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Rezensionen

Rezension Detlev Briesen: Drogenkonsum, Drogenpolitik, Deutschland, USA

HanfBlatt Nr. 114

Unklare Rauschzeichen

Die großen Publikumsverlage haben sich bislang zurückgehalten, der progressiven Fraktion unter den Cannabis-Kennern Gehör zu verschaffen. Erfreulich, dass der Kiepenheuer & Witsch Verlag jetzt Steffen Geyer und Georg Wurth vom Deutschen Hanfverband die Möglichkeit bietet über das wundersame Kraut aufzuklären. Bedauerlich, dies sei vorweg gesagt, dass der Verlag nicht die Chance genutzt hat durch ein gründliches Lektorat dem Werk zu mehr Tiefe zu verhelfen. Das vorliegende Buch driftet leider ins Phantastische ab, wo es um die historischen Zusammenhänge geht, und ist dort, wo es um die politischen Alternativen zur bestehenden Kriminalisierungspolitik geht trocken, aber bereichernd.

Ein paar Beispiele sollen die Ambivalenz verdeutlichen. Ein Zitat zu Cannabis aus dem alten chinesischen Arzneibuch Pen Tsao „Nimmt man sie über eine längere Zeit hinweg, wird man befähigt, mit den Geistern zu sprechen, und der Körper wird leicht“ (S. 15) wird von Geyer/Wurth tendenziös als positive Wirkungsbeschreibung übersetzt und gedeutet. Das kann man auch anders interpretieren: Schon damals galt wahrscheinlich der übermäßige Konsum von Cannabis als gefährlich für das, was man heute wohl den mentalen Grundzustand eines Menschen nennt. Einen Absatz später heißt es: „Der zivilisatorische Vorsprung der Chinesen zu jener Zeit wäre ohne Hanf undenkbar gewesen.“ Und ohne Wasser, sollte man hinzufügen. Das ist monokausales Denken in Reinkultur.

S. 16: Es fehlt der wissenschaftliche Beweis, dass die Skythen Cannabisblüten und nicht Cannabissamen, die man tatsächlich gefunden hat, in ihren Schwitzhüttenräucherzeremonien eingesetzt haben. Klar, es klingt irgendwie wahrscheinlich, aber faktisch bewiesen ist es nach wie vor nicht.

S. 17: Es trifft auch nicht zu, dass die Römer den Hanfanbau nach Spanien exportieren und dort das Wort Kif „für minderwertiges Haschisch aus dem heutigen Marokko“ prägten. Eine Seite später schreiben die Autoren: Nach dem Ende des römischen Reiches sei „Cannabis (…) die wichtigste Feldfrucht des Menschen und nicht selten Grund für Krieg und Zerstörung.“ Die gesamte Agrarwirtschaft des Mittelalters auf Cannabis zu reduzieren scheint doch etwas übertrieben.

S. 18: „<Hennep> und <Hamp> stopfte sich so mancher nach getaner Arbeit in die Pfeife.“ Hierzu sei gesagt, dass uns dazu außer dem von Hans-Georg Behr in die Welt gesetzten Mythos, dass die Bezeichnung für eine spezielle Tabaksorte „Knaster“ eigentlich auf Hanf verweise, keine seriösen wissenschaftlichen Belege für einen weitverbreiteten Gebrauch von (Faser-)Hanf als Rauch- und/oder Rauschkraut in Mitteleuropa gibt. Erst im 19. Jahrhundert etablierte sich der medizinische und experimentelle Gebrauch von psychoaktivem Hanf auf Basis des importierten Cannabis indica-Krautes und seiner Extrakte bzw. exotischer „Haschisch“-Präparationen.

S. 19, Zitat: „Spätestens seit den Kreuzzügen richtete sich der Zorn der Kirche gegen Cannabis.“ Ein gängiges Klischee, es gibt keine Beweise für eine systematische Aufstellung des Vatikans gegen die Pflanze. Der Zorn richtete sich vielmehr gegen Andersdenkende und gesellschaftliche AußenseiterInnen. Intrigantentum spielte oft eine Rolle. Die Spekulation von Geyer/Wurth, die „Verteufelung von Cannabis“ hätte „in erster Linie der Abgrenzung der Christenheit vom an Stärke gewinnenden Islam gedient“ ist haltlos.

Auf S. 23 wird suggeriert, dass Jefferson, Lincoln und George Washington nicht nur von der berauschenden Wirkung der Pflanze gewusst haben, sondern den Rauschhanfanbau auch unterstützt haben. Denn Washington ließ die Männchen rausrupfen, bevor sie die Weibchen bestäuben konnten. Dieses Prinzip kennt zwar heute jeder moderne Indoor-Grower, es ist aber auch im traditionellen Faserhanfanbau üblich. Die Männchen wurden damals nur schneller geerntet, weil mit der vorzeitigen Blüte bei ihnen die optimale Faserproduktion abgeschlossen ist und ein Verbleiben der absterbenden Pflanzen unter den länger wachsenden Weibchen auf Grund einsetzender Verrottungsprozesse die Qualität der Gesamternte vermindert.

Die Autoren graben sich im Laufe des ersten Kapitels immer tiefer in eine Gedankenwelt ein, in der Cannabis für alles veranwortlich sein soll. Damit erweisen sie dieser durchaus besonderen, sehr nützlichen und als Genussmittel in Maßen genossen relativ harmlosen Pflanze aber keinen Dienst. Ein Höhepunkt ist sicherlich die Passage auf S. 25, in der ein direkter Zusammenhang zwischen dem Faserhanfanbau von Zar Alexander I. und der Völkerschlacht von Leipzig gezogen wird.

Im großen Rest des Buches spannen die Autoren einen teilweise gekonnten Bogen über die psychoaktiven Wirkungen des grünen Krauts und zeigen auf, wann und wie der Konsum zum Problem werden kann, beleuchten die Rolle der Medien, das unheilvolle Engagement der UNO und der wichtigen Anti-Drogen Institutionen in Europa. Von zwei so renommierten Kennern des Systems wie es Georg Wurth und Steffen Geyer sind, hätte man bei der Diskussion um die Alternativen allerdings mehr Ausführlichkeit erwartet. Ihr interessantes Modell des Cannabisfachgeschäfts (ein Coffee-Shop mit ausgebildeten Mitarbeitern) ist nur eine Variante des Umgangs.

Steffen Geyer, Georg Wurth: Rauschzeichen. Cannabis: Alles, was man wissen muss
176 Seiten, broschiert
Kiepenheuer & Witsch Verlag 2008
ISBN: 3462039997
EUR 7,95

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Drogenpolitik Psychoaktive Substanzen

Drogenklassifikationsversuche

Hanfblatt Nr 107, Mai 2007

Die Einteilung des Unverstandenen

Sinn und Unsinn der Klassifikation von Drogen

Ein Bericht eines britischen Wissenschaftlerteams sorgt für Aufsehen. Die Forscher ordnen die Gefährlichkeit von Drogen neu ein und fordern eine gänzlich reformierte Einteilung der Drogenklassen. Hilft das weiter?

Es ist bei vielen Drogen unklar, weshalb sie als besonders gefährlich gelten. Manche sind eher durch Zufall in die Kontrolllisten geraten, wie beispielsweise Cannabis, manche sind legal, obwohl sie schädlich sein können, wie beispielsweise Alkohol. Im Rahmen ihrer Studie fragten David Nutt von der Universität Bristol und seine Kollegen rund 80 britische Suchtexperten nach ihrer Einschätzung des Gefahrenpotentials von legalen und illegalen Drogen und Medikamenten, die sie selbst auswählen konnten. Im angesehenen medizinischen Fachblatt Lancet (2007, Nr. 369, S.1047-1053) publizierten sie eine Rangliste, die sie als Grundlage neuer Betäubungsmittelgesetze sehen wollen.

Dazu benannten sie drei Kriterien, welche das Gefährdungspotenzial durch Drogen umschreiben. Dies sind: körperliche Schädlichkeit, die Verursachung einer Abhängigkeit und drittens die soziale Wirkunge, die der Drogenkonsum auf Familie, Bekanntenkreis und Gesellschaft hat.

Herausgekommen ist ein Verzeichnis (s. Abbildung), das in deutlichen Gegensatz zu den weltweiten Anti-Drogen Gesetzen steht. Noch gewohnt sind die Spitzenplätze von Heroin und Kokain. Dann aber folgen schon die Barbiturate, auf Rang 5 steht bereits Alkohol, es folgen Ketamin und Benzodiazapine, fast gleich auf mit den im allgemeinen als gefährlicher eingestuften Amphetaminen. Cannabis steht auf Platz 11. Die Liste soll der britischen Regierung vorgelegt werden und sorgt schon jetzt für Gesprächsstoff. Die Autoren hoffen auf eine Neueinordnung der auf der Insel bekannten Drogenklassen.

In Großbritannien werden psychoaktive Substanzen in drei Klassen eingeteilt, die den Grad ihrer Gefährlichkeit entsprechen sollen. In der Klasse A stehen Drogen wie Heroin, sie gelten als die gefährlichsten Substanzen, in der Klasse C stehen Drogen wie Cannabis und Benzodiazepine (Beruhigungsmittel), sie gelten als die ungefährlichsten Drogen. Dazwischen tummeln sich Substanzen wie Speed, das in Großbritannien eine Klasse B Droge ist. Auch das deutsche Betäubungsmittelgesetz kennt die dreiteilige Einordnung, hier ist von „nicht verkehrsfähigen“, „verkehrsfähigen, aber nicht verschreibbaren“ und „verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen“ Betäubungsmitteln die Rede. Die USA arbeiten mit der Klassifikation von Schedule I bis Schedule V.

Die Einteilung in „harte“ und „weiche“ Drogen hat nicht weit geführt. Sie ist heute unter Experten und Usern umstritten, denn weder ist Alkohol eine „weiche“, noch LSD zwangsläufig eine „harte Droge“.

Welchen Sinn könnte nun eine neue Klassifikation ergeben, wie sie Nutt und seine Kollegen vorschlagen?
Zwei Extreme bestimmen die Diskussion um die Schädlichkeit von Drogen. Da ist zum einen die Ansicht, es existiere gar nicht so etwas wie eine schädliche Drogen an sich, es seien Konsummuster und Dosierung, die aus einem Medikament eine Droge machen. Eine Einteilung von psychoaktiven Substanzen nach Gefahrenklassen ist aus dieser Sicht unsinnig, weil es immer das (sozial eingebettete) Individuum ist, dass die Wirkung einer Droge bestimmt. Als Beispiel wird der Wein angeführt, der eine muntere Abendbegleitung mit sogar gesundheitlich fördernder Wirkung sein kann – oder aber eben das Gift ewiger Trunkenheit.

Wahrscheinlich spricht tatsächlich wenig dagegen, sich einmal im Jahr in einer Kurklinik in den Schweizer Alpen reines Heroin spritzen zu lassen. Aber: Praktisch dürfte eine solche Politik nur zu verantworten sein, wenn eine Jahrzehnte vorher angelaufene Aufklärung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen die Signalwirkung in vernünftige Bahnen lenkt. Bislang verwurstet das Zusammenspiel menschlicher Triebe und sozialer Konsumkultur noch jeden Wunsch in eine Gier. Es kann vermutet werden, dass erst diese Prozesse geändert werden müssen, aber das würde eine völlig umgekrempelte Gesellschaft erfordern.
Am anderen Ende der Extreme steht die Ansicht, dass die medizinische Erforschung der Wirkung und Auswirkung von Drogen immer weiter Fortschritte macht. Die Neurowissenschaften zeigen, dass Substanzen unterschiedliche Wirkstärken im menschlichen Körper haben, die durchaus übergreifende Geltung beanspruchen können (s. das Interview mit Andreas Heinz auf dieser Webseite). Zugleich zeigen sie aber auch die Mächtigkeit der sozialen Einflüsse auf physiologischer Ebene.

Es ist die „objektive Wissenschaft“, die aus Zahlen Fakten schafft und die individuelle und intersubjektive Perspektive dabei vernachlässigt. So hat sich die Wissenschaft immer weiter vom Menschen entfernt, die Folgen sind Hinwendung zu Alternativ-Medizin oder gar Esoterik. Man beginnt erst langsam wieder einzusehen, dass schon bei der einfachen Aspirinvergabe eine Passung von Substanz und Patient vorhanden sein muss.

Es war und ist diese reduktionistische Wissenschaft, die in jedem Drogenkonsumenten primär einen armen Wicht und potentiellen Süchtigen sieht. Es war zunächst nur die Gegenkultur der 60er Jahre und später das Aufkommen der massenhaften Verbreitung von „Tripberichten“ im Internet, die dieser starren Pathologisierung Einhalt geboten haben.

Eine neue und „realistischere“ Klassifizierung von Drogen, wie sie Nutt und andere nun vorschlagen, ist nur dann ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch diese Liste wieder nur als die halbe Wahrheit angesehen wird, weil auch sie mit den Konstitutionen verschiedener Menschen schwer abzugleichen ist. Sicher, der Mensch braucht Kategorie um die Dinge für sich einzuordnen. Aber er braucht auch den Freiraum die Gültigkeit dieser Kategorien für sich und seine geistigen Verwandten zu erforschen. Anders herum: Es gibt Menschen, für die dürfte selbst der Konsum des von Nutts Experten als relativ ungefährlich eingestufte Khat schnell zum Problem werden.

Der Kenntnisstand über eine Droge ist zudem immer zeitabhängig. Die heute aktuellen Therorien und „Beweise“ über cannabisinduzierte Schizophrenien könnten schon morgen über Bord geworfen werden, weil irgendwelche bis dahin unberücksichtigten Variablen auftauchen. Es besteht nur eine vage Hoffnung, das mit Hilfe von Verfahren wie Cochrane und Meta-Studien wirklich die industrie- und interessengeleitete Spreu vom Weizen der reinen Erkenntnis getrennt wird. Ob die sagenumwobene „evidenzbasierte Medizin“ zur Klärung strittiger Fragen beiträgt, das ist zu hoffen.

Noch einmal anders gesehen gebiert auch eine „Neuklassifikation der Schädlichkeit“ nur eine weiteres Schreckgespenst, das sich von Angst und Unwissenheit nährt. Zukünftig kann es nicht nur darum gehen, einen risikoarmen Umgang zu fördern, sondern den Augenmerk auf die vielen positiven Eigenschaften zu lenken, die den vielen pflanzlichen und chemischen Wirkstoffen inne wohnt. Von den verborgenen Potentialen der Wiedererkennung des unauflösbaren Zusammenhang zwischen Mensch und Natur mal ganz abgesehen.

