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Elektronische Kultur

Web 2.0

Telepolis, 07.06.2006

Lass das doch die Community machen

Mit Web 2.0 spielt das Kollektiv wieder eine größere Rolle im Internet. Gleich mehrere Branchen wittern das große Geschäft

Kaum jemand kann momentan das Schlagwort vom „Web 2.0“ ignorieren. Vor einigen Wochen tummelten sich die Zweinuller-Protagonisten beim „Next 10 Years“-Kongress ( Nach der Party ist vor dem Boom – oder doch dem Kater? (1)), jetzt trafen sich Kommunikationsexperten zum Hamburger Dialog (2) im Kongresszentrum der Stadt. Auch hier waren die Erwartungen an die „Neuerfindung des Internet“ groß.

Blogger, Bookmarker, Filmtauscher und Fotot-Communities: Es scheint, als würden plötzlich alle Besitzer eines Modems als Ultra-Kreative wiedergeboren. Die Zahlen sind tatsächlich beeindruckend. Alleine 250.000 Blogs in Deutschland, in Frankreich über 3,5 Millionen dieser Tagebücher. Die Blogger-Suchmaschine Technorati (3) scannt aktuell über 42 Millionen Blogs weltweit, Tendenz weiter steigend. Wie viele davon regelmäßig gepflegt werden, ist unklar. Fest steht: Blogger sind jung, die Hälfte aller Schreiber ist zwischen 13 und 27 Jahren alt. Bekannt geworden durch Krisenjournalismus wird Bloggen heute zum alltäglichen Kommunikationsmittel, wobei die Selbstreferentalität riesig ist. Blogger verweisen gerne auf andere Blogger.

Versorgung einer fragmentierten Verkaufslandschaft

Nun entdecken die Unternehmen die Weblogs und Communities. Es geht um Imageförderung, um Unternehmenskultur und um Maßnahmen der Kundenbindung. Beim Computer- und Softwarehersteller Sun Microsystems bloggen 3.000 der 32.000 Mitarbeiter öffentlich einsehbar. Wichtige Interna bleiben natürlich außen vor. Wer diese ausplaudert, so wie Mark Jen (4), wird entlassen. Der ehemalige Microsoft-Mitarbeiter hatte bei Google angeheuert und in deren Blog fröhlich auf seinen neuen Arbeitgeber gemotzt.

Das dürfte Charles Fränkl nicht so schnell passieren. Seit kurzem bloggt (5) der CEO von AOL-Deutschland über das Wetter in Hamburg. Die Firma Frosta hat einen Unternehmensblog (6), in dem Mitarbeiter über die Ereignisse der Firma berichten sollen. Aber nach anfänglicher Euphorie scheint das Projekt einzuschlafen. Eine Gefahr, die in anderen Bereichen der Web 2.0-Sphäre mit dem Wort „Konsolidierung“ bezeichnet wird.

Am liebsten ist es aber den Unternehmen, wenn ihre Marke mit der Vertrauenswürdigkeit almagiert, die firmenexternen Bloggern zugeschrieben wird. Bei Vespaway (7) treffen sich Vespa-Fans und beglückwünschen sich zu ihrem Hobby. Traum aller Firmen ist es ein aktives Blog an die eigene Website zu binden. Derweil steigt die Popularität einiger Blogger. Opel engagierte jüngst vier solcher „A-Blogger“, um über ihre Erlebnisse mit einem zur Verfügung gestellten Astra zu berichten (8). AMD sucht nun Notebook-Blogger (9). Die Grenze zwischen klassischem Journalismus und Blog-Presse verwischen.

Es gibt viele Beispiele, ob daraus allerdings eine Schule wird, die sich nachhaltig ökonomisch nutzen lässt, ist noch offen. Unter den Top-Ten der deutschen Blogs befinden sich Perlen, die weit unter 1.000 Leser täglich haben. Ketzerisch wurde auf dem „Hamburger Dialog“ gefragt, ob eine Flugblattaktion in der Innenstadt nicht mehr Reichweite hätte.

Social Commerce

Weiter Hoffnungshorizonte zeigen sich: Statt großer E-Commerce-Portale sollen kleine Internetseiten für eine fragmentierte Verkaufslandschaft sorgen. Eines der Beispiele, das dies funktionieren kann, ist die Firma „Spreadshirt“. Jeder kann einen eigenen Shop eröffnen und wird dafür an den Verkaufserlösen von bedruckten T-Shirts beteiligt. Heute soll es bereits 150.000 Shop-Partner geben, Umsätze in der Region von 10 Millionen werden akklamiert. Das Schlagwort hierfür: „Social Commerce“, es soll den Übergang vom Massenmarkt zum Nischenmarkt beschreiben.

Was daran neu ist? Vielleicht wenig, viele haben klein angefangen, wurden groß und drängen nun kleinere Firmen aus dem Wettbewerb. Bis jetzt spricht wenig dafür, dass T-Shirt-Versender die anhaltende Konzentration der Wirtschaftskraft auf multinationale Konzerne aufhalten. Auch in Zeiten von Web 2.0 erwirtschaften unter ein Prozent der Unternehmen 75 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Es dürfte interessant sein zu beobachten, welche Konzentrationsprozesse sich im Rahmen der Blogger- und Community-Sphäre zwangsläufig ergeben werden.

