen können. Ihr ist kein regulärer Zeitplan vorgeschrieben, nach dem sie handeln muss, was eine Verzögerungsstrategie von Seiten der DEA zur Folge hat. Wir müssen oft politischen Druck auf die DEA ausüben, damit sie unsere Studien genehmigt. Die DEA hat Angst davor, dass objektive Forschung den aufgebauschten Informationen über die Risiken widerspricht, die vom National Institute on Drug Abuse (NIDA) herausgebracht werden.
Wenn man an Regierungsfinanzierung denkt, dann kann man das für die nächste Zeit vergessen. Ein stark einschränkender Faktor ist die Finanzierung, aber es war bis jetzt schwieriger, die Erlaubnis zu erhalten. Deshalb bin ich stolz, sagen zu können, dass unser Spendenaufkommen immer ausreichend war und keine Studien durch einen Mangel an Finanzen hinausgezögert wurden.

az: Stellt die für die Genehmigung und Durchführung von legaler Forschung notwendige Zusammenarbeit mit Behörden wie der DEA ein mögliches Risiko für die Menschen dar, die mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten? Ich denke, das ist eine wichtige Frage, denn unter den gegenwärtigen Gesetzen mögen manche der Unterstützer psychedelischer Forschung in dieser Hinsicht persönlich verwundbar sein. Es gab da auch einige Gerüchte rund um den Forscher Dr. John Halpern, er sei in der Zusammenarbeit mit der DEA zu weit gegangen.

Rick Doblin: Versuchspersonen in der psychedelischen Forschung, ausgeführt von Dr. Halpern und Anderen, sind absolut keinem Risiko von Seiten der DEA ausgesetzt. Die Forscher erhalten ein von der Regierung ausgestelltes Vertraulichkeitszertifikat, das davor schützt, dass Informationen über die Versuchspersonen an die DEA weitergegeben werden.

az: In den letzten Jahren haben die Behandlung von Cluster-Kopfschmerzen mit Psilocybin, Entzugsbehandlungen mit Hilfe von Ibogain und Ayahuasca („Daime“), als Sakrament im rituellen Kontext brasilianischer Religionen eingenommen, besonderes Interesse hervorgerufen. Was geht gerade jetzt in der psychedelischen Forschung ab?

Rick Doblin: Studien, den Nutzen von Psilocybin zur Behandlung von Angst bei Krebspatienten zu untersuchen, und unsere bald beginnende Studie, die MDMA zur Behandlung der Angst bei Krebspatienten einsetzt. Anstrengungen werden unternommen, die LSD-Forschung wiederzubeleben, zuerst für grundlegende Gehirnforschung, dann gegen Cluster-Kopfschmerzen, schließlich für LSD-Psychotherapie.

az: Wo liegt die Zukunft der psychedelischen Forschung?

Rick Doblin: In der therapeutischen Applikation bei psychischen Krankheiten, so dass Psychedelika verschreibungsfähige Medikamente werden können.

az: MAPS spielt eine bedeutende und angenehm sichtbare Rolle in der weltweit verstreuten psychedelischen Gemeinschaft. Was sind die besten Events, wo man sich treffen, kommunizieren und feiern kann?

Rick Doblin: Der Burning Man, das Boom Festival und Konferenzen, wie „Spirit of Basel“, die Albert Hofmann´s 100ten Geburtstag feierte.