Man braucht gar nicht so weit reiten, um zu ahnen, dass der Vorschlag von Nutt & Co. in politischen Kreisen ohnehin auf taube Ohren stoßen wird. Nicht zuletzt ist das britische Betäubungsmittelgesetz, der „Misuse of Drugs Act“, ein Versuch den Anforderungen des UN-Abkommens von 1961 (Single Convention on Narcotic Drugs) stromlinienförmig gerecht zu werden. Ein Ausscheren aus den Reihen der internationalen Gemeinschaft wird Großbritannien nicht wagen; ein Argument, das auch in Deutschland immer wieder angeführt wird, wenn es um die mögliche und nötige Reform der Drogengesetze geht. Der Weg zu einer realistischen Drogenpolitik führt über kurz oder lang über UN, deren drogenpolitischen Ansichten sind allerdings so verschroben und von diversen Kräften getrieben, dass eine Besserung zur Zeit nicht in Sicht ist.

 

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Interview mit Baba Rampuri

HanfBlatt Nr. 107, Mai 2007 Ein Interview mit Baba Rampuri

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Im Jahre 1969 machte sich ein in Chikago geborener und in Beverly Hills aufgewachsener junger Mann mit wenigen Dollar in der Tasche dem Hippie-Trail folgend auf den Weg nach Indien. Er war einer jener Suchenden, die von spiritueller Entwicklung und Erleuchtung träumten und sich mit Dope-Rauchern und Abenteuer-Begeisterten, oft alles in ein und der selben Person vereinigt, auf die Reise begaben. Zufällig begegnete er einem Typen, der ihm Hinweise gab, wohin er sich auf seiner persönlichen Suche in Indien wenden könne. Er landete zu Füssen von Hari Puri Baba, der in Rajasthan residierte. Dieser war ein wichtiger Naga Yogi, einer jener bärtigen von Dreadlocks überwucherten Chillam-rauchenden mit Asche bedeckten heiligen Männer, die ein Leben führen, das dem, was Westler gewöhnlich für eine nützliche Existenz halten, komplett entgegengesetzt zu sein scheint. Von einem Augenblick auf den nächsten entschied er in einem Versuch, seine westlichen Vorurteile und Prägungen über Bord zu werfen, dies ist die Chance, selbst ein Yogi zu werden. Hari Puri Baba begrüßte ihn als Schüler und wurde sein Guru. Der junge Amerikaner wurde rasiert und zu Rampuri. Er ging auf einen sehr langen erschütternden und transformierenden Trip, der ihn zum ersten Fremden werden ließ, der in „Juna Akhara“ initiiert wurde, einen uralten Orden, der auch „Die Entsagenden der zehn Namen“ genannt wird. Später gründete er selbst einen Ashram in Hardwar. Er blieb bis zum heutigen Tag in Indien. Vor Kurzem ist er wieder in den Westen gereist und hat ein sehr aufschlussreiches Buch über seinen Prozess der Initiation in die spirituelle Welt der Yogis mitgebracht. Im Namen des „Ordens der Völlerei“ früher bekannt als „hanfblatt“ stelle ich Baba Rampuri einige typische westliche Fragen zur Erbauung der weniger erleuchteten Dope-Raucher. Aber Spaß beiseite, hier kommt das Interview:

 

Hanfblatt: Was war dein Motiv, nach all diesen Jahren gerade jetzt mit einem Buch heraus zu kommen?

Baba Rampuri: Es gab mehrere Motive. Das Persönlichste davon war die Notwendigkeit den Geist meiner 37 Jahre in Indien auszutreiben und mich, indem ich dieser sehr seltsamen Erfahrung etwas Bedeutung gab, weiter zu entwickeln. Spiritualität ist so sehr Mainstream geworden – und ich möchte bemerken und anfügen, dass in den 70ern sogar die wilden Freaks, Anarchisten und Psychedeliker oft, indem sie eine Art von Spiritualität in die Arme schlossen, so wurden, wie die angepassten Christen oder Juden, gegen die sie scheinbar rebellierten, außer, dass sie es anders bezeichneten, mit einem indischen Namen für gewöhnlich, und ihr Vokabular dann mit indischen Wörtern würzten. Ich habe es nie gemocht, Händchen zu halten und „OM“ zu brummen, „Saving Grace“ zu singen, „Hanuman Chalisas“ auf Country und Western-Musik zu propfen, in Flughäfen zu predigen oder mir selbst auf die Schulter klopfend zu gratulieren, dass ich gerettet wurde. Im Gegenteil – meine Erfahrung ließ den Anarchisten in mir wachsen, vergöttlichte das psychedelische Mittel, dehnte meine kleine Politik in die Metapolitik der Kultur aus und verband mich fest mit einem Universum, das im Widerspruch zu dem Weltbild meiner Erziehung stand. Ich schätze, du könntest das meine Spiritualität nennen.

Nun, während mich dies im Westen „widerspenstig“ oder sogar subversiv erscheinen lässt, werde ich merkwürdigerweise innerhalb der ältesten Tradition Indiens, den Naga Sannyasis als ein wenig konservativ angesehen. Ich wusste, dass es keinen Weg gab, die Leute verstehen und fühlen zu lassen, was meine Erfahrung war; aber Geschichten erzählen muss das nicht leisten. Es gibt wichtigere Aufgaben. Analogie hat einigen Nutzen oder Bedeutung jenseits der Spezifitäten der Geschichte. So war ich nicht wirklich interessiert am Schreiben einer „Autobiographie“. Das Wort im Titel meines Buches wurde von meinem Verleger hinzugefügt nachdem ich BABA geschrieben und editiert hatte. Aber eine Geschichte, wie alle Geschichten, muss unterhalten, muss die Aufmerksamkeit der Menschen erhalten. Dann muss sie die Leserschaft auf eine Reise nehmen. Und, wenn sie einmal auf dem Trip ist, dann gibt es da einen Pfad, ein Paradigma, das in all unserer Literatur und unseren Märchen tausende von Malen wiedergespiegelt worden ist, das man die „Reise des Helden“ nennen kann. Dann mag ein Individuum selbst auf diesem Pfad wandeln, ohne Jahre lang nackt in einer Höhle in Indien verbringen zu müssen. Ein Vater kann das Ergebnis seiner Lebensarbeit seinem Sohn vererben, doch dem Nachlass eines Geistesmenschen fehlt die Materialität, und er muss einen anderen Weg finden, ihn zu hinterlassen für wen auch immer er von Interesse sein mag.

Hanfblatt: Während ich das Buch las, wunderte ich mich erfreut, dass ich in der Lage war, deine spannende Geschichte einfach als etwas Authentisches und Mögliches zu akzeptieren, obwohl es leicht gewesen wäre, sie durch Rationalisierung als reine Phantasien eines desorientierten oder sogar härter eines verwirrten Geistes abzutun, in westlich-psychiatrischem Stil sozusagen. Wurdest du mit solchen Einschätzungen konfrontiert?

Baba Rampuri: Ich lache. Tatsächlich, nein, wurde ich nicht. Niemand hat mich je damit konfrontiert, aber, wenn es jemand tun würde, müsste ich ihm zustimmen. Ich bin kein Wissenschaftler oder Akademiker. Ein durchschnittlicher Psychiater würde sicherlich kommentieren, dass ich keinen Kontakt mit der Realität habe, dass ich mit „imaginären Freunden“ kommuniziere. Das ist nicht die Welt, in der ich lebe. Die Beschreibungen und Ereignisse in meinem Buch wurden zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit abgemildert. Es ist eine geradezu nüchterne Welt, die ich porträtiere, im Vergleich zu dem rationalitätsopfernden – mordenden? – Lebenstheater, in welchem ich sowohl Schauspieler wie auch Publikum war.

Hanfblatt: Wir fragen uns alle, zumindest manchmal in Zeiten eines langweiligen Fernsehprogramms: Was ist der Grund für dies Alles, warum bin ich hier, was ist der Sinn des Lebens? Hast du irgendwelche in Worte transformierbaren Antworten gefunden?

Baba Rampuri: Ein junger Mann aus der Ukraine, ein enttäuschter Katholik, kam eines Tages in Riga zu mir, um überzeugt oder konvertiert oder sowas in der Art zu werden. Er fragte mich, an was ich glaube. Ich sagte ihm, es sei nicht zu verkaufen.

Ich bin kein Prediger. Ich versuche nicht, irgend jemandem zu erzählen, was es damit auf sich hat, was dies alles bedeutet. Ich bin ein Zeuge seltsamer Dinge, und als Geschichtenerzähler berichte ich von dem, was ich gesehen habe. Eine Sache, von der ich Zeuge bin, ist, dass ständig Veränderung stattfindet. Sie hört niemals auf. Also solltest du jeden, der dir den Sinn des Lebens erklärt, am folgenden Tag anklingeln, ob der Sinn immer noch der Gleiche ist.

Hanfblatt: Was kann jemand erwarten, der dich in deinem Ashram besucht?

Baba Rampuri: Mein Ashram ist traditionell und nicht davon beeinflusst, wie man sich einen Ashram vorstellt. Es mag ruhig sein, oder es mag dort eine wilde Bande nackter Schamanen und Yogis sein, die bis spät in die Nacht Chillams rauchen. Leute kommen um dort ihr heiliges Bad im Ganga-Fluss zu machen und still an seinem Ufer zu meditieren. Wenn ich da bin, haben wir meist lebhafte Diskussionen, machen ein paar Rituale und manchmal einen großen Festschmaus. Meinen engen Schülern gebe ich einige traditionelle esoterische Instruktionen.

Hanfblatt: Die Entwicklung der Menschheit, offensichtlich angetrieben von Gier, geht parallel mit einer rapiden Zerstörung unserer einstmals wunderschönen Welt. Es gibt Einiges an ökologischem Bewusststein, aber nicht selten auf seine Art neurotisch, auch Enthusiasmus für Tiere und Pflanzen, manchmal geradezu fetischistisch; aber Alles in Allem werden der Respekt gegenüber der Natur und die Faszination für die Schöpfung in den westlichen Medien wie im praktischen Verhalten der Menschen eher der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Geschenke, die Niemandem gehören, werden ausgebeutet. Sie werden in Statussymbole verwandelt und schüren die Illusion von Wohlstand, dienen als Treibstoff für die süchtig machende Erfahrung von Macht. Wo siehst du noch das Potential dafür, dass sich etwas zu etwas Wunderbarem auswächst? Oder haben wir uns dem Unausweichlichen zu fügen, die Welt den Amok-Läufern zu überlassen, den Pseudo-Krupps oder wem auch immer?

Baba Rampuri: Ja, wir konsumieren alles in Sichtweite, und ich kann kein Ende davon sehen. Können wir es umkehren? Ich bezweifle es. Sitzen wir tief in der Scheisse? Das glaube ich. Was können wir tun? Es bezeugen.

Hanfblatt: In Europa hat die Psytrance- oder Goa-Szene einen spirituellen Kern, von dem aus sie durch psychedelische Tanzveranstaltungen spirituelles und Umwelt-Bewusstsein zu pushen versucht, und dabei Elemente, zumindest Deko-Elemente, traditioneller Kulturen inkorporiert. Der D.J. Goa Gil und andere der alten Garde westlicher Reisender und Suchender, die seit den Sechzigern in Indien geblieben sind, zählen zu deinen Freunden. Was ist los mit dieser Szene?

Baba Rampuri: Ich würde den Ausdruck Psytrance bevorzugen, weil, offen gesagt, habe ich keine Ahnung, was Goa-Szene wirklich bedeutet. OK, es ist eine Referenz an die Mythologie von Goa, die in unterschiedlichen Köpfen unterschiedliche Formen annimmt. Es gab eine Zeit, in der eine Goa-Szene existierte, die aus Outlaws, Anarchisten, Poeten, Musikern, Künstlern, Schamanen, Junkies und Träumern bestand. Jetzt haben wir eine „Möchtegern“-Replik, eine Art „virtuelles“ Goa, das hauptsächlich aus Händlern und Touristen besteht. Ich denke „Psytrance“ kann eine moderne Reflektion dessen sein, was ein zeitloses transkulturelles Ritual der Freiheit durch Tanz zu sein scheint. Tanz ist eine Art Widerspruch zur Produktionsgesellschaft; du bewegst deine Arme und Beine, aber gehst nirgendwo hin, und du machst nichts. Im antiken Griechenland bestanden die Rituale des Dionysos hauptsächlich aus Vollmondtänzen, irgendwo im Wald, weit weg von missgünstigen Blicken. Ich denke, die Gesellschaft war nie mit diesem Verhalten einverstanden, was tatsächlich eine gute Sache ist, nicht weil es nicht passieren sollte, sondern weil auf diese Weise der Tanz nicht durch die Gesellschaft oder deren Gesetze kontrolliert werden und so unbegrenzte Möglichkeiten entfalten kann. Schließlich ist das Psytrance-Ereignis nicht eine soziale Versammlung oder eine Cocktail-Party, sondern mehr eine spirituelle Übung, die zu einer gemeinschaftlichen befreienden Erfahrung führt.

Hanfblatt: Was ist der Unterschied zwischen Babas, Sadhus und Yogis?

Baba Rampuri: Baba kann „Vater“, „Großvater“ oder „Baby“ bedeuten, genauso wie „Schamane“, „Yogi“ oder „Entsagender“. Baba ist also ein sowohl mehr liebevolles als auch vertrautes Wort. Ein Sadhu ist ein Entsagender. Ein Yogi ist jemand, der in seiner oder ihrer spirituellen Praxis fortgeschritten ist.

Hanfblatt: Was bedeutet Cannabis den Babas, Sadhus und Yogis?

Baba Rampuri: Vorab, es gibt viele Arten von Babas in vielen verschiedenen Traditionen. Viele Babas in meiner Tradition und Andere halten Cannabis unter allen Rauschmitteln für „ausgeglichen“, geeignet und sogar hilfreich für die spirituelle Praxis. In der Sanskrit-Sprache ist das Wort für Cannabis „Vijaya“, was „allbesiegend“ bedeutet; und außerdem wird Cannabis in vielen medizinischen Rezepturen verwendet um die diversen anderen Kräuter auszugleichen. Cannabis war einer der 14 Schätze, die aus dem Ozean der Milch kamen, als er von den Göttern und Dämonen auf der Suche nach dem Nektar der Unsterblichkeit aufgewühlt wurde. Der Gott Shiva ergriff Besitz vom Cannabis als es erschien, und seitdem ist es immer mit Shiva und dem Bewusstsein verbunden geblieben. Vor dem Rauchen rufen wir häufig Shiva an.