Ohne Konkurrenz in Deutschland ist Open BC:www.openbc.com/ (10), eine kostenpflichtige Kontaktbörse für Geschäftsfreaks. Was zunächst aussah wie ein Treffpunkt für ehemalige Klassenkameraden, entwickelte sich zu einer ernsthaften Geschäftanbahnungsplattform. Der Club rechnet dieses Jahr mit einem Umsatz von mindestens 10 Millionen Euro. Über das Knüpfen von Geschäftskontakten hinaus berichtet inzwischen fast jeder Sechste von Geschäftsabschlüssen mit Open BC-Kontaktpartnern. Der Gründer Lars Hinrich hält in trockener Manier die Bälle trotzdem gerne flach. Auch er spricht von einer „Konsolidierung der Web 2.0-Branche in den nächsten zwei bis drei Jahren“.

Das Aal-Prinzip

Männer wie Andreas Weigand, früher Manager bei Amazon, hoffen gleichwohl weiter. Er prophezeite auf dem Web 2.0-Kongress eine noch stärkere Fragmentierung, „und zwar auf Angebots- wie auf Nachfrageseite“. Der entscheidende Satz, der die Geisteshaltung hinter der ökonomisch forcierten Web 2.0-Aufregung offenlegte, fiel kurz darauf. „Ich vertraue auf das ‚Aal-Prinzip'“, erklärte Weigand dem staunenden Publikum: „Andere arbeiten lassen.“

Aus dieser Sicht ist die Community nur eine Zielgruppe, deren soziale Kohäsion und geistiges Potential ausgenutzt werden soll. Warum, so die rhetorische Frage, sollen wir uns die Finger wund und Kassen leer werben? Zudem an eine Generation, die zunehmend werberesistent ist? Eine Generation, die eventuell immer weniger bereit dazu ist, den Versprechen der glatten Hochglanz-Körper zu glauben? Eine Generation, die selbst hinter anarchisch aufgemachten Spots die Kinderarbeit in Pakistan ausmacht?

Nur daher, so der Verdacht, sind die Vorstandsetagen zur Zeit so sehr vom Begriff der „Communities“ erregt. Deren eigentlicher Zweck, nämlich der Austausch von Wissen und die gemeinsame Identität, wird zur neuen Variable in der Kundenansprache. Und so kommt es, wie so oft im Internet: Eine soziale Idee wird monetär umgemünzt und verliert nicht nur den Charme, sondern eventuell auch ihr Gewicht.

Mix it!

Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Internet mit Web 2.0 tatsächlich eine grundlegende Veränderung ins Haus steht. Private Web-Applikationen greifen auf professionelle Datenbanken zu, die Grenzen zwischen Web- und heimischer PC-Anwendung zerfließen, es wird gemixt und gemasht, plötzlich kann hier jeder mit jedem. Blogs sind nicht nur Tagebücher in HTML, sondern an komplexe Datenbanken und Webservices angeschlossen. Durch Tagging und Trackbacklinks verteilen sich Modifikationen am Blog blitzschnell und auch weit. „Suchmaschinen lieben Blogs“, sagt denn auch Stefan Keuchel, Pressesprecher von Google Deutschland.

Die zugrunde liegende Technik ist für viele Blogger ein Rätsel. Wo früher Nerds im Code wuselten, mit einem Editor HTML-Dateien schrieben, über ftp auf einen Server schoben und ­ wenn es ganz schlecht lief ­ auch noch über Telnet und chmod-Befehle Zugriffsrechte regeln mussten, kann heute Jedermann mit grundlegenden Tastaturbedienungsfertigkeiten seine Ideen grafisch proper aufbereitet ins Web stellen. Das ist einerseits ein unbedingtes Mehr an Beteiligung. Auf der anderen Seite geben damit immer mehr User ihre technische Kompetenz an Software-Hersteller ab. Nur gut, wenn Codes der GPL (11) unterliegen.

Firmen wie Amazon haben den Trend zu Web 2.0 schon früh erkannt und ihre Schnittstellen für Webuser offen gelegt. Seither zeigen sich immer mehr Firmen bereit, den Kunden als Kompagnon anzusehen. Aber während Bloggen einfach ist, gestaltet sich die Anbindung über APIs (Application Programming Interfaces) technisch anspruchsvoll. Auch das mit Web 2.0 eng zusammenhängende AJAX ist kaum ein Feierabend-Hobby und verpflichtet beiden Seiten zum Einsatz neuester Technologien und Clients. Von der mangelnden Barrierefreiheit mal ganz zu schweigen.

Web 2.0-Blase?

Seit 2000 weiß man, es ist Vorsicht vor allzu euphorischen Erwartungen geboten, vor allem dann, wenn der Satz fällt: „In Amerika sind sie da schon viel weiter.“ Dies wurde vor dem Platzen der Internetblase ebenfalls wie ein Mantra wiederholt ­ mit den bekannten Folgen.

Gleichwohl hört man den Verweis auf die USA in den letzten Monaten häufig, nicht zuletzt, weil einige der Großkopferten auf Einkaufstour gingen. Yahoo erwarb zunächst für 20 Millionen Dollar den Bildersammeldienst Flickr (12), später für 30 Millionen Dollar die Online-Bookmarksammlung Del.icio.us (13). Beides mal wieder Portale, die aus purer User-Lust an Gemeinsamkeit entstanden waren. Um den Zug nicht zu verpassen sackte Rupert Murdoch für satte 500 Millionen Dollar MySpace (14) ein. 72 Millionen User, davon ein Fünftel unter 18 Jahre alt, wissen seither nicht so Recht, ob sie sich gut behütet oder vereinnahmt fühlen sollen.

Aber im Gegensatz zum Zusammenbruch im Jahre 2000 soll dieses Mal alles anders sein. Denn, so die Auguren, dieses Mal wird Funktion und nicht Hoffnung verkauft. Tatsächlich ist man schlauer geworden, heute zählen Unternehmensgewinne mehr als windige Geschäftsmodelle. Und eine große und möglichst aktive Community soll Unternehmen helfen, Geld in die Kassen zu spülen. Ausgangspunkt aller Konzepte ist ein verändertes Medienverhalten gerader jüngerer Menschen. Diese kaufen sich nicht einmal mehr eine Lokal- oder Tageszeitung, um die U-Bahnfahrt zu überstehen, sondern informieren sich lieber zu Hause oder sonstwo: und zwar im Internet.

Medien-Imperien

Das Kerngeschäft der Medienunternehmen stagniert. Mit Grauen beobachten Zeitungsverleger das Absinken ihrer Auflage. Und Bücher und DVDs als Abkopplung seien, wie es auf dem Hamburger Dialog formuliert wurde, „als Thema ziemlich ausgelutscht“.

Die Macher von „Bravo“, „Bym“ und „Mädchen“ überlegen fieberhaft, wie die mobile Generation zu fassen ist. Die Lösung: Der Nutzwert der Inhalte im Internet muss den Grundstein für redaktionelle und anzeigengetriebene Erlösmodelle legen. Da passt es, dass die Selbstdarstellungsgesellschaft aufgrund einfacher technischer Tools neu im Netz angekommen. Die Blogs sind sicheres Zeichen einer Emanzipation der User, der nicht mehr nur passiver Rezipient, sondern auch Produzent sein will. Verlage, Unternehmer, Konzerne: Alle träumen von einer Community, deren Mitglieder ihre Homepage mit sprudelnden Ideen flutet. Sanfte Kritik würde sogar akzeptiert werden, auch sie ist dann natürlich Teil der „offenen Unternehmenskultur“. Egal, solange Blogs und Foren die emotionale Nähe verstärken. Dem Schnapshersteller Jägermeister beispielsweise ist das gelungen. Aktuell sollen in der Jägermeister-Community 50.000 User registriert sein.

Teile der Branche gehen von einer völligen Ablösung des klassischen Sender-Empfänger-Modells aus. Gemischt mit dem Umstand, dass sich viele Menschen die komplexe Welt am liebsten von Freunden und Bekannten erklären lassen, werden einige der Online-Communities zu den neuen „Gelben Seiten“ erkoren. Auf diesen Hype setzt auch Qype (15). Hier können registrierte Nutzer lokale Tipps geben und nehmen. Restaurants, Werkstätten, Friseure: Erna aus Wuppertal empfiehlt ihren Frauenarzt, Dieter aus Wanne-Eickel seinen Klempner. Stephan Uhrenbacher, Gründer von Qype, behauptet: „Die Ära der Massenmedien wird von der Ära der persönlichen und partizipativen Medien abgelöst.“

Bei Burda, Springer, Holtzbrinck und Bertelsmann hat man die soziologischen Studien zum veränderten Gesellschaftsbild gelesen ­ und will nun reagieren. Denn Gruppen definieren sich heute weniger als früher über ihre soziale Herkunft, sondern mehr über gemeinsame Interessen. Für Medien- und Werbemacher sind daher die Daten der bislang primär soziodemographischen erfassten Zielgruppen weniger relevant. Kunden können heute durch ihr hinterlegtes Nutzerprofil viel direkter angesprochen werden. Die auf Homepages werbenden Unternehmen kommen so dicht wie nie an ihre Zielgruppe heran, das One-to-One-Marketing ist keine Fiktion mehr. Und der Konsument macht sich freiwillig gläsern.

Der „Heavy-Web-User“, so Sven Dörrenbächer von Mercedes, sei mit klassischer Werbung schwer zu erreichen. Der Autohersteller versuche daher sich dem „digitalen Lifestyle“ seiner zukünftigen Kunden anzupassen. Sein Credo im Kongresszentrum in Hamburg: „Keiner braucht Werbung, jeder braucht Identifikation.“ Mit anderen Worten: Im Rahmen gegenseitiger Annäherungen verpasst der Konzern den Community-Mitglieder über Mixed-Tapes (16) die erste homöopathische Dosis Mercedes. Sie sollen, so Dörrenbächer, zu „brand advocates“ werden.

So sind Communities kein direktes Geschäftsmodell, sondern Maßnahmen der Vertrauens- und Aufmerksamkeitsförderung. Der Erfolg ist dabei von Markenbekanntheit und dem Mehrwert für das Community-Mitglied abhängig. Für Unilever flirtete der „Darf-Coach“, Bayer rief zu „Rettet-die-Liebe“ auf. Und Burda hat sich den Begriff der „Media Communities“ bereits schützen lassen. 2005 wuchs der Umsatz des Unternehmens im Internet um über 36 Prozent auf 174,3 Millionen Euro. Daran soll angeknüpft werden. Die Zeitschrift Bunte startet in Kooperation mit T-Online die Aktion Starshots (17). Jeder kann hier Videos und Fotos veröffentlichen.