Hanfblatt: Wie wird ein Chillam auf Sadhu-Art geraucht?

Baba Rampuri: Das Chillam ist die Erde. Die Mixtur ist der Mond. Das Feuer, welches sie anzündet, ist die Sonne. Der feuchte „Safi“-Lappen am unteren Ende des Chillams ist Jupiter. Wenn also das Feuer der Weisheit (die Sonne) sich durch die Veränderungen des Geistes (den Mond) im Gefäß des Menschen (der Erde) brennt, gefiltert durch den Guru (Jupiter), dann ist das Ergebnis eine Berauschung mit Freude. Das Chillam wird mit beiden Händen geraucht und gen Himmel gerichtet. Die Lippen des Rauchers berühren nur seine Hände, niemals das Chillam oder den „Safi“-Lappen.

Hanfblatt: Warum wird Tabak zusammen mit Cannabis geraucht?

Baba Rampuri: Schwierige Frage. Ich spekuliere, wahrscheinlich, weil es das Cannabis abkühlt, es weniger stark auf den Hals und die Lunge wirken lässt und dadurch angenehmer macht.

Hanfblatt: Was sind die Unterschiede zwischen Bhang, Haschisch und Ganja?

Baba Rampuri: Im allgemeinen Sprachgebrauch bezieht sich Bhang auf die Pflanze, und Haschisch und Ganja bezeichnen deren Produkte. Aber es gibt drei grundsätzlich verschiedene Pflanzen unter der Kategorie Cannabis, die alle ein unterschiedliches Produkt liefern. Wenn Menschen Bhang konsumieren, dann handelt es sich um die Pflanze, die den geringsten Anteil von dem aufweist, was man als THC, Harz und ätherische Öle bezeichnet. Bhang zu rauchen, macht einen nicht high. Man muss es essen oder trinken nachdem man es zu einer Paste verarbeitet hat. Sein High ist dann das Ausgewogenste aller drei Produkte, am ähnlichsten dem eines psychedelischen Highs und oft genutzt von Intellektuellen und Ringkämpfern. Es scheint die Gedanken und die Artikulationsfähigkeit zu stimulieren. Ganja ist die harzige Blütenspitze, die im Ganzen geerntet und dann getrocknet wird und von einer Pflanze stammt, die große Blütenstände bildet. Wenn es getrocknet ist, werden dem Ganja ein paar Tropfen Wasser hinzugefügt, um es von Hand zu pressen, bevor man es mit Tabak mischt und dann in einem Ton-Chillam raucht. Haschisch ist das Harz, das entweder mit der Hand von den harzigen Blütenspitzen gerieben oder auf andere Weise extrahiert wird, wie durch Ernte der Pflanzen und Abschütteln des Harzpulvers. Erst vor Kurzem ist eine neue Technologie der Harzabtrennung aufgetaucht, die Eis verwendet. Dieses „neue“ Produkt wird in Manali liebevoll „Ice-cream“ genannt.

Hanfblatt: Hat sich die Rolle von Cannabis über die 37 Jahre, die du jetzt in Indien lebst, verändert?

Baba Rampuri: Für die Babas war die größte Veränderung der Preis, der um hundert mal gestiegen ist, seitdem ich nach Indien gekommen bin. Im Rest der indischen Gesellschaft hat sein Gebrauch unter den Armen und der Arbeiterklasse kontinuierlich nachgelassen, aber unter den jungen Leuten der oberen Mittelschicht zugenommen. Während der Regierungszeit von Premierminister Rajiv Gandhi 1984 bis 1989 wurden offensichtlich die Produktion von Alkohol und dessen Konsum gefördert, und von der Regierung lizensierte Cannabisgeschäfte wurden geschlossen.

Hanfblatt: Ein Freund von mir war der Ansicht, dass die Sadhus heute mehr Tabak als obendrein noch schlechtes Cannabis rauchen würden, nachdem er im Rahmen einer Kumbha Mela zu ihnen stieß. Möglicherweise war es in früheren Zeiten besser, stärker, inspirierender. Kannst du das kommentieren?

Baba Rampuri: Nein, da würde ich nicht zustimmen. Man darf nicht alle Babas in einen Topf werfen. Es gibt Babas der verschiedensten Klassen und Richtungen. Man darf keine Schlüsse über alle Babas ziehen, wenn man nur Wenige getroffen hat. Und die andere Sache ist, dass wir immer über „die gute alte Zeit“ sprechen können, als „Alles“ besser war, aber das bringt uns tatsächlich nirgendwo hin. Aber ich möchte hinzufügen, dass reiche Leute heutzutage für gewöhnlich besseres Cannabis rauchen als arme Menschen.

Hanfblatt: Gibt es noch legales Cannabis in Indien?

Baba Rampuri: In Madhya Pradesh werden immer noch einige Formen medizinischen Hanfes legal in Markenpräparate eingearbeitet.

Hanfblatt: Was für eine Rolle spielt Datura?

Baba Rampuri: Datura ist beträchtlich schamanischer. Es transportiert seinen Gebraucher in eine Welt von Geistern und ist deshalb gefährlich für jeden außer den Erfahrenen und Initiierten. Es wird niemals zum Vergnügen oder für das Bewusstsein benutzt, vielmehr für die Kommunikation mit Geistern, was in der Tat sehr heikel ist.

Hanfblatt: Es hat einige Verwirrung um das Rauchen von Skorpion-Gift gegeben. Kannst du uns darüber etwas berichten?

Baba Rampuri: Skorpion-Schwänze sind sehr giftig, und sie zu rauchen ist sehr gefährlich. Nichtsdestotrotz rauchen einige Babas in großen Höhen im Himalaya Skorpion-Gift. Es erhitzt den Körper durch Fieber, was einige Babas nützlich finden um nackt im Schnee zu leben.

Hanfblatt: Das am meisten diskutierte unbekannte psychoaktive Sakrament ist „Soma“. Es wurde in antiken vedischen Texten erwähnt. Der Pilzforscher Gordon Wasson dachte, er hätte es im Fliegenpilz gefunden. Andere glaub(t)en, es handelte sich dabei um Somlata (Ephedra ssp.), Peganum harmala oder Zubereitungen daraus, Psiloc(yb)in-haltige Pilze oder sogar den guten alten Hanf. Was denkst du oder weißt du darüber?

Baba Rampuri: Ich liebe einfach psychoaktive Sakramente! Und ich denke, es wäre extrem cool, wenn Soma ein psychoaktives Sakrament wäre. Ich bin Einhundert Prozent dafür. Also, ich denke, dass Gordon Wasson, den ich einmal getroffen habe, ein extrem interessanter und wichtiger Mann war. Aber offen gesagt glaube ich, dass wir unser gegenwärtiges Denken über eine alte Tradition stülpen, die ein ganz anderes Denken, eine andere „Sprache“ und eine kulturell sehr verfeinerte Art die Welt wahrzunehmen hatte. Wir setzen voraus, dass Soma psychoaktiv war, und obwohl ich sogar selbst psychoaktiv bin, kann ich es einfach nicht erkennen, selbst nachdem ich hunderte von vedischen Ritualen beobachtet und all diese Jahre mit Babas zusammengelebt habe. Ich würde nach psychoaktiven Substanzen eher in den schamanischen und den Stammeskulturen als unter den kultivierten Brahmanen-Priestern suchen. Und man vergesse nicht, die vedische Kultur ist nur ein winziger Teil der riesigen indischen Tradition. Das vorausgesetzt, verstehen wir in meiner Tradition das Soma der Veden als Somlata, das Gestrüpp, das im Punjab wächst. Es gab und gibt sehr spezifische Bedingungen für die Auswahl und die Ernte von Somlata, an die man sich halten muss, wenn man das Somlata in der vorgeschriebenen Weise verwenden möchte.

Hanfblatt: Ich danke dir.

Baba Rampuri: Liebe, Licht und Freude!


Das Buch:

Baba Rampuri
„Baba.
Autobiography of a Blue-Eyed Yogi“
Bell Tower, New York 2005
Englisch, Geb. mit Su., 244 S.
ISBN 1-400-8038-X
23 US-Dollar

Homepage: www.rampuri.com

Dieses Buch bei Amazon neu oder gebraucht bestellen:

 

 

 


 

 

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Rezensionen

Highpriest – CD und psychedelisches Booklet

HanfBlatt Nr. 120

Highpriest

„Highpriest“ stellt eine eigenartige Verbindung zwischen drei gleichermaßen bemerkenswerten Künstlern dar. Da ist zum Einen der Komponist und Musiker Peter Frohmader, dessen elektronischer mystisch-psychedelischer Sound an krautrockige Zeiten erinnert und dabei frisch und ungewöhnlich daherkommt. Eine gewisse Düsternis knüpft die Verbindung zur magisch-schwarzromantischen Welt tiefsinniger Grufties. Zu dieser Musik kann man gut in traumartige Sphären driften, wenn man keine Angst vor Überraschungen und gelegentlichen wohltuenden Gruftbesuchen hat. Selbst ist Frohmader auch ein faszinierender Maler und Zeichner des Phantastischen, hat sich aber getraut, Cover und ein reizvolles optisch ergänzendes den Geist zusätzlich inspirierendes flashiges Booklet von dem Hanfblatt-Lesern bereits bekannten psychedelischen Künstler Mathias Erbe gestalten zu lassen. Zusätzlich kommt noch als kleines Bonmot der atmosphärisch in nicht unähnlichen Gefilden des Bewusstseins gründelnde Dichter Manfred Ach zu Wort ohne gleich das musikalische Werk zu vereinnahmen. So ist das Gesamtkunstwerk eine Perle für Freunde gegenwärtiger Psychedelik geworden.

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„Highpriest“
CD und psychedelisches Booklet
www.nekropolisrecords.de

Die Künstler:
www.peterfrohmader.de
www.mathias-erbe.de
www.m-ach.de

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Psychoaktive Substanzen

Hälfte der Schweizer Doping-Sünder sind Kiffer

Der Postbote staunte nicht schlecht, als er ein delikat duftendes Päckchen an den Schweizer Liga-Eishockeyspieler Fabian Sutter ausliefern sollte. Der Absender: Sutters ehemaliger Teamkamerad Peter Guggisberg. Der Inhalt: 40 Gramm feinster, eidgenössischer Rauschhanf. Kein Einzefall in der Schweiz: Die Hälfte aller offiziell überführten Doping-Sünder sind Cannabis-Liebhaber. Letztes prominentes Beispiel: Der Eishockey-Star von Davos, Jan von Arx, der wegen des Konsums von Cannabis bis November 2006 gesperrt war.

Bei Swiss Olympic, der Dachorganisation der Schweizer Sportverbände, ist man sich der Hanf-Problematik bewusst. Man weiß, dass hier nicht gedopt, sondern entspannter Freizeitsport betrieben wird. Ein Genuss, der den Sportlern noch Wochen und sogar Monate später zum Verhängnis werden kann, obwohl die Wirkungen und Nachwirkungen schon länst abgeklungen sind. Den Dopingfahndern wäre es daher lieber, wenn Dope von der Liste der internationalen Dopingagentur WADA verschwinden würde. Matthias Kamber, Dopingspezialist von der Sporthochschuschle Meagglingen, hält die pauschale Bestrafung von Cannabis-Konsumten für unzeitgemäß. „Unser Vorschlag ist, Cannabis wegen der ähnlichen Wirkung gleich zu behandeln wie Alkohol.“ Aber davon will die WADA nichts wissen.

Der Graspostler und Eishockey-Crack Peter Guggisberg, 21, wurde zu einem Bußgeld von 5000 Franken und zur Übernahme der Verfahrenkosten von 1500 Franken verdonnert. Der belieferte Fabian Sutter kam ohne Strafe davon, er sagte in einem kurzen Interview nur: „Ich betrachte die Sache für mich als erledigt.“

 

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Gesundheitssystem

Interview mit dem Kognitionsforscher John-Dylan Haynes

Berliner Zeitung v. 24.03.2007

Der Gedankenleser

Interview mit dem Kognitionsforscher John-Dylan Haynes vom Berliner Bernstein-Center über die Möglichkeiten mittels Kernspintomografien dem Menschen beim Denken zuzusehen

Das bildgebende Verfahren der funktionalen Magnetresonanz-Tomographie (engl: fMRI) ermöglicht Einblicke in die Funktionsweise des aktiven Gehirns, Wissenschaftler aus den Bereichen Neurologie, Kognitionswissenschaft und Biotechnologie nutzen die Apparate, um dem Menschen beim Denken zuzusehen.
Die Bilder haben enorme Suggestivkraft, decken sie doch eine bisherige Intimsphäre des Menschen auf: Denken und Emotionen liegen nun scheinbar offen, um auf dem Seziertisch von Psychologen und Hirnforschern analysiert zu werden.

Die Technik der Kernspintomografie funktioniert vereinfacht dargestellt so: Zunächst wird ein starkes Magnetfeld von mindestens 1,5 Tesla auf den menschlichen Kopf ausgestrahlt. Die Veränderung diese Blutflusses beim Denken sowie die Sauerstoffsättigung des Blutes ziehen Veränderungen des lokalen Magnetfelds mit sich, die vom Gerät aufgezeichnet werden können. So kann prinzipiell jede mentale Aktivität gemessen werden.

Am Bernstein-Center hat nun der Kognitionsforscher John-Dylan Haynes die Professur für „Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale“ angetreten. Er soll weiter in den Welten des Bewusstsein eindringen und klären, auf welchen neuronalen Grundlagen unsere Hirnleistungen beruhen.

Frage: Professor Haynes, in welchen Bereichen ist man schon heute sicher in der Lage aus fMRI-Scans abzuleiten was ein Proband wahrgenommen hat?

John-Dylan Haynes: Man kann schon sehr gut elementare Bilder, wie zum Beispiel Linienmuster oder aber auch komplexere Bilder erkennen. Unsere Forschung hat jetzt auch gezeigt, dass man sogar in der Lage ist, verborgene Absichten und Pläne aus der Hirnaktivität abzulesen.

Zum Beispiel?