Hinter den Mühen steht die schlichte Erkenntnis: „Auf eine Erholung des Kerngeschäfts deutet nichts hin.“ So formulierte es Manfred Schwaiger, der an der Universität München lehrt und eine Studie über Wachstumsfelder für Verlage durchgeführt hat. Die Anzeigenerlöse deutscher Printmedien sanken zwischen 2000 und 2005 um 20%. Die Finanzierung der Online-Auftritte durch Bezahlmodelle funktioniert selten, für Online-Artikel will kaum ein Zeitungskunde zahlen. Der andere und gängige Weg ist daher, Erlöse aus kontextueller Werbung zu beziehen.

Hier sind aber die Internet-Multis wie Google, Microsoft und Yahoo erheblich weiter. Immer mehr Firmen legen ihren Werbeetat lieber Online an. Werbeschaltungen bei den Suchmaschinen sind für beide Seiten lukrativ, für eine Firma ist die Abrechnung transparent, sie kann genau feststellen, welcher Klick über Google tatsächlich zum Kauf eines Produkts geführt hat. Von diesem Spiel wollen sich die deutschen Verlage mit eigenen Vermarktungsmodellen unabhängig machen.

Werbung für Werbung

Die an die Medienunternehmen angehängte Werbebranche will ebenfalls Morgenluft schnuppern. Mit stiller Bewunderung beobachtete man Jahre lang das Verbreiten von Chaos-, Nonsense- und Werbefilmen über Email. Beliebtes Beispiel ist hier Oliver Pocher, dessen Genöle im Media-Markt-Spot über sechs Millionen Mal im Download-Fenster landeten. Wie kann man einen solchen Erfolg vorhersagen? Antwort: durch geistige Krankheitserreger. Die alte Mund-zu-Mund-Propaganda hat es in den virtuellen Raum geschafft und wird nun „virales Marketing“ genannt. Aus den sich über Mail, Foren und Communities virenartig-unberechenbar verbreitenden Schnipsel sollen nun sorgsam geplante Kampagnen werden.

Robert Krause von der Agentur „This Gun is For Hire“ stöhnte auf dem Hamburger Dialog denn auch: „Jetzt sollen sich zwei Millionen Kunden über Haargel unterhalten.“ Auch seine Branche folge alle paar Jahre einem neuen Hype: „Tribal-Marketing“, „Guerilla-Marketing“ „virales Marketing“. Schöne Begriffe, oft war unklar, ob beim Konsumenten etwas von der Aktion hängen blieb. Für Krause ist evident: „Die Idee muss stimmen, dann kann virales Marketing hintendran gehängt werden.“ Ob das dann klappt, sei aber nie sicher, denn „letztlich bleibt es eine Markenaktion“.

Der Erfolg der Communities hängt eng mit ihrer Authentizität zusammen – und die wurde bislang meist deshalb empfunden, weil Marketinginteressen keine Rolle spielten. Der Energieversorger E.ON muss das erfahren. Er baute schon 2002 eine Online-Gemeinschaft auf, die zwei Jahre später wieder geschlossen wurde. Das Interesse an der schlichten Nachricht „Ich-bin-on“ war zu gering geworden.

Links

(1) http://www.telepolis.de/r4/artikel/22/22661/1.html
(2) http://www.hamburger-dialog.de/
(3) http://technorati.com/
(4)
(5) http://www.charles-blog.com
(6) http://www.blog-frosta.de/
(7) http://www.vespaway.com/
(8)
(9) http://amd-notebooks.de/blog/
(10) http://Open BC:www.openbc.com/
(11) http://www.gnu.de/gpl-ger.html
(12) http://www.flickr.com/
(13) http://del.icio.us/
(14) http://www.myspace.com/
(15) http://qype.com/
(16) http://www3.mercedes-benz.com/mixedtape/mixedtape.html
(17) http://www.bunte-starshots.de/

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Elektronische Kultur

Das Pinguin-Imperium hat längst den Mittelstand erreicht

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Februar 2006

Wer noch vor zwei Jahren das Betriebssystem Linux auf dem heimischen PC zu installieren versuchte, wagte ein Abenteuer. Der Monitor oder andere Hardware wurde nicht erkannt, das System brauchte Minuten für den Start und begrüßte einen dann mit einer schwarzweißen Kommandozeile wie anno MS-DOS.

Linux galt lange Zeit als Spielwiese der Computer-Freaks. Kein Wunder, das System entstand 1984 als Gemeinschaftsprojekt von Universitätsmitarbeitern, Studenten und anderen Freiwilligen, denen das auf dem Großrechner laufende Unix zu umständlich in der Bedienung, vor allem aber zu teuer war. Bei fast allen damaligen Betriebssystemen war es nicht möglich festzustellen, wie das Programm genau funktioniert. Ein aufwendig programmierter Code ist bis heute das Geschäftsmodell vieler Softwarefirmen, er ist daher meist geheim.