John-Dylan Haynes: Wir haben einen Probanden gebeten, sich frei eine von zwei Aufgaben auszusuchen, dann aber vor der Ausführung ein paar Sekunden zu warten. Noch bevor der Proband mit der Bearbeitung der Aufgabe loslegte konnten wir aus dem Gehirn auslesen, welche Aufgabe sich der Proband insgeheim ausgewählt hatte. Wir konnten also quasi seine verdeckten „Absichten“ lesen.

Zur Verdeutlichung: Können sie als Versuchsleiter quasi live am Bildschirm verfolgen, welchen Kreis der Proband gerade betrachtete oder muss dazu erst ein computergestütztes Analyseverfahren bemüht werden?

John-Dylan Haynes: Prinzipiell wäre es schon möglich quasi-online zu rekonstruieren, was ein Proband gerade sieht. Allerdings wäre damit ein erheblicher Rechner-Aufwand verbunden, weshalb wir zur Zeit offline arbeiten und die Wahrnehmung im Nachhinein ermitteln. Die Mustererkennung einer 1-stündigen Kernspin Sitzung kann pro Proband schon mal 24 Stunden dauern. Es liesse sich jedoch ohne viel Aufwand auch ein quasi-realtime Erkennung realisieren.

Existieren theoretische Grenzen bei dem Auslesen von Vorgängen im Gehirn?

John-Dylan Haynes: Auf jeden Fall gibt es theoretische Grenzen. Selbst wenn man einen perfekten Hirnscanner hätte, der Hirnprozesse bis ins feinste Detail auflösen kann, müsste man noch wissen, welcher Hirnzustand zu jedem Gedanken gehört. Theoretisch müsste man also die Aktivierungsmuster zu jedem einzelnen denkbaren Gedanken aufgezeichnet haben, was natürlich unmöglich ist.

Sind nicht viele Hirnprozesse einmalige Aktivitäten, weil sich die Engramme ständig ändern? Was bedeutet das für die Aussagekraft der Experimente?

John-Dylan Haynes: Das Gehirn verändert sich in der Tat ständig, und das könnte auch für das Auslesen von Gedanken ein Problem sein, auch wenn wir hierüber zur Zeit noch nichts genaueres wissen. Es ist aber denkbar Verfahren zu entwickeln, die auch diese Lernprozesse in Betracht ziehen.

Existiert so etwas wie ein „guter Bewusstseinszustand“ (Thomas Metzinger), sollte man Kindern das weltanschaulich neutrale Meditieren beibringen?

John-Dylan Haynes: Sicherlich gibt es positive und weniger positive Bewusstseinszustände und Gedanken, und Meditation trägt sicherlich zu einem ausgeglicheneren und positiveren „Grundbewusstsein“ bei. Ich bin jedoch skeptisch inwiefern es möglich ist, durch „Nachdenken“, oder besser gesagt „Nicht-Nachdenken“, allein wirklich tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit herbeizuführen. Ich halte die menschliche Persönlichkeit für weitgehend Veränderungsresistent.

Aber verändert sich das Gehirn und damit die Persönlichkeit nicht oft, sei es durch einschneidende Erlebnisse, sei es durch wiederholtes Übungen?

John-Dylan Haynes: Das Gehirn und somit auch die Persönlichkeit ändert sich ständig, mit jeder Erfahrung, die wir machen. Die entscheidende Frage ist jedoch, inwiefern wir diesen Veränderungsprozess in unserem Sinne steuern können. Wir können natürlich durch Training bestimmte motorische Fertigkeiten oder Denkabläufe optimieren. Wir können auch durch Verhaltenstherapie bestimmte Ängste in den Griff bekommen. Beides geht mit Veränderungen im Gehirn einher. Allerdings sind die Kerneigenschaften unserer Persönlichkeit weitgehend resistent gegenüber gezielten Veränderungen, was sich nicht zuletzt darin zeigt, wie schwierig eine psychotherapeutische Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ist. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist auch, wie solche gezielten Veränderungen der „Neuropsyche“ am besten zu erreichen sind. Zur Zeit hat die Hirnforschung nur wenig Mittel, gezielte Veränderungen der Persönlichkeit herbeizuführen, weil wir keine gezielten „Inhalte“ in das Gehirn „schreiben“ können. Auf absehbare Zeit ist Psychotherapie dafür immer noch der beste Weg.

Durch die Erfolge des Brain-Readings stellen sich alte ethische Fragen neu. Welche halten sie für die dringensten?

John-Dylan Haynes: Die ethischen Probleme des Brain-Readings sind in den letzten Jahrzehnten schon oft im Zusammenhang mit Lügendetektion diskutiert worden. Die Frage war, inwiefern man die „mentale Privatsphäre“ des Menschen vor technischen Zugriffen schützen sollte. Diese Debatten waren allerdings eher theoretischer Natur, weil wir keine guten Techniken zum Auslesen von Gedanken hatten. In meinen Augen wird sich diese Frage in den nächsten Jahren völlig neu stellen, sobald wir tatsächlich über hocheffektive Techniken verfügen, menschliche Gedanken aus der Gehirnaktivität abzulesen. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass sich Gerichte nicht ewig sperren können, Brain-Reading Beweise zuzulassen, denn die Beweise können ja auch zu einer Entlastung beitragen. Und im Bereich der Rehabilitation werden bereits heute sogenannte Brain-Computer-Interfaces entwickelt, mittels derer Gedanken ausgelesen werden, um künstliche Prothesen oder Joysticks zu steuern. Ein anderes Beispiel: In den USA gibt es den Employee Polygraph Protection Act, der regelt, dass bei Einstellungstests keine Polygraphen-Tests zum Einsatz kommen dürfen. Ausnahmen sind nur für Bundesbehörden mit hohem Sicherheitsbedarf gestattet. Oder nehmen Sie zum Bespiel die Flugsicherheit. Wenn es eine hypothetische Möglichkeit gäbe einen Terroristen an seiner Gehirnaktivität zu erkennen, können wir uns dann dagegen sperren, solche Verfahren einzusetzen? Wir brauchen also eine neue ethische Debatte darüber, in welchen Bereichen wir Brain-Reading zulassen wollen, und in welchen nicht.

 

 

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Drogenpolitik Interviews

Interview mit dem Bremer Suchtforscher Heino Stöver

Hanfblatt, Nr. 1006, März 2007

„Die Verelendungsprozesse hören nur durch die Vergabe von Methadon oder Heroin nicht auf“

AZ & AdH

Die Diskussion um den Umgang mit Genießern von psychoaktiven Substanzen wird weitestgehend vom präventiv-prohibitiven Ansatz dominiert. Aus dieser Perspektive scheint gar nichts anderes denkbar, als die irregeleiteten Jugendlichen und Erwachsenen auf den rechten Weg eines drogenfreien Lebens zurück zu führen. Oder existieren Alternativen? Ende der Achtziger Jahre hat sich die sogenannte „akzeptierende Drogenarbeit“ aus der Kritik an der nur auf Abstinenz ausgerichteten etablierten Drogenarbeit entwickelt. Diese zielte auf eine Änderung des Lebensstils und der Persönlichkeit abhängiger Drogengebraucher mit Hilfe justitiellen Zwanges ab. Die repressive Drogenpolitik, so die These der akzeptierenden Drogenarbeit, sei jedoch maßgeblich für die Lebens- und Konsumbedingungen der Drogengebraucher verantwortlich, die zu Verelendungsprozessen führen würden. Man forderte folgerichtig die Entwicklung sogenannter „niedrigschwelliger Ansätze“, wie von Sozialarbeitern geführte Szene-Cafes, Konsumräume und Übernachtungsstätten sowie die Begleitung für ihren exzessiven Drogenkonsum bekannter Techno-Parties. Zudem sollten Opiate oder Ersatzdrogen wie Methadon von Ärzten verschrieben werden können. Einiges von den Vorstellungen dieses in dieser Form neuen drogenpolitischen Ansatzes wurden bis heute realisiert.

Heino Stöver, Professor an der Universität Bremen, hat diesen Prozess maßgeblich mitgestaltet und wissenschaftlich begleitet. Im Gespräch geht es um Erfolge und Niederlagen der akzeptierende Drogenarbeit, Opiatabhängigkeit und Beikonsum sowie fehlende Zukunfts-Visionen.

Frage: Professor Stöver, was würden Sie aus heutiger Sicht als die Erfolge der akzeptierenden Drogenarbeit verbuchen?

Heino Stöver: Man hat auf der fachlich-helferischen Seite einige gute Angebote implementiert. Zum einen erreicht die Schwerpunktgruppe der Opiatkonsumenten eine Substitutionsbehandlung, die heute etwa 70.000 Menschen umfasst. Ich erinnere mich, dass die Ärzte früher, bevor sie unseren Kontaktladen betraten, nach links und rechts schauten, ob sie jemand erkennt. Heute ist das dagegen eine Standard-Behandlung, die aber hinsichtlich ihrer Qualität und auch Quantität noch weiterentwickelt werden muss. Zum anderen existieren die Konsumräume, die ein wichtiges Instrument in der HIV und Hepatitis-Prävention sind. Drittens gibt es eine flächendeckende Abgabe von Einwegspritzen. Nachgeordnet muss man die „Safer-Use“ und „Safer-Sex-Kampagnen“ nennen, die ebenfalls zu einer positiven Bilanz beitragen.

Frage: Und auf gesellschaftlicher Ebene?

Heino Stöver: Wenn man akzeptierende Drogenarbeit auch als etwas politisch-gesellschaftliches begreift und damit die Akzeptanz eines Lebensstils von Menschen anspricht, die gewisse Drogen anderen vorziehen, dann hat man bisher wenig erreicht. Schon vor dem Hintergrund einer allgemeinen Drogenfeindlichkeit ist die Akzeptanz von Drogengebrauchern gering. Beispielsweise war die Diskussion um Cannabis vor zehn Jahren viel fortgeschrittener als heute. Da gibt es Wellenbewegungen, und heute befindet man sich offensichtlich wieder einmal in einem Tal.

Frage: Derzeit befindet sich die akzeptierende Drogenarbeit offensichtlich auf dem Rückzug. Fixerstuben werden geschlossen, Heroin-Verschreibungsmodelle beendet und psychosoziale Betreuungen reduziert. Unter der Vorgabe von verstärkter Qualitätskontrolle haben Bürokratisierungs- und Hierarchisierungsprozesse in den Projekten eingesetzt. Therapeutische Ansätze und Zielorientierung mit Zwangsmaßnahmen werden in überarbeitete Konzepte aufgenommen und durchzusetzen versucht. Von Niedrigschwelligkeit und Suchtbegleitung, zwei wesentlichen Standbeinen der akzeptierenden Drogenarbeit, bleibt dann nicht mehr viel übrig. Die entsprechenden Projekte möchten das positiv besetzte Etikett der akzeptierenden Drogenarbeit offiziell jedoch nicht abgeben. Welche Faktoren sind für diese Krise, wenn man sie nicht letztendlich gar als Scheitern der akzeptierenden Drogenarbeit sehen will, verantwortlich?

Heino Stöver: Sie beschreiben die Eigendynamik einer Bewegung sehr gut, die auf allgemeines gesellschaftliches Wohlwollen stieß, weil angesichts der damaligen AIDS-Krise klar war, dass etwas geschehen muss. Die angeschobenen Projekte haben dazu beigetragen die AIDS-Epidemie einzudämmen. Heute haben wir bei den HIV-Neuinfektionen nur noch neun Prozent, die sich über Spritzen anstecken. Sehr viel weniger als vor 20 Jahren befürchtet. Aber durch den Erfolg sind immer neue Organisationen gewachsen, es entstanden Institutionalisierungs- und Hierarchisierungsprozesse, die Verlockungen auf Pfründe waren groß. Der Ursprungsgeist, das ist vollkommen richtig, ist verblasst. Dazu kommt, dass nach der AIDS-Krise die bis heute andauernde Hepatitis-Welle völlig unterschätzt wurde. Etwa 60-90 Prozent aller Opitatkonsumenten sind HCV-positiv. Da hat offenbar etwas nicht geklappt.

Frage: Hepatitis ist kein öffentliches Thema.

Heino Stöver: Ich selber war ja in der Praxis bis Mitte der 90er Jahre und schon da ist mir aufgefallen, dass wir unsere HCV-Broschüren eher pflichtschuldig schreiben. HCV ist eine graue Krankheit, es fehlt das absolut tödliche, sie hat nie die Schubkraft erfahren wie HIV/AIDS. Dort waren große Stars erkrankt, die gay community nahm sich des Themas an. Rund 8000 Neuinfektionen mit Hepatitis-C jährlich und rund 2000 mit HIV jährlich zeigen aber die Relevanz des Themas. Völlig unterbelichtet blieb auch, dass sich der Knast zum unabhängigen Prädiktor für HCV-Infektionen entwickelte. In der Haft ist die Chance, sich mit HCV zu infizieren, groß. Trotzdem kam es auf politischen Druck zum Abbau der Spritzenautomaten in den wenigen Gefängnissen die solch ein Angebot überhaupt realisierten. Die Projekte stagnieren, organisationssoziologisch formuliert haben Erstarrungsprozesse eingesetzt. Und in die Politik wurde die Nachricht nicht genügend transferiert.

Heroin Werbung von Bayer USA

Frage: Wo kann frischer Wind für die akzeptierende Drogenarbeit herkommen?

Heino Stöver: Da habe ich keine Antwort. So eine Schubkraft kann man nicht alle zwanzig Jahre entwickeln. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist gesättigt. Für einzelne Bereiche gilt es sich mit aller professionellen Kraft gegen das Vergessen zu wehren. Das ist aber nichts visionäres, was als Leuchtbild vorangehen kann. Schaut man auf die Geschichte der akzeptierenden Drogenarbeit haben ja Anfang der 80er Jahre Leute aus den sozialistisch orientierten Gruppierungen ihre alten, politischen Visionen am Drogenthema abgearbeitet. So konnten gesellschaftliche Prozesse in Frage gestellt werden. Anti-Psychiatrie, Patientenschutz, Verbraucherschutz, alles Themen, die heute noch aktuell sind. Diese Generation hatte eine Vision von einem gesellschaftlichen Umbau, eine Vision, die der Generation von heute zumeist abgeht.

Frage: Eines der großen Probleme in der akzeptierenden Drogenarbeit ist der Umgang mit dem sogenannten „Beikonsum“. Wenn man von Drogenabhängigen spricht, dann meint man in der akzeptierenden Drogenarbeit Menschen, die am liebsten Heroin konsumieren und die Finger nicht davon lassen können. So wird das Heroin zum Maß aller Dinge gemacht. Alles was sonst noch konsumiert wird, wird dann zum „Beikonsum“. Die Grundthese lautet: Wenn ein aus der Bahn geratener Heroinkonsument nur genügend qualitativ hochwertiges Heroin zu einem günstigen Preis erhält und unter hygienischen Bedingungen konsumieren kann, dann steht ihm nichts mehr im Wege wieder ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Man kann sicherlich gelten lassen, dass für die Mehrzahl der Opiatgebraucher die leichte Verfügbarkeit von Opiaten erst einmal eine Erleichterung darstellt. Wer jedoch einen süchtigen Lebensstil geführt hat, ist oft nicht mit der Aufrechterhaltung seines Drogenpegels zufrieden. Die viel gepriesene Eröffnung von Lebensperspektiven und einer klareren Sicht wirkt gerade auf die besonders problematisch konsumierenden Drehtürklienten eher deprimierend. Hier kommt der erwähnte Beikonsum ins Spiel. Ohnehin wurde schon im Vorfeld oft alles Mögliche sonst noch konsumiert. Dauerkiffen, Saufen, Benzodiazepine einwerfen und vor allem Kokainkonsum, insbesondere in rauchbarer Form, bringen betreuende Sozialarbeiter zur Verzweiflung. Gerade der exzessive Kokainkonsum und die Schwierigkeiten im Umgang mit durchgeknallten Kokain-Basern stellen den akzeptierenden Umgang in Frage. Auf der einen Seite meint man zwar noch, man müsste sich auf das Niveau dieser Klientel herab begeben und versuchen, die schlimmsten gesundheitlichen und sozialen Auswüchse deren Verhaltens abzufedern, andererseits denkt man mittlerweile offen über Zwangsmaßnahmen nach. Welche Ansätze zum Umgang mit der Problematik des sogenannten Beikonsums erscheinen derzeit sinnvoll?

Heino Stöver: Zum ein muss man sich aus den idealtypischen Vorstellungen lösen, was Substitutionsprogramme leisten können. Selbst bei der Verschreibung von reinem Heroin hing man und auch ich lange Zeit einem mechanistischen Bild nach. Nach dem Motto: „Wenn nur genügend Methadon, dann geht es allen Betroffenen gleich besser, die Kriminalität wird reduziert und die Prostitution nicht mehr nötig.“ Die Wirklichkeit hat in den letzten zwanzig Jahren gezeigt, dass das so einfach nicht funktioniert. Auf dem Wege Betäubung herzustellen gehen die Menschen viele Wege um sich aus der Wachbewusstseins-Gesellschaft auszuklinken. Die Verelendungsprozesse hören halt nur durch die Vergabe von Methadon oder auch Heroin nicht auf. Anfang der 90er Jahre gab es die „Roche-Phase“, da schliefen die Leute im Stehen ein. Viele Ärzte und Berater sind heute auf der Gratwanderung zu entscheiden, was selbst gewählter Lebensstil und was Krankheit ist. Antworten hat da momentan keiner, wie man mit den Opiatabhängigen, die zusätzlich noch Crack oder Kokain konsumieren, umgeht. Klar ist nur allen, das man die Brücke nicht abreißen lassen will, Schadensminimierung ist das Ziel. Einerseits macht Crack enorm abhängig, andererseits scheint es doch Konsummuster und Kontrollregeln zu geben, die den Konsum unterbrechen lassen.

Frage: Selbst viele Kokainkonsumenten, gerade wenn sie über die Erfahrung des Rauchens mit ihrem geringen Belohnungs-, aber hohen Gierfaktor verfügen, können sich eine freie Verfügbarkeit von Kokain, also eine Legalisierung, nicht als positive gesellschaftliche Perspektive vorstellen. Wie soll die Gesellschaft generell mit Kokain und seinen Konsumenten umgehen?

Heino Stöver: Die Frage ist wichtig, wird aber nicht diskutiert. Bei Heroin hat sich die Gesellschaft geeinigt, dass die Substanz krank macht, bei Kokain werden hedonistische Motive unterstellt. Ich kann mir nur eine ärztliche Verschreibung von Kokain vorstellen. Mag idiotisch klingen, aber wenn es zunächst darum gehen soll den Menschen zu helfen, dann kann diese ärztlich kontrollierte Abgabe helfen. Global gesehen hat das Verbot ohnehin mehr Nachteile als Vorteile. Ewig wird man keine Flugzeuge in die Erzeugerländern schicken können um dort die Plantagen zu entlauben. Vielleicht wäre ein fairer Handel die bessere Variante. Aber niemand setzt sich wirklich mit alternativen Kontrollmodellen auseinander, dabei wird uns das Thema in den nächsten Jahren beschäftigen.

Frage: Zur nächsten Frage und dem Cannabis und seinem Konsum: Ein Grundproblem scheint zu sein, dass ein ehrlicher Dialog über Cannabis nicht möglich ist, weil praktisch alle Beteiligten vom Sozialarbeiter über die Strafverfolgungsbehörden und Politiker über Cannabishändler bis zu Buchautoren und Growshop-Besitzern kommerzielle Interessen vertreten, Selbstvermarktung betreiben müssen und Rechtfertigungszwängen unterliegen. Eltern folgen in Angesicht des vielleicht auch nur vermeintlich renitenten Verhaltens ihrer Sprösslinge den Gesetzen von Ohnmacht und Überreaktion. Ein Dilemma, dass derzeit unlösbar erscheint. Wie könnte Ihres Erachtens der Weg zu einem ehrlichen und offenen Dialog bezüglich der Umgangsformen mit Cannabis aussehen? Wäre eine Entkriminalisierung der Cannabisgebraucher ein Schritt, der auch den Konsumenten, einen ideologieärmeren und selbstkritischeren Umgang erlauben würde?

Heino Stöver: Natürlich brauchen wir einen offeneren und ehrlicheren Dialog. Das sehen wir an den Anti-Cannabis Kampagnen, die immer mal wieder angestoßen werden. Dabei zeigt die kritische Epidemiologie, dass das Einstiegsalter nicht gesunken ist und auch die gestiegene Verbreitung des Cannabiskonsums ist nicht so klar und eindeutig wie das gerne dargestellt wird. Das Bild, das IFT und BzgA gezeichnet haben, wird durch unsere Untersuchung (1) gebrochen. Plötzlich aber gab es eine Hysterie, angestoßen wohl durch das Titelblatt des Spiegels „Seuche Cannabis“, und das bei einem Thema was schon gegessen schien. Die Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer hat schon vor zehn Jahren weitergehende Beschlüsse gefasst und wollte einen Modellversuch in Schleswig-Holstein mit Cannabis in Apotheken durchführen. Letzter Ausfluss der neuen, aus meiner Sicht unehrlichen, Anti-Bewegung sind die Studien von Rainer Thomasius von der Universität Hamburg. So wird alle paar Jahre die Cannabis-Sau durchs Dorf getrieben, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, welche Hilfe- und vor allem Entdramatisierungs-Angebote ich den Eltern und Betroffenen gebe. Aber es wird lieber dem freien Markt überlassen, die Folgen sind klar: Es wäre der ein dummer Geschäftsführer, der jetzt keine neue Cannabis-Beratung anbietet. Ein offener Dialog wäre dagegen nur möglich, wenn zumindest erst einmal die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 umgesetzt würden eine einheitliche Regelung für die „geringe Menge“ zu finden. Es braucht von oberster politischer Seite eine Wertschätzung der Studie von Kleiber und anderen (2), die ja alle darauf hinweisen, dass es einerseits einen moderaten Konsum gibt, andererseits einen problematischen Konsum, bei dem zu unterscheiden ist, wer da welches Problem hat. Sind es die Eltern oder der Jugendliche Cannabis-Raucher selbst? Ehrlich ist der Dialog auch deshalb nicht, weil er nur wieder das Verhalten der Konsumenten auf das Korn nimmt. Ich würde mir Forschungsaufträge wünschen, die die Auswirkungen der repressiven Kontrollpolitik auf die Konsumenten untersuchen. Was bewirkt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft in das Haus eines 16-Jährigen, der mit einem Joint aufgriffen wurde? Damit werden immerhin 200.000 Menschen Jahr für Jahr konfrontiert.

Frage: In der Schweiz gibt es diese Bemühungen eine klare Linie zu finden.

Heino Stöver: Die Botschaft der Entkriminalisierung birgt sicher ein Gesundheitsrisiko, aber das Risiko ist für Menschen höher, wenn sie nicht wissen, woran sie sind.

Frage: So wie bei der Frage um den angestiegenen THC-Gehalt im Cannabis.

Heino Stöver: Sicher trifft der höhere THC-Gehalt auf Nederwiet zu, hochgezüchtete Produkte, die sehr effektiv und potent sind. Wenn man die nicht gemäß der Menge runterdosiert, dann entstehen Probleme. Aber nicht bei Allem an Zuchtgras und nicht bei marokkanischem Haschisch hat sich der THC-Gehlt erhöht.

Frage: Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und Probleme mit dem Cannabis-Konsum bestehen, was kann man raten?

Heino Stöver: Wirksam sind „von gleich zu gleich“ Modelle. Peer-Modelle, die auf die Erfahrung von anderen Konsumenten oder Ex-Konsumenten bauen. Dort hat man weniger Angst, Probleme, die man hat oder vielleicht auch nicht hat, offen zu äußern. Die Konsumenten können sich am ehesten vorstellen unter ihresgleichen zu berichten, und zwar auch über das Positive der Rauscherfahrung. Hier wird sich auch über geeignete und ungeeignete Zeitpunkte des Konsums unterhalten.

Frage: Für den Fall einer alternativen Cannabis-Kontrolle wurden zur Beruhigung kritischer Stimmen Modelle ins Gespräch gebracht, wie das Apothekenmodell oder der Drogenfachverkäufer. Man meint, dieses Personal würde seine Kundschaft im Falle gesundheitsschädigenden Verhaltens beraten und ausbremsen können. Auch in Ihrem neuen Cannabisleitfaden wird in einem Beitrag die potentielle beraterische Kompetenz von Head- und Growshop-Personal ins Gespräch gebracht. Selbst wenn man einmal einen gewissen Idealismus voraussetzt oder ein Eigeninteresse, das den dauerhaften Verlust eines Klienten als selbstschädigend realisiert, so erscheinen mir doch derartige Modelle als ähnlich naiv, wie von einem Kneipier beim Ausschank alkoholismuspräventive Arbeit zu erwarten.

Heino Stöver (lacht): Bisher gibt es halt nur zarte Versuche Ökonomie und Kunden zusammenzubringen. Gerade gibt es eine ähnliche Diskussion, weil Lottoschein-Verkäufer am Spielverhalten ihrer Kunden erkennen sollen, ob diese süchtig sind. Nun, das ist tatsächlich naiv. Wichtiger scheint mir zunächst die Qualitätskontrolle der Produkte zu sein. Wenn es überhaupt je zu einem aktiven Regeln diesen bisher illegalen Marktes kommt, dann kann das nur mit Qualitätskontrollen geschehen. Ich tendiere da eher zum Apothekermodell, denn der Apotheker ist zumindest jemand, bei dem man Rat suchen kann. Es gäbe Beipackzettel, man könnte Mischkonsum und Nebenwirkungen erfragen.

Frage: Ist der Cannabisgebraucher aber im Idealfall nicht eher mit einem Weinliebhaber zu vergleichen? Er möchte aus einer breiten Palette auswählen, es gibt bekanntlich hunderte von Kreuzungen und Sorten.

Heino Stöver: Das Apothekenmodell war schon einmal in der politischen Diskussion und daher praktikabler. Sympathisch fand ich es nie. Das niederländische Coffeeshop-Modell hat andere Vorteile: Man ist dort mit den Wirkungen vertraut, der Käufer kann vor Ort konsumieren. Aber Dunstabzugshauben unter der Decke, das Personal mit Glasscheiben von den Konsumenten getrennt? Wie oft muss ein geschulter Berater vor Ort sein? Es gibt noch viele offene Fragen, nur fehlt zurzeit der Impuls diese Fragen überhaupt anzugehen. Zudem ist ja selbst die Cannabis-Szene untereinander zerstritten. Für unsere Cannabis-Kampagne gab es einen Minimal-Konsens, aber manchen Vereinen waren 30 Gramm Eigenbedarf zu wenig. Aber irgendwo muss man ja anfangen!

Frage: Ein Appell an die verschiedenen Gruppen weniger ihr eigenes Süppchen zu kochen?

Heino Stöver: Sicher. Aber dafür bedarf es halt einer Vision, eines Modells, mit dem sich dann auch Prominente solidarisch erklären könnten, was den medialen Druck erzeugt.

Frage: Eine Kampagne: „Ich rauche, wenn ich will, und dann rauche ich gern“ beispielsweise?

Heino Stöver (lacht): Beispielsweise. Um die eingefahrene Situation zu lösen, müssen mehr Menschen an einem Strang ziehen.

– — — —

(1) Kalke, Jens; Verthein, Uwe; Stöver, Heino (2005): Seuche Cannabis? Kritische Bemerkungen zu neueren epidemiologischen Studien, in: Suchttherapie, 6. Jahrgang, S. 108-115.

(2) Kleiber, Dieter; u.a.: Cannabiskonsum. Entwicklungstendenzen, Konsummuster, Risiken. Juventa Verlag, Weinheim 1998.

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Drogenpolitik Interviews

Interview mit Henning Voscherau über synthetische Opiate vom Staat und die erreichbaren Ziele der Drogenpolitik

telepolis, 04.03.2007

Die Heroinabgabe muss kommen

Jörg Auf dem Hövel und AZ

Interview mit Henning Voscherau über synthetische Opiate vom Staat und die erreichbaren Ziele der Drogenpolitik

Sieben deutsche Großstädten wagen seit fünf Jahren ein drogenpolitisches Experiment. Sie vergeben reines Heroin an Abhängige, bei denen zuvor alle Therapieversuche gescheitert sind. Begleitet wird das Modellprojekt vom Hamburger Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung. Dieses legte nun einen Studienbericht mit einem positiven Fazit vor. Die Teilnehmer seien nicht nur gesünder als andere Süchtige, die mit Methadon behandelt wurden. Sie würden auch seltener straffällig, fänden häufiger eine Wohnung und einen Arbeitsplatz und würden weniger illegale Drogen nebenbei konsumieren.