Linux war am Anfang nur ein Hobby

Richard Stallman, ein Programmierer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den Vereinigten Staaten, und seine Wissenschaftskollegen fühlten sich durch solche proprietäre Software in ihrer Arbeit beschränkt. Sie wollten bestimmte Programme verbessern und Kopien untereinander austauschen dürfen und schrieben daher ein Unix-kompatibles, aber freies Programm, das sie GNU („GNU is not Unix“) nannten. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Projekt, einzelne Komponenten wie Editoren und Compiler entstanden. Eines allerdings fehlte dem System Anfang der neunziger Jahre noch: der zentrale Kern. Im „Kernel“ genannten Bestandteil werden die Prozeß- und Datenorganisation, die Schnittstellen zur Hardware und der Zugriff auf Prozessor und Arbeitsspeicher festgelegt.

Dies wußte auch der an der Universität Helsinki studierende Finne Linus Torvalds. Er schrieb 1991 in der Programmiersprache C den Kern für ein Unix-System, brachte ihn mit den aktuellsten GNU-Bestandteilen zusammen und stellte das Paket auf einen öffentlichen FTP-Server: Linux war geboren. In einer E-Mail an eine Programmiergruppe schrieb er: „Ich arbeite an einem freien Betriebssystem; nur ein Hobby, wird nicht groß und professionell sein wie GNU.“ Er sollte sich irren. Was als Hackerumtrieb begann, entwickelte sich bis heute zu einem Betriebssystem mit solider technischer Basis. Der Quellcode für das neue Unix-Betriebssystem umfaßte nur 241 Kilobyte. Jeder Interessierte solle, so TorvaldsA?È?L?, an dem Programm arbeiten und Verbesserungsvorschläge einbringen. Dazu stellte er den Code unter die General Public License (GPL), eine von Richard Stallman mitentwickelte Lizenzform, die im Gegensatz zum Copyright die freie Modifizierung und kostenlose Verteilung des Quellcodes vorschreibt.

Es gibt mehr als 300 Varianten

Aufgrund dieses Schritts arbeitet eine bis heute wachsende Gemeinschaft von Entwicklern an Linux. Mit Erfolg: Firmenkunden lassen sich von ihnen das System auf ihre Software-Bedürfnisse zuschneidern, IBMs Websphere ist für Linux erhältlich, und Internetprovider ordnen mit Programmen unter Linux den über ihre Rechner laufenden Datenverkehr. Ein Teil der PC-Arbeitsplätze der öffentlichen Verwaltung in Wien wird in den nächsten Jahren auf die Open-Source-Software migrieren. Auch die Stadtverwaltung München hat beschlossen, die weit überwiegende Zahl der 14.000 PC-Arbeitsplätze über die nächsten Jahre auf Linux umzustellen.

Es existieren mehr als 300 Varianten von Linux, die erfolgreichsten wie Debian, Mandriva oder Fedora werden ständig weiterentwickelt. So vielfältig die Varianten auch sind, Linus Torvalds wacht bis heute über das Herzstück des Programms. Er ist bei den Open Source Development Labs in Oregon angestellt und arbeitet an der Weiterentwicklung des Linux-Kernels. Richtig konfiguriert, gilt Linux als ein gegen Hack-Angriffe sicheres System. Vor allem auf dem Markt für Internetserver hat sich unter Open-Source-Lizenz geschriebene Software daher etabliert. So werden beispielsweise, glaubt man den monatlichen Erhebungen der Firma Netcraft, rund 70 Prozent der mehr als 74 Millionen weltweit erfaßten Websites vom Open-Source-Webserver „Apache“ ausgeliefert. Die Software ist so erfolgreich, daß sie mittlerweile sogar auf das Windows- und Solaris-Betriebssystem portiert wurde. Der nicht gerade kleine Online-Händler Amazon nutzt eine vom Linux-Distributor Red Hat modifizierte Version von „Apache“ mit Namen Stronghold. Der Aufbau von Linux läßt auch den Einsatz in Großrechnern zu: Die alljährlich veröffentlichte Liste der 500 schnellsten Supercomputer gibt für 2005 an, daß gut 70 Prozent der Rechner unter Linux betrieben wurden.

Heute ist die Installierung ganz einfach

An den Pcs der heimischen Privatanwender ist Linux lange Zeit vorbeigegangen. Trotz aller Bemühungen um eine ähnlich einfach bedienbare Benutzungsoberfläche wie bei Microsoft Windows oder der Mac-OS von Apple ist die Verbreitung von Linux auf dem Desktop gering – zur Zeit rund ein Prozent. Mit KDE und Gnome existieren zwar seit Jahren graphische Benutzeroberflächen, und im Internet hat eine große Zahl hilfsbereiter User und Foren zu allen erdenklichen Fragen Antworten parat, doch blieb das System für Windows-Umsteiger schwer zu beherrschen: Im Arbeitsalltag reichte das gewohnte Klicken mit der Maus über kurz oder lang nicht mehr aus; um neue Software einzuspielen oder Administrator-Rechte zu erhalten, mußte man in der Kommandozeile irgendwann doch wieder kryptische Befehle eintippen.

Wer heute Linux auf dem PC installiert, bemerkt von dieser Vorgeschichte kaum noch etwas. Um in das System nur hineinzuschnuppern, greift man zu einer der zahlreichen Live-CDs, wie beispielsweise „Knoppix“: Damit startet Linux von der CD-ROM aus, ohne auf die Festplatte zu schreiben oder gar etwas an den Computer-Einstellungen zu ändern. Wer damit Gefallen an Linux findet, der hat die Wahl: Entweder lädt er eine Version gratis aus dem Netz und brennt sie sich auf CD, oder aber er erwirbt eine Version eines Distributors. Bei Fragen oder Problemen erhält man von ihm Unterstützung.