Das Experiment scheint geglückt, die beteiligten Städte Hamburg, Hannover, Frankfurt, Bonn, Karlsruhe, Köln und München wollen aus dem Projekt eine Regelversorgung werden lassen. Doch dagegen sperrt sich die Fraktion der Union im Bundestag. Bisher dürfen Heroinabhängige nur mit Ersatzstoffen wie Methadon versorgt werden. Der Unions-Obmann im Gesundheitsausschuss, Jens Spahn (CDU), bezweifelt, dass die Ergebnisse so viel besser sind, „dass sie es rechtfertigen, eine harte Droge teilweise zu legalisieren“. Die Diskussion wird anhalten.

Zeitsprung in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In Hamburg hat sich quasi eine offene Drogenszene etabliert, die die Gegend rund um den Hautpbahnhof zum handeln und konsumieren nutzt. Man versucht die Abhängigen und zum Teil stark verelendeten Junkies zu vertreiben, löst damit aber das Problem nicht. Der Bürgermeister der Stadt, Henning Voscherau (SPD), schiebt die ersten Drogenhilfeprojekten im Bereich der sogenannten „Akzeptierenden Drogenarbeit“ an, die vielen der süchtigen Opiatgebrauchern durch niedrigschwellige Hilfen neue Lebensperspektiven bieten soll. Spritzenvergabe, auch in Gefängnissen, Gesundheitsräume, betreute Übernachtungsmöglichkeiten und Wohnformen, Beratungscafes sowie weitreichende psychosoziale Betreuung. Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger konnte gesetzlich verankert werden, ein Heroinvergabeversuch wurde in die Wege geleitet. Andere deutsche Städte und Gemeinden folgten. Heute hat sich Voscherau aus der aktiven Politik zurückgezogen, engagiert sich aber weiterhin in der Drogenpolitik.

Frage:
Mittlerweile wurden eine Reihe der damals entwickelten Hilfsmöglichkeiten für Opiatabhängige wieder eingestellt. Bürokratisierungs- und Hierarchisierungsprozesse haben unter den Prämissen von Qualitätskontrolle und -sicherung eingesetzt und stellen die Niedrigschwelligkeit in Frage. Wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung was die Projekte der Akzeptierenden Drogenarbeit betrifft?

Henning Voscherau:
Ein einschneidender Rückschritt, der die Menschenwürde vieler Betroffener antasten wird. Aus meiner Sicht ein Grundrechtsverstoß, denn stärker als in den letzten zehn Jahren wird diesen Menschen Hilfe verweigert, die sie zum Überleben brauchen und die sie brauchen, um sich aus der Opiatabhängigkeit zu befreien. Das können nicht alle, das weiß ich wohl, aber denjenigen, die es vielleicht schaffen könnten, wird nun die Möglichkeit genommen.

Frage:
Sie haben bereits 1990 auf das Scheitern des rein repressiven Ansatzes bei der Bekämpfung der negativen Auswirkungen des Konsums illegaler Drogen hingewiesen. Ist bei objektiver Betrachtung heute nicht immer noch das Hauptproblem der Drogenpolitik, dass man sich scheut, diese beängstigende Sackgasse zu verlassen, um sich endlich einmal neuen pragmatischen und optimistischen Ansätzen zu öffnen?

Henning Voscherau:
Prohibition scheitert immer dann, wenn zum einen eine dr ängende Nachfrage in der Bevölkerung existiert, ob nun nach Alkohol, wie in den 20er Jahren in den USA, ob nach einer Droge wie Heroin, und wenn zum anderen die Durchbrechung der Prohibition riesige Gewinne verspricht. Das führt immer zu einem Prozess der Illegalisierung der Abhängigen und der Gewinnmaximierung für die Kriminellen. Das ist der dümmste und kurzsichtigste Weg, den man einschlagen kann. Es ist traurig, dass solche Dummheit jetzt wieder stärker fröhliche Urständ feiert.

Frage:
Die Ergebnisse der Heroinstudie liegen vor. Sie decken sich mit den Erfahrungen im Ausland: Der Gesundheitszustand der Betroffenen bessert sich, die Sterberate sinkt. Gleichwohl gibt es Bedenken, das Modell zur Regelversorgung für Abhängige zu machen. Das Argument der Gegner: “Es drohe die Enttabuisierung von Heroin.“ Besteht tatsächlich die Gefahr, dass Heroinkonsum dadurch bei Nichtkonsumenten an Reiz gewinnt?

Henning Voscherau:
Wenn man es richtig macht, besteht diese Gefahr nicht. Ich schlage nicht vor und glaube nicht, dass sonst jemand Ernstzunehmender das täte, analog zur Aufgabe der Alkoholprohibition künftig Heroin in der Kneipe oder Drogerie frei zum Kauf zugänglich zu machen. Im Gegenteil, man muss versuchen, die Heroinverabreichung zu medizinalisieren. Es kann nicht um Verabreichung an jedermann gehen. Man hat einen Patienten, einen schwer Abhängigen, man hat einen Arzt, er ist der verantwortliche Therapeut. Dieser muss das Recht haben zu verschreiben, was medizinisch indiziert ist. Wer als Politiker dem Gesundheitsmarkt der niedergelassenen Ärzte und Apotheker insoweit nicht vertraut, hat die Möglichkeit, Drogenbehandlungs-Ambulanzen vorzuschreiben, in denen streng auf Zuverlässigkeit geprüfte Therapeuten verhindern, dass diese Verabreichungsform und damit die Droge sich quer über die Gesellschaft verteilt.

Frage:
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass nach der Besetzung Afghanistans, des größten Opium- und Heroinproduzenten der Welt, durch westliche Truppen und die verbündeter Opiumwarlords die Opium-Ernten de facto auch unter Aufsicht der Bundeswehr Rekordhöhen erreicht haben, erscheint die Zaghaftigkeit bei der Realisierung einer kontrollierten Heroinabgabe an Schwerstabhängige und das Beharren auf der Strafverfolgung von Konsumenten illegaler Drogen hierzulande geradezu absurd. Nach allem was wir wissen, kann man die Ergebnisse des Heroinvergabe-Modellprojektes positiv bewerten. Warum gestaltet es sich so schwierig, schwerstabhängigen Opiatgebrauchern einen legalen ärztlich kontrollierten Zugang zu dem für sie bestverträglichen Opiat, im Einzelfall also auch zu pharmazeutisch reinem Heroin, zu gewähren?

Henning Voscherau:
Man muss den Verhinderern in den Gesetzgebungsorganen zubilligen, dass sie wirklich Ängste haben, es könne sich allgemeine Zugänglichkeit zu Heroin entwickeln. Oder aber sie sind weltanschaulich so fixiert, dass sie es nicht über sich bringen können, eine pragmatische und vernünftige Lösung mitzutragen.

Frage:
So recht scheint die Domestizierung des Rausches nicht zu funktionieren…

Henning Voscherau:
Wohl wahr…

Frage:
… ist der Abstinenzansatz in der Drogenpolitik überhaupt noch zukunftsträchtig?

Henning Voscherau:
Für die Gesundheit von Menschen, für die Kosten des Gesundheitssystems und für die Gesellschaft insgesamt wäre es zweifelsfrei besser, wenn Menschen möglichst abstinent leben. Das gilt für Alkohol und Nikotin ebenso wie für illegale Drogen. Das ist zwar nicht die Realität, aber auch wenn das Ziel der abstinenten Gesellschaft niemals erreichbar sein wird – nebenbei bemerkt: durchsetzen von oben kann man es sowieso nicht – so ist es doch richtig zu sagen: So wäre es am besten, ein Ideal. Die praktische Vernunft in der Politik gebietet es aber, sich nicht auf ideale Ziele zu beschränken, sondern Wege zu gehen, die sich an Realitäten orientieren.

Frage:
Könnte es sinnvoller sein statt Abstinenz eine Drogenmündigkeit zu fordern, die weniger auf Enhaltsamkeit als auf den früh erlernten Umgang mit Suchtmitteln setzt?

Henning Voscherau:
Mündigkeit ist für einige Suchtstoffe eine Illusion, sagen mir die Naturwissenschaftler. Ich glaube nicht, dass man jemanden zum mündigen Umgang mit gelegentlichem Heroinkonsum erziehen kann. Insofern bin ich kein Anhänger einer gesellschaftlichen Salondiskussion über das Recht auf Rausch oder Drogenmündigkeit. Das mag individuell und in der Privatsphäre eine Fragestellung sein, zu der jeder einzelne Mensch das Recht hat, zur Direktive einer Drogenpolitik würde ich das nicht machen wollen. Ein kollektives Recht auf Mündigkeit im Umgang mit Heroin existiert nicht und indviduell sollte es das Recht auch weiterhin nicht geben, weil das Risiko unkalkulierbar ist.

Frage:
Was immer gerne vergessen wird, Millionen von Menschen konsumieren gelegentlich illegale Drogen, ohne damit schwerwiegende Probleme zu haben. Verbote halten sie nicht ab, sondern erhöhen Reiz und Risiko und verhindern eine sachliche entemotionalisierte Auseinandersetzung, die meines Erachtens für eigenverantwortliches Handeln notwendig wäre. Warum scheut man sich, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen und hier offiziell gefördert risikominimierende Umgangsformen zu entwickeln?

Henning Voscherau:
Natürlich gibt es den individualistischen Ansatz, der sagt: Das Grundgesetz gewährt mir ein Selbstbestimmungsrecht, solange ich mit meinem Konsum Andere nicht in ihren Rechten beeinträchtige, muss ich selbst entscheiden dürfen, was mir gefällt. Ein weites Feld. Es ist schwer, Jemandem Vorschriften zu machen, wie er sein Leben führen soll. Gleichwohl muss man einräumen, dass die unterschiedlichen Suchtmittel individuell und gesamtgesellschaftlich ein unterschiedlich ausgeprägtes Gefahrenpotential tragen. Das will ich nicht als Jurist beurteilen, das sollen Mediziner und Biochemiker tun. In dem Moment, in dem jemand nicht mehr aus freiem Willen aus seinem Konsum aussteigen kann, wird eine Grenze überschritten und wird es gefährlich. Er oder sie ist dann Opfer dieser Drogen. Umso mehr muss dann medizinische Hilfe einsetzen und nicht, wie wir jetzt beim Heroinvergabeprojekt befürchten müssen, generell verweigert werden.

Frage:
Auch Sie benutzen den Terminus von Opfern und T ätern. Wenn Sie von Opfern sprechen, dann meinen sie, so verstehe ich Sie, Suchtkranke, wenn sie von Tätern sprechen, dann vermute ich, dass Sie damit Drogenhändler meinen, die vom Handel mit der verbotenen Ware profitieren.

Henning Voscherau:
Nicht nur. Täter sind zum einen die Menschen in der Produktions- und Vertriebskette, zum anderen macht die Illegalität aus Abhängigen Täter, weil sie sich zur Finanzierung ihrer Sucht als Dealer betätigen. Auch dies würde durch die Medizinalisierung gelöst.

Frage:
Handeln nicht auch die Opfer eigenverantwortlich, so dass man sich in Phasen, in denen sie nicht willens sind, ihren Lebensentwurf zu ändern, mit ihren Konsumgewohnheiten einfach arrangieren muss?Henning Voscherau:
Ein in die Abhängigkeit abgerutschter Mensch, der nicht aus freiem Willen aussteigen kann, handelt eben nicht eigenverantwortlich. Der Beginn mag Neugier oder Vernügungssucht sein, hat der Suchtmechanismus aber erst eingesetzt, überschreitet der User die Opferschwelle.

Frage:
Und muss man den sogenannten Tätern nicht zubilligen, dass sie letztlich auch nur unternehmerischen Prinzipien folgen und nur Produkte hoher Nachfrage und auf Grund der Kriminalisierung mit entsprechenden Profitmargen verkaufen?

Henning Voscherau:
Das ist eine treffende Beschreibung der Realität, zubilligen kann ich den Personen das aber nicht. Sonst müsste man dies den osteuropäischen Zuhältern und ihrem Handel mit Frauen auch zubilligen.

Frage:
Ein Problem, das in der Öffentlichkeit kaum thematisiert wird, allenfalls wenn mal wieder Prominente dabei ertappt werden, ist der Kokainkonsum. Auch hier gibt es ein breites Spektrum an Konsumenten. Eine Minderheit hat erhebliche Probleme damit, insbesondere mit dem Rauchen und dem Injizieren von Kokainprodukten. Diese Konsumenten zählen zu den Elendsten der Strassenszene. Eine spezielle Kokain-Substitutionsbehandlung ist derzeit nicht möglich. Wie soll die Gesellschaft Ihres Erachtens mit diesen Konsumenten umgehen?

Henning Voscherau:
Als ich mich vor vielen Jahren mit Experten der New Yorker Drogenszene dar über unterhielt, hatten die auch kein Rezept. Ein Problem ist, dass Kokainderivate eine extreme Neigung zu Gewalt bewirken können. Ein weiteres ist die fehlende Möglichkeit der Substitution. Es gibt zurzeit kein Patentrezept, jedenfalls ist mir keines bekannt, auch ein akzeptierender Ansatz ist hier schwer vorstellbar.

Frage:
Was hat sie dazu gebracht, sich mit einer politischen Karriere nicht sehr zuträglichen Themen wie Heroinvergabe und Drogenpolitik wiederholt zu beschäftigen?

Henning Voscherau:
Ich habe in den letzten 17 Jahren keine pers önlichen Nackenschläge oder unsachliche persönliche Angriffe erlebt, nur weil ich eine Außenseiterposition in der Drogenpolitik eingenommen habe. Auch Widersacher – unter teilweise katholischem Einfluss – aus dem südlichen und südwestlichen Deutschland gewährten mir stets Respekt für meine Überzeugung und Argumente. Zwei Faktoren führten damals zu meinem Engagement: Zu Beginn der 90er Jahre nahm die Zahl der Heroinsüchtigen zu, in Hamburg sprachen manche Quellen von 10.000 Abhängigen. Es bildeten sich halboffene Drogenszenen. Ich bekam einen Brief von einem Schweizer, der die Zustände am Hamburger Hauptbahnhof beklagte, kurzum: das Thema war einfach virulent. Der zweite Punkt war, dass mit mir befreundete Menschen ihren Adoptivsohn an Heroin verloren hatten. Sie berichteten mir von den familiären Folgen. Beides hat mich veranlasst, vorurteilsfrei über die Drogenpolitik nachzudenken. Ich bin dann relativ schnell zu der Überzeugung gelangt, dass ein Angebots- und Betreuungssystem unter genau definierten gesetzlichen Rahmenbedinungen helfen könnte. Der Vater dieses Kindes ist interessanterweise bis heute nicht dieser Meinung.