Tausende Benutzer basteln an der Software

Die Linux-Variante der Firma SuSE aus Nürnberg, die zu Novell gehört, ist seit Jahren die erfolgreichste in Deutschland. Seit Oktober 2005 ist die Version 10.0 auf dem Markt, die auf jedem handelsüblichen PC läuft. Eine zu Windows XP parallele Installation ist kein Problem mehr, Linux übernimmt nur einen Teil der Festplatte, und ein Boot-Manager entscheidet beim Hochfahren des Systems, welches der beiden Betriebssysteme starten soll.

Seit kurzer Zeit erlebt Linux eine Aufspaltung: Die großen Anbieter wie SuSE, Red Hat oder Mandriva arbeiten mit zwei Software-Varianten. Die erste ist kostenpflichtig und zielt auf Unternehmen. Diese sogenannten Enterprise-Editionen werden gesondert gepflegt, Stabilität und Performance stehen im Vordergrund. Die zweite der Varianten zielt auf den Privatanwender und wird als abgespeckte Community-Version unentgeltlich verteilt. Die Weiterentwicklung dieser Versionen wird weitgehend den versierten Anwendern überlassen; sie bekommen aber Hilfe durch interne Entwickler. Hier fließen die jeweils neuesten Entwicklungen ein; bewähren sie sich, werden sie in die Enterprise-Editionen übernommen. Für die Software-Häuser ist das Ziel dieser Aufteilung klar: Sie hoffen auf die schnelle Entwicklung und Verbreitung ihrer Distributionen. Zugleich werden die Kosten für den Ausbau des Produkts gesenkt, tausend Benutzer basteln an der Software. Red Hat war bei dieser Aufspaltung des Produkts Vorreiter, schon 2003 begann man, sich auf Unternehmenskunden zu konzentrieren. „Red Hat Linux“ wurde an das Community-Projekt Fedora Core abgegeben, das seither regelmäßig neue Versionen veröffentlicht. Das Kernteam von Fedora besteht aus von Red Hat bezahlten Entwicklern. Aber über das Internet reichen registrierte Nutzer ständig Verbesserungsvorschläge ein.

Linux ist billig und sicher

Glaubt man den Betreibern von Distrowatch, ist „Ubuntu“ das zur Zeit erfolgreichste Linux-Projekt. Im Wettstreit um einfache Installation und Bedienung sowie Stabilität ist Ubuntu vorbildlich, das Betriebssystem ist selbst für Anfänger geeignet. Kenner des Windows-Betriebssystems werden nach kurzer Einarbeitungszeit mit diesem Linux zurechtkommen. Als Browser dient „Firefox“, als komplette Büroumgebung das „Open Office“-Paket, als Bildverarbeitungszentrale „Gimp“. Alle diese Programme können es mit ihren Entsprechungen aus der Windows-Welt durchaus aufnehmen. Und: Ubuntu verfügt über soviele Gerätetreiber, daß fast jede Hardware problemlos erkannt wird.

Die Frage, für welchen PC-Besitzer Linux gut ist, läßt sich recht einfach beantworten: für den, der für wenig Geld ein sicheres System sein eigen nennen oder die Idee der freien Software unterstützen will. Gerade für ältere Pcs ist das System aufgrund seines geringen Speicherbedarfs gut geeignet. Der tolerierbare Zeitaufwand ist individuell unterschiedlich, viele haben einfach Spaß dabei, mit der Installation und Konfiguration eines neuen Betriebssystems einen Abend zu verbringen – zumal Linux noch immer den Hauch des Besonderen hat. Die Botschaft der harten Linux-Apologeten lautet: Die Wahl des Betriebssystems ist nicht nur eine technische, sondern auch eine politische. Rechnerhersteller wie IBM oder Hewlett-Packard und die IT-Abteilungen großer Unternehmen hält diese Auffassung längst nicht mehr davon ab, bei anstehenden Umstrukturierungen über Linux nachzudenken.

Ein Drittel des Mittelstands setzt auf Linux

Die Frage für die IT-Abteilungen lautet: Was kostet es, eine redundante Architektur in der einen und in der anderen Technik aufzubauen, die sich in bestehende Strukturen und Betriebsabläufe einbinden läßt? Die Bedingung: Das System muß stabil, schnell, flexibel und gut skalierbar sein. Die Antwort wird je nach Anwendungsbereich unterschiedlich ausfallen. In Unternehmen stellt sich weniger die Frage des gleichwertigen Ersatzes eines Desktops oder eines Office-Pakets als vielmehr die Migration der über Jahre entstandenen Spezialanwendungen. Spezielle Produktverwaltungs-Software und Datenbanken lassen sich zum Teil nur schwer in Richtung Linux portieren.

Nach einer Umfrage der Marktforscher von TechConsult bei 1.255 Unternehmen und Behörden hatte 2004 rund ein Drittel der mittelständischen Betriebe in Deutschland Linux im Einsatz, meist als Web-, Intranet- oder Mail-Server. Bei Großunternehmen steigt, bei kleinen Firmen fällt dieser Anteil. Wo mit der Wichtigkeit der Geschäftsprozesse auch das Risiko steigt, wird eher Zurückhaltung geübt: Enterprise-Datenbanken oder Applikationsserver werden seltener unter Linux gepflegt.

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Interview R.U. Sirius über sein Buch Countercultures trough the Ages

telepolis v. 5.12.2005

Spuren des Protests

Interview mit dem Veteranen des Cyberspaces, R. U. Sirius, über Gegenkulturen, die 60er Jahre und den “Do It Yourself”-Anspruch

Der Acid-Papst Timothy Leary hatte ihn einst auf die Idee gebracht eine Historie der Gegenkulturen zu schreiben. Ken Goffman, besser bekannt unter seinem Künstlernamen R. U. Sirius, nahm das ernst. In seinem Buch „Countercultures Through the Ages“ (http://www.counterculturethroughtheages.com/) erzählt Goffman nun die Geschichte des stillen und lauten Protests gegen den herrschenden Geist. Schon der Untertitel „From Abraham to Acid House“ zeigt: das zu beackernde Feld ist weit. Sokrates, die Sufis, die Troubadoure, die Pariser Bohemians, Zen-Mönche, die Hippies, die Cyberpunks. Spätestens seit Diogenes zu Alexander dem Großen sein „Geh mir aus der Sonne“ sprach, so stellt Goffman fest, stehen alle Autoritäten im Verdacht den Menschen das Licht der Kreativität und des Individualismus zu nehmen. Im Interview spricht Goffman über Strukturen und Bedingungen der Nicht-Konformität.

Telepolis
Was macht der Mainstream falsch, dass sich in allen Zeiten der Geschichte Gegenkulturen herausbilden?

Ken Goffman
Es gibt selbstverständlich keinen konsistenten Mainstream. Es gibt Überzeugungen, Verhaltensweisen und Rituale, die Menschen während bestimmten Zeiten und Orten miteinander teilen. Es existiert ein Impuls bei der Mehrheit der Menschen, die aktuell herrschenden Denkmuster und die des allgemein geltenden Daseins zu akzeptieren. Und es gibt die Interessen derjenigen mit Gestaltungsmacht, sei diese nun religiös, politisch oder wirtschaftlich, die im Erfolg damit haben die Menschen an ihre Ideen glauben zu lassen. Schließlich dient das der Machterhaltung. Auf der anderen Seite gibt es meist eine Minderheit von ruhelosen Personen, die die Dinge einfach anders sehen und den Mut haben dies auch auszudrücken. Durch Abweichung entsteht Fortschritt, kulturelle und ökonomische Dynamik, Kunst, politischer Wechsel. Oft wird die ehemalige Abweichung dann zum neuen Dogma.

Telepolis
Was einmal befreite, wirkt auf die nächste Generation immer schal?

Ken Goffman
Um das vorherrschende Paradigma herauszufordern, braucht es dann eine weitere, ruhelose Gruppierung oder Person. Ich denke, dies ist ein ewiger Kreislauf. Selbst Utopisten haben die Gegenkultur nötig.

Telepolis
In ihrem Buch haben sie das die “Tradition mit Traditionen zu brechen“ genannt. Was verbindet alle Gegenkulturen? Gibt es gemeinsame Werte?

Ken Goffman
Grundsätzlich wichtig ist erst einmal ein Infragestellen von Autoritäten. Der eigenen Autorität und Autonomie zu trauen, das ist das Nächste. Diese Selbstständigkeit führt zur einer Dezentralisation von dem, was Menschen Denken und Glauben. Diese Art neuer Individualismus muss sich von bloßem Egoismus unterscheiden. Die gemeinsamen Werte umfassen zudem Innovation in Kunst und Philosophie, das Fördern von Diversität, Großzügigkeit, vor allem im Teilen von Resourcen und Werkzeugen.

R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)
R.U. Sirius (Foto aus Wikipedia)

Telepolis
Wenn die Gegenkultur gezwungen ist die Regeln der Gesellschaft zu brechen, wie unterscheidet sie zwischen kulturell-politischer Evolution und einem blinden Aufstand, zwischen nötiger Veränderung und leichtfertigem Renitenz?

Ken Goffman
Es ist nicht immer ganz klar, wann man gegen die Zivilisation revoltieren und wann man sie zur vollsten Blüte bringen muss. Gegenkulturen zeichnen sich generell durch Kreativität und Ideenreichtum aus, selbst wenn sie in den Farben der wilden Revolte auftreten, wie beispielsweise die Dadaisten oder die Punks. Sie können kulturell barbarisch wirken und so aussehen, als ob sie der gutbürgerlichen Kultiviertheit im Wege stehen. Meist sind sie aber eher ein sehr fortgeschrittener Ausdruck von Kultur. Aber ohne Zweifel, ja, es gibt eine feine Linie zwischen dem Aufbrechen rigider Strukturen sowie dem Glauben daran, eine Kultur freier zu machen und dem Heraufbeschwören eines neuen, dunklen Zeitalters.

Telepolis
Traf es Bob Dylan, als er sang: “Um außerhalb des Gesetzes zu leben, musst du aufrichtig sein“?

Ken Goffman
Nun, das ist der Mythos vom hehren Outlaw, ein wunderbarer Mythos. Aber auch totale Drecksäcke kommen damit durch außerhalb der Gesetze zu stehen. Für alle von uns, die außerhalb der Regeln leben müssen, ist es gleichwohl wichtig ehrlich und voller guter Intentionen zu sein. Dennoch höre ich Dylan den Text ) lieber so singen, wie er ihn gemeint hat.