 

 

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Die schwarze Welle – Der Kaffee- und Kaffeehaus-Boom

Aus dem Hanfblatt, Nr. 106, März 2007

Vom Filterkaffee zur Latte Macchiato: Die Kaffeekultur erlebt den Höhepunkt ihres Booms

Seit ein paar Jahren rollt eine schwarze Welle über Stadt und Land. Nachdem Kaffee lange Zeit ein Dasein als aus schnorchelnden Maschinen tropfende Plörre gefristet hat, ist der Wachmacher in neuer Aufmachung plötzlich wieder hip geworden. Espresso-Bars nach italienischem und Galao-Bars nach portugiesischem Vorbild, „Coffee to Go“ im US-Style, in den Privathaushalten mehren sich wuchtige und knuddelige Espresso-Maschinen, es gibt sogar Shops in Innenstadtlagen, die nur mit an Geschirrspüler erinnernden Aufmunitionierungs-„Pads“ für die neue Schnell-Schnell-Kaffeemaschinen-Generation ihren Umsatz generieren. Nicht nur in den noch gebliebenen traditionellen Kaffeeläden legt man wieder Wert auf exotische Sorten mit genauer Herkunftsangabe, selbst bei Tchibo und Arko versucht man sich in blümerantem Kaffee-Exotismus zu übertrumpfen. Aus dem Einheitsgesöff der 80er ist ein ausdifferenziertes Produkt geworden, inzwischen kommt der seltsame Spruch „eine Latte, bitte“ bei keiner Bedienung mehr schräg an. Fehlen nur noch Capuccino-Seminare in Volkshochschulen. Deutliches Zeichen des Booms ist nicht zuletzt das Vordringen der Starbucks-Kette.

Zentralste Lage in Hamburg, gegenüber dem Rathaus. Das Anstellen ist nervig, vor allem, wenn danach 3 Euro für eine Tasse koffeinhaltiges Heißgetränk gezahlt werden müssen. Aber halt, bei Starbucks geht es nicht um Koffein, sondern, wie immer in den Zeiten nachmoderner Produktverhökerung, um Lifestyle. Marvin Gaye im Hintergrund, der Kaffeemacher ruft meinen verflüssigten Lifestyle zusammen mit meinem Vornamen aus. Wie persönlich! Die Sessel sind bequem, ich versinke im Schaum. Irgendwo in weiter Ferne ahnt man den hippiesken Ursprung des Ladens.

Zwei Studenten aus San Francisco eröffneten 1971 in Seattle das erste Starbucks-Cafe, es ging ihnen um die Verbreitung der Genusskultur von Kaffee und Tee. Kommt zusammen, chillt aus, hängt ab in einer außeruniversitären Teestube, einem freakigen Gruppenraum. Das erste Logo von Starbucks zeigte noch eine barbusige Hippie-Nixe, das wurde im Rahmen der political correctness abgeschafft. Der Duft, die Musik, die Entspannung; in den USA war dieser Ansatz neu. Die Welt muss beglückt werden, klar, der heutige Inhaber Howard Schultz will Starbucks in so ziemlich jedes Land der Welt bringen. Das Ziel sind weltweit mehr als 20.000 Filialen, mehr als McDonald’s, er eröffnet jeden Tag drei neue Kaffeebars. In Deutschland sind es Anfang 2007 genau 57 Läden in 19 Städten.

Im Sessel neben mir eine etwa 35-jährige Frau mit Harry Potter-Roman. Gegenüber ein Typ mit Wollmütze und Tarnhose, Handy auf dem Tisch. Lang geübte Lässigkeit. Er trinkt Bionade aus einer Plastikflasche. Aus einer Plastikflasche! Wenn das nicht der Untergang des Abendlandes ist, dann weiß ich auch nicht. Aber wer kann schon in dieser Welt ohne Widersprüche leben. Die Fluktuation ist hoch, die Frau liest weiter. To stay, to go, Transit und Verweilen, der Kaffee wirkt.

Die Ziele von Starbucks waren hoch gesteckt. Noch 2002 plante man bis Ende 2007 über 180 Filialen in Deutschland. Der Plan geht nicht auf, das urbane Publikum trinkt nicht mit, die Kette stößt in Deutschland auf einen bereits etablierten Markt, der von Kaffeehäusern nach Wiener Vorbild, italienischen Espresso-Bar-Abkömmlingen und „szenigen“ Cafes besetzt ist. Auch für die anderen Ketten wie San Francisco Coffee Company und Balzac ist Old Germany ein hartes Pflaster. Leiser Marktführer war 2002 laut „Food Service“ Segafredo mit 81 Outlets und einer interessanten Strategie: Der italienische Kaffeeröster kooperiert mit zwei Tankstellennetzen (Agip und Esso) sowie mit der Mitropa, was Präsenz in Bahnhöfen ermöglicht.

In den privat geführten Kaffeehäusern ticken die Uhren anders. Hier hängt man entweder beim Milchkaffee ab oder gibt sich sein zerebral-gutturales Stößchen. Der Inhaber ist oft Kaffeefan aus Leidenschaft. Diese atmosphärischen Sitzcafes wollen wenig gemein haben mit der alten, an die Konditorei angehängte Oma-Stube. Durch Wärme und Gemeinschaft etablieren sie den „dritten Ort“, einen Platz zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Das ist nichts neues, sondern aus der Wiener Kaffehauskultur abgeschaut. Dort sollen sich manche Literaten ihre Post ins Cafe gebracht haben lassen. Heute bietet das moderne Cafe ebenfalls ein ideales Ambiente, gerade für die Scharen von halbkreativen Halbarbeitslosen, die auf das nächste Teilzeitprojekt warten und die vielen Mutter-Baby-Einheiten, die auf das nächste Kind warten.

Vati und die halbglücklichen Festangestellten ziehen die agressivere Variante des Koffein-Schubs vor. Sie stürzen den doppelten Espresso in der Mittagspause, das garantiert Arbeitswut. Der To-Go-Hype ist die bürgerliche Variante des Kokain-Booms, Starbucks dealt die Kaffee gewordene Globalisierung. Was verdrängt wird: Die alleinige Nutzung von Kaffee als gesüßtes Aufputschmittel zur Aufrechterhaltung der Arbeitsleistung fordert seine Opfer letztlich wahrscheinlich nicht viel anders als der Missbrauch anderer Stimulantien, wie Koka, Kath oder Ephedra. Irgendwie haben es die Kaffee-Vermarkter im Einklang mit dessen Konsumenten allerdings geschafft den Teufelstrank im Gegensatz zu anderen Anregungsmitteln als harmloses Stimulantium zu etablieren.

Die Marktforschung erforscht den Trend und gibt die Erkenntnisse weiter: Der Deutsche trinkt im Jahr über 150 Liter Kaffee. Gerade das junge, angemessen situierte Zielpublikum feiert in der Nacht, will aber am nächsten Morgen fit sein. Party-Gänger sind enorm koffeinaffin, am Morgen danach hilft die schicke Espresso-Schleuder, die als Prämie beim Kauf des Ipod mitgeliefert wurde. In Folge weiter Verbreitung ist Kaffee seit zwei Jahrhunderten aus dem Fokus drogenpolitischer Zwangsmaßnahmen geraten. Ein Umstand, der sich, wie sich an anderen Substanzen zeigen lässt, durchaus ändern kann.

Sultan Murad der IV. (1623-1640) verfolgte Kaffeetrinker mit Folter und Todesstrafe, da er die Kaffeehäuser für Orte des politischen Widerstandes hielt. In Hessen war ab 1766 eine 14-tägige Gefängnisstrafe für das Trinken von Kaffee vorgesehen. Das galt für Arme, Reiche durften Trinken, wenn sie einen Obolus in die Staatskasse zahlten. Friedrich der II. von Preußen erklärte ein Monopol auf die Einfuhr und das Rösten von Kaffee. Es wurden Kaffeeschnüffler eingesetzt, um das schon damals in der Bevölkerung beliebte Produkt zu entdecken. Seit zwei Jahrhunderten gilt Kaffee nun als versinnbildlichte Nüchternheit und Trockenheit der protestantischen Arbeitsethik, die To-Go-Variante ist letzter Ausfluss dieser Entwicklung. Es kann durchaus vermutet werden, dass Kaffee auch deshalb nach Definition der Weltgesundheitsorganisation nicht als Suchtmittel gilt, weil er die Arbeitsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft nicht zu beeinträchtigen scheint.

Von der viertelstündigen Anflutungsphase des Koffeins merke ich nichts, ich stehe bereits nach fünf Minuten in Schweiß und hacke Buchstabenfolgen in die Tastatur. Besonders kreativ fühle ich mich nicht, dafür ist die Atmosphäre bei Starbucks nicht so ganz mein Ding. Ab mit dem Fahrrad Richtung Karo-Viertel, dort, in einem unorganisierten Cafe ist es ruhiger. Vielleicht der bessere Zustand des Kaffee-Genusses: Außen steht die Zeit still und innen werkelt die sanfte Konzentration. Wie sagte der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar so schön: „Ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“

Wirkung und Dosierung

Koffein ist die weltweit am häufigsten konsumierte pharmakologisch aktive Substanz. Koffein (= Thein=Guaranin) in Reinform ist ein weißes, geruchloses Pulver, das von dem Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge 1820 erstmals aus Kaffeebohnen isoliert wurde. Eine starke Tasse Kaffee entspricht einer „vernünftigen“ Koffein-Dosierung (100 mg), die optimal wirksame Menge ist aber von Menschen zu Mensch unterschiedlich. Ein kleiner Espresso enthält circa 40 mg Koffein, eine Tasse Schwarztee bis zu 50 mg, Vollmilchschokolade rund 15 mg pro 100 g-Tafel, Halbbitterschokolade sogar 90 mg pro Tafel. Coca Cola bringt es auf rund 30 mg in der 330er Dose. Die maximale Konzentration im Blut wird 15-20 Minuten nach der Einnahme erreicht. Tee flutet langsamer an als Kaffee, wirken tut die Substanz dann 1-4 Stunden, je nach Stoffwechsel des Konsumenten. Bei Menschen liegt die tödliche Dosis bei ungefähr 10 Gramm Koffein, also etwa 100 Tassen Kaffee.

 

Ein weiterer Beitrag aus dem Hanfblatt zum Thema:
Extrakt eines Koffein-Junkies. Eine Koffein-Topologie

 

 

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Koffein – Ein Streckbrief

Aus dem Hanfblatt, Nr. 106, März 2007

Extrakt eines Koffein-Junkies

Eine subjektive Kurzbilanz der Möglichkeiten und internationale Topologie des beliebten Wachmachers

Ja, ich bin koffeinabhängig, und das ist auch gut so. Ja, ich konsumiere Koffein, auch wenn mich die nervositäts- und gereiztheitsfördernde Wirkung gelegentlich ebenso nervt, wie die sich vehement artikulierende Darmperistaltik, die Rumpelkammer im Magen, Sodbrennen und saures Aufstoßen, das ungeile Körpergefühl, die schlechte Durchblutung von Haut und Extremitäten, die Stauung in den Krampfadern, die Blähung der Hämorrhoiden, der Kopfdruck bis hin zum Kopfschmerz, die vielen unangenehmen Nebenwirkungen, die bisweilen auftreten können. Ja, manchmal erreiche ich durch die Einnahme überhaupt nicht, was ich erzwingen will, werde schlapp und todmüde anstatt aufgeputscht, laberfreudig, konzentriert und wach. Ja, ich habe Angst vor dem Entzug, ein oder zwei Tagen bohrenden Kopfschmerzen und einem tagelang anhaltenden Gefühl der Mattigkeit und dem wiederkehrenden Gedanken, jetzt was mit Koffein, das wärs, und die kommende Zeit bin ich gerettet, besonders morgens und mittags und nachmittags und am frühen Abend. Ja, wenn ich es mal zur Abstinenz schaffe, dann baue ich regelmäßig meine von langer Hand geplanten Rückfälle. Ja, ich war in den letzten zwei Jahrzehnten nie länger als ein ganzes Jahr koffeinabstinent. Oha, und das mach mir erst mal einer nach.

Ich kenne praktisch keine Koffeinabstinenzler. Denn Koffein ist in zahlreichen Pflanzen und Produkten enthalten. Und man kann sie jederzeit konsumieren ohne strafrechtliche Konsequenzen dafür befürchten zu müssen, auch auf der Arbeit oder im Straßenverkehr. Kein Lebensabschnittspartner zwingt mich mit meiner Tasse Koffein-Dröhnung auf den zugigen Balkon. Niemand schnappt mich und führt mich in Handschellen ab, wenn ich von meinem Koffein-Dealer ein Pfund fein gemahlenen Stoff nach Hause trage um mir einen Schuss (Espresso) zuzubereiten. Überall kann ich problemlos Nachschub besorgen, notfalls an der Tanke. Ja, als Koffein-Junkie bleibt es allein mir überlassen, was ich wann, wo und wie zu mir nehme. Herrliche Zeiten, wurden doch einst Koffeinkonsumenten eingesperrt, verstümmelt oder umgebracht. Wobei sich schon wieder mancherorts so etwas in dieser Richtung herauszukristallisieren scheint, wenn es um die Reinsubstanz, den Stoff auf dem das aufgeregte Zittern basiert, das Koffein, geht. In der Volksrepublik China, dem Land des Tees und in Folge des lokalen Wirtschaftswunders neuerdings auch begeisterter stylischer Kaffeetrinker, wird das reine Koffein als gefährliche Droge klassifiziert.

Ein Potential für Denunziatoren bietet sich also auch wieder beim Koffein. Bis dato zapft man in erster Linie Steuern aus der Leidenschaft für den banalen zerebralen Treibstoff des materialistischen Arbeits- und Konsumalltags, zu dem sich die einst in rituellen Kontexten mit spirituellen oder das Sozialleben fördernden Intentionen eingenommenen Koffein-Drogen entwickelt haben. Und ich bin einer von Vielen, einer unter Gleichen, einer von Euch. Auch wenn wir selbst untereinander den Grad unserer Abhängigkeit gerne leugnen, wissen wir doch im Grunde alle Bescheid: Ohne unser Käffchen, unseren legalen Kick, unser Koffein-Äffchen, wollen und können wir nicht sein. Warum auch? Man gönnt sich doch sonst nichts! Jeder hat seine individuelle Suchtgeschichte. Mit Muttermilch fing alles an.

Mate (Ilex p.) im Supermarkt Salta, Argentinien, 2008
Mate (Ilex p.) im Supermarkt Salta, Argentinien, 2008

 

Ich weiss noch, wie ich von einem Klassenausflug aus dem Hamburger Freihafen meine ersten grünen Kaffeebohnen mitbrachte. Die röstete ich zu Hause im Topf auf der Herdplatte, mahlte sie mit Omas alter Kaffeemühle, dann wurde frisch aufgebrüht und -voila- mein erster Filter-Kaffee war fertig, zu meinen Geschmacksknospen zwar nicht gerade zärtlich, aber in seiner natürlichen Vollkommenheit unvergeßlich, der Beginn einer großen Leidenschaft. Filter-Kaffee ist meines Erachtens immer noch die beste Art und Weise den Charakter eines guten Arabica-Kaffees zu erkennen. Man unterscheidet nach Ländern und Provenienzen, teilweise auch nach Plantagen. Aus vielen Tropenländern kommen exzellente Kaffees, besonders aus Guatemala, Kolumbien, Äthiopien und Indonesien. Zu den auf Grund ihrer geringen Produktionskapazität raren und wegen ihrer hohen Qualität besonders nachgefragten und daher teuren Kaffees zählen der Jamaica Blue Mountain, ein geradezu idealer Kaffee, der von der Insel Kona (Hawaii), eher sanft und abgerundet, Kaffee von den Galapagos-Inseln (Ecuador) und St.Helena.

Seit dem Kaffeespezialitätenboom in den Neunzigern tauchen immer neue Spezereien auf. Der von wilden Kaffeebäumen stammende Waldkaffee aus Äthiopien ist eine dieser interessanten Entdeckungen. Was leider die Ausnahme bleibt, sind ökologisch verträglich angebaute und fair gehandelte Kaffees. Initiativen für diese Richtung sind unbedingt zu unterstützen. Diese sollten aber nie die Qualität aus dem Auge verlieren. Geschmack und Wirkung müssen einfach optimal sein. Ein schlechtes Gewissen allein ist kein guter Konsumratgeber und nichts worauf man auf Dauer verbesserte ökonomische Verhältnisse aufbauen kann.

Wenn Kaffee wirkungstechnisch das „Crack“ unter den Koffein-Drogen ist, dann ist Guarana das „Speed“. Eine sanftansteigende und relativ langanhaltende Wirkung versprechen die gerösteten und gemahlenen Samen dieser brasilianischen Regenwaldliane (Paullinia cupana). Ein Teelöffel des hellbraunen feingemahlenen Guarana-Pulvers mit Bourbonvanille-Rohrohrpuderzucker vermengt und in einem Becher kalter Bio-Vollmilch eingerührt bilden ein köstliches Getränk. Beim Guarana gibt es aber leider erhebliche Qualitätsunterschiede. Gutes Guarana ist nicht zu dunkel geröstet, riecht nicht muffig oder gar schimmelig und schmeckt auch nicht erdig oder holzig, sondern leicht bitterlich scharf mit einem ganz eigenen leckeren Aroma. Auch der Wirkungsbogen ist wie beschrieben, bei schlechteren Qualitäten jedoch deutlich kürzer und entweder schwächer oder nervöser. Ich muss zugeben, dass ich trotz jahrelangen Konsums selten überzeugende Qualitäten bekommen habe. Eine Probe einer Kosmetikzubehörfirma, die für mich behördlich analysiert wurde, enthielt gar ein ganzes Potpourrie an Schimmelarten. Der Dilettantismus bei Einkauf und Lagerung hat zu einem nachlassenden Ruf beim Guarana geführt.

Ende der Achtziger marktschreierisch angepriesen und überteuert verkauft, findet man Guarana jetzt häufiger als Bestandteil in Lebensmitteln oder in Pharmapräparaten als als Reinsubstanz zur eigenständigen Getränkezubereitung, traurig eigentlich. Brasilianische mit Guaranaextrakten aromatisierte Limonaden stellen übrigens schon lange eine passable Alternative zu Cola-Getränken dar. Man denke zum Beispiel an „Brahma-Guarana“ oder „Guarana-Antarctica“, die 2006 die schlappe brasilianische WM-Fußballmannschaft sponsorten.

Aus Südamerika stammt auch Mate, ein Heißwasseraufguß der getrockneten oder gerösteten Blätter des Mateteebaums (Ilex paraguariensis). Traditionell wird Mate mit Lippenverbrennungsrisiko für Ungeübte durch ein Metallröhrchen mit eingebautem Sieb, der Bombilla, aus einem kleinen Kalebassenkürbis getrunken. Diese Paraphernalia stellen beliebte Mitbringsel für Reisende zwischen Südbrasilien und Argentinien dar. Trotz postulierter Gesundheitsvorteile und wiederkehrender Werbekampagnen hat sich das zwar koffeinhaltige aber nicht besonders aufregend schmeckende Getränk keinen nennnenswerten Markt jenseits der Reformhäuser erobern können. In Teemischungen taucht es dagegen regelmäßig auf, und mit dem erfrischenden „Club-Mate“, einem zuckerhaltigen Kaltgetränk auf Mate-Basis steht Feierwütigen eine angenehme Alternative zu Cola-Getränken zur Verfügung.

Ähnlich von Wirkung und Geschmack, aber wesentlich obskurer ist Guayusa. Die Blätter des Guayusa-Baumes (Ilex guayusa) kann man zu kleinen Bündeln zusammengefasst in Kräutergeschäften in Ekuador erwerben. Von einem Volksgenussmittel kann man bei Guayusa allerdings nicht sprechen. Es handelt sich um ein Heilkraut, dass von diversen indigenen Stämmen der Region rituell eingenommen wird. Dabei wird auch die in größerer Menge getrunken brechreizbefördernde Wirkung zur inneren Reinigung genutzt.

Jenseits seines Vorkommens praktisch unbekannt ist Yoko, nein nicht Ono, sondern Yoco, die Rinde der Stengel der in Kolumbien und Ekuador spriessenden und mit Guarana verwandten Dschungel-Liane Paullinia yoco. Das Besondere an Yoko ist, dass aus der Rinde ein Kaltwasserauszug bereitet wird. Verwendet wird das wildwachsende frische Yoco als morgendliches Aufputschmittel. Dabei stellen die von Yoco begeisterten Stämme einen anscheinend besonders viel Koffein enthaltenden Auszug her. Die Liane soll sehr langsam wachsen und dürfte sich somit einer kommerziellen Nutzung widersetzen.

Die Edelste unter den Koffeinpflanzen ist der Tee (Camellia sinensis). Der aus Südchina stammende Baum, der über tausend Jahre alt werden kann, wird im kommerziellen Anbau in der Regel so zusammengestutzt, dass man ihn gemeinhin nur als Teestrauch kennt. Auf Bergen angelegte Teeplantagen gehören zu den landschaftlich reizvollsten Monokulturen. Wie aber auch bei Kaffee und Kakao ist die Geschichte des Teeanbaus in weiten Teilen und in vielen Regionen bis zum heutigen Tag auch eine Geschichte der Ausbeutung von Mensch und Natur. Tee ist ohne Zweifel die vielseitigste der Koffeindrogen. Durch verschiedene Verarbeitungsmethoden gibt es ein breites Spektrum an Produkten mit unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen und auch Koffeingehalt. In Ostasien, ausgehend von China über Korea, aber zur Perfektion verfeinert in Japan, hat sich eine einzigartige Teekultur entwickelt, die den Genuss zur spirituellen Erfahrung werden lassen kann.

Die größte Vielfalt des Tees als Produkt lässt sich zweifelsohne in der Volksrepublik China erfahren, vom bei hohen Qualitäten jahrelang lagerbaren und nur schwach Koffein-haltigen Pu-Erh-Tee aus Yunnan über weiße, gelbe, rote und schwarze fermentierte Tees bis zu legendären Grüntees, wie den leider wie allgemein verbreitet meist mit Pestiziden gespritzten berühmten Longjing-Tee vom Westlake, der frisch geerntet in heißen Pfannen getrocknet wird, und dessen bessere Qualitäten bereits vor Ort 60 Euro pro 100 Gramm kosten. 100 Gramm der Spitzenblätter einiger alter kaiserlich ausgezeichneter Longjing-Teesträcher wurden 2005 gar für knapp 14.500 Euro ersteigert. Für 3 Gramm über 60 Jahre gelagerten Pu-Erh-Tee zahlte ein chinesischer Liebhaber knapp 1.000 Euro. Hier kennt die Narretei also genauso wenig Grenzen wie unter Weinfreunden. Wer wirklich stimuliert werden möchte, sollte qualitativ möglichst hochwertigen Grüntee trinken oder sich auf halbfermentierten Oolong-Tee einlassen. Taiwan bietet exzellente Qualitäten. Relativ viel dieses Tees wird mehrfach hintereinander aufgegossen, aber immer nur für kurze Zeit ziehen gelassen. So erhält man ein maximales Geschmackserlebnis und dabei eine ordentliche Dosis Koffein. Die aufgegangenen Blätter sind obendrein ein Augenschmauß und lassen weitere Schlüsse über die Qualität zu. In der Regel gelten die früh im Jahr gesprossenen obersten Blätter mit Triebspitze als Topqualität. In den auf Massenproduktion von Schwarztee ausgerichteten Ländern wie Sri Lanka hat man vor Ort dagegen oft Schwierigkeiten auf die Schnelle wirklich gute Qualitäten zu finden. Das Meiste geht zur Devisengewinnung in den Export. Wie bei Kaffee bleiben oft nur schlechtere Qualitäten im Land.

Noch deutlicher kann man dies beim Kakao erfahren. Dieser aus Mittelamerika stammende Baum (Theobroma cacao) liefert Früchte mit einem leckeren weißen an Litschis erinnernden aber schleimigen Fruchtfleisch, das den einheimischen Kindern in einer Plantage auf Java, durch die wir in den Achtzigern spazierten, wohl mundete. Was man allerdings aus den darin enthaltenen Kakaosamen in den reichen Ländern herstellt, nämlich Schokolade, das kannten sie nicht. Das was damals an Schokolade in diesen Anbauländern erhältlich war, war ein äußerst bescheidenes und für einheimische Verhältnisse sehr teures Angebot importierter harter tropentauglicher Ware für westliche Reisende. Man stelle sich derartige Verhältnisse einmal für den Weinanbau am Rhein vor. Andererseits hat dagegen Mexiko als Heimatland des Kakaos eine richtige Trinkschokoladenkultur mit spezialisierten Geschäften, die köstlich nach geröstetem Kakao duften, und die zu erkunden sich unbedingt lohnt. Man vergleiche ihre Produkte aber nicht mit der mittlerweile exaltierten Schokoladenspezialitätenkultur, wie sie sich seit den Neunzigern besonders in Mitteleuropa etabliert hat. Es bringt sicherlich Spaß auch im Kakao immer neue abenteuerliche Geschmacksrichtungen zu entdecken, aber ob sich dieser Trend langfristig wird halten können, bleibt abzuwarten. Schokoladengeniesser sollten diese Welle, die bis in den letzten Supermarkt geschwappt ist, ruhig auskosten. Der Koffeingehalt von Schokolade ist gering. Wenn man allerdings Koffein-abstinent lebt und dann eine Tafel Bitterschokolade verspeist, wird man durchaus einen Effekt vergleichabr einer Tasse Tees oder Kaffees verspüren können. Leider bekomme ich von manchen gerade auch teuren Bitterschokoladen ausgeprägte migräneartige Kopfschmerzen.

Die letzte bedeutende koffeinhaltige Pflanze ist der Kola-Baum (Cola ssp.). Seine frischen rotbraunen oder weißen Samen spielen im kulturellen Leben Westafrikas eine wichtige Rolle. In afrikanischen Geschäften kann man die frisch eingeflogenen „Kolanüsse“ („Colanuts“) bisweilen günstig kaufen. Man muss sie dann entweder baldigst kauen (ein Viertel bis ein Drittel einer Samenhälfte dürfte fürs Erste genügen), zügig trocknen oder in Schnaps einlegen um sie haltbar zu machen. Ein Enzym sorgt für schnelle Rotbraunverfärbung an der Luft. Auf Grund des Feuchtigkeitsgehaltes sind die Samen sehr schimmelanfällig. Im getrockneten Zustand gilt das schon für Guarana Gesagte. Vorsicht vor Schimmel und dergleichen! Kolanüsse enthalten zwar ziemlich viel adstringierende Gerbstoffe und bedeutende Mengen des bitteren Koffeins, haben aber auch korrekt verarbeitet ein charakteristisches Aroma. Sie dürfen nicht muffelig oder pilzig riechen oder schmecken. Nicht umsonst werden sie seit über hundert Jahren zum Aromatisieren von Erfrischungsgetränken benutzt. Der Koffein-Gehalt von Kola-Getränken und den meisten Kola-Zubereitungen (Schokakola, Kola-Dallmann usw.) basiert allerdings auf künstlich zugesetztem Koffein. Würde man ganz auf Kola-Samen setzen, wäre das Produkt auf Grund der einzusetzenden Menge möglicherweise ungenießbar. Einer meiner besten Liköre basierte auf frischen weißen und roten Kolasamen in Wyborowa-Wodka fein vermahlen, mit Bourbon-Vanille angesetzt und ziehen gelassen, dann abgefiltert und mit Ahorn-Sirup verfeinert. Lange Zugzeiten und diverse Nachfiltrationen nahmen ihm seine Gerbstofflast, aber beließen das charakteristische Aroma und eine Up-up-in-the-sky-Koffein-Potenz bei einer wunderbar klaren rotbraunen Farbe.

Wer nach Koffein giert, kann mittlerweile auf eine enorme Palette an angereicherten Bonbons, sogenannten „Energy“-Getränken und medizinischen Präparaten, die den schnellen Kick versprechen, zurückgreifen. Percoffedrinol (50 mg, bis Anfang 1984 noch zusätzlich mit 13 mg Ephedrin HCl pro Tablette!) und Coffeinum-Tabletten (200mg pro Tablette) sind reine Koffein-Präparate. An Koffein führt kein Weg vorbei. Und wer sich fragt, was Koffein aus uns macht, der greife einmal zu dem amerikanischen Kult-Comic „Too Much Coffee Man“ von Shannon Wheeler. Beissender und pointierter kann man das neurotisch-wahrhaftig-wahnhaftige Kreisdenken eines archetypischen Koffein-Addicts wohl kaum darstellen.