Telepolis
Dylan war Teil der Bewegung der 60er Jahre. War diese aus ihrer Sicht die wichtigste Gegenkultur des vergangenen Jahrhunderts?

Ken Goffman
Letztendlich wird der Geist des DIY (Do It Yourself), der als Teil der Punk-Bewegung in den 70er entstand, sich für einige Zeit als die wichtigste Transformationskraft erweisen. Dieser Geist pflanzte sich in der Cyberpunk-Bewegung der 80er und 90er fort und drückt sich heute in der Netzkultur aus, in der jede Person oder jede Gruppe ein multimedialer Sender ist. Er zeigt sich auch im Burning Man Festival (http://www.burningman.com/) und ähnlichen Zusammenkünften, bei denen jeder Mitwirkender und Künstler sein kann, und wir sehen ihn nicht zuletzt in der Kultur der “Open Source”, in der sich die Menschen weigern ihre Ressourcen auf monetäre oder proprietäre Interessen zu beschränken, wenn sie stattdessen etwas nützliches oder interessantes gestalten können. Sicher, dies alles greift auch auf den Geist der 60er zurück, aber diese wollten zu viel, nämlich eine komplett neue Gesellschaft, ohne vorher ihre DIY-Qualifikation zu entwickeln.

Telepolis
Die Lust auf psychoaktive Substanzen zieht sich als roter Faden durch die Gegenkulturen der Gegenwart. Wie wichtig sind diese für deren Entstehung und Entwicklung?

Ken Goffman
Die faszinierende Historie geistbewegender Pflanzen ist Thema für ein weiteres Buch. Es mag überraschen, aber der Gebrauch von Drogen spielte für die Gegenkulturen bis ins 20. Jahrhundert hinein nur selten eine Rolle. In früheren Zeiten ist es am ehesten noch der Sufismus, der auf psychedelische Drogen wie Haschisch und die damit zusammenhängenden Bewusstseinszustände referenziert. Der radikale Sufismus fordert dazu auf, die ausgefahrenen Gleise des alltäglichen Bewusstseins zu verlassen und wollte damit eine tiefere, geklärte Erfahrung der Welt ermöglichen. Bestimmte Drogen können bei diesen Bestrebungen helfen. Im Gegensatz dazu wollen Taoismus und Zen den Suchenden dazu anleiten, den beeindruckenden Frieden zu finden, der innerhalb (!) des alltäglichen Bewusstseins liegt, von daher sind sie weniger empfänglich für Psychedelika. Meine liebste Metapher für Drogen ist der “Filterwechsel vor der Wahrnehmungs-Kamera”. So erhält man ein anderes Bild der Realität. Jeder Veränderung des Bewusstseins, selbst diejenige mit Hilfe von Alkohol und Kokain, kann dich von deinem Standpunkt abbringen und zu neuen Einsichten führen. Deshalb nutzen sie Schriftsteller und Kreative manchmal, wenn sie denken, sie stecken gerade fest.

Telepolis
Sollten jemand den Kreationisten in den USA die Einnahme psychedelischer Drogen empfehlen?

Ken Goffman
Ich bin sicher, einige von ihnen haben sie genommen. Aber es gibt halt keine Erfolgsgarantie. Einige werden Fundamentalisten oder ultra-religiös. Mit Chaos, Komplexität und der Möglichkeit anderer Realitäten konfrontiert flippen sie aus und ergeben sich einem “Gott”, der ihnen das Seelenheil bringen soll.

Telepolis
Vorausgesetzt man will es wissen: Wie lernt man aus diesen Erfahrungen?

Ken Goffman
Ich zögere persönliche oder soziale Lektionen aus den Trips anderer Leute zu ziehen. Aber gut: Im weitesten Sinne wohnt diesen Erfahrungen das Potenzial inne, ein alternatives Belohnungssystem zu etablieren. Wenn wir uns für Abstumpfung mit Konsum belohnen, wenn unsere Suche nach intensiven Gefühlen zu sozialem Sadismus, Masochismus oder Krieg führt, wenn der größte Rausch für einige darin besteht Wettkämpfe zu gewinnen oder einen sexuellen Partner zu erobern; dann kann die psychedelische Erfahrung eine andere, eine bessere Entlohnung bieten. Manche Drogen schalten zeitweise das ewige Begehren ab und geben uns stattdessen einfache, aber gehaltvolle Freude. Diese Freude sitzt vielleicht in den neuralen Strukturen, der Epiphyse oder auch in Kräften außerhalb unseres Körpers, mehr oder weniger eng verknüpft mit unserem Bewusstsein. Oder wie mein Freund Zarkov, der psychedelische Investment-Banker, so gerne sagt: “Hey, es ist besser als Bowling”.

Telepolis
Wie sieht die europäische Gegenkultur zurzeit aus ihrer Sicht aus?

Ken Goffman
Ehrlich gesagt kenne ich mich da nicht aus. Ich nehme mal an es ist eine anhaltend große Minderheit, wahrscheinlich zu bequem, um aufzufallen.

Telepolis
Sehen Sie sonst irgendwo eine Gegenkultur im Geburtsstadium?

Ken Goffman
Sicher. Schauen sie nach Brasilien unter Lula, dort ist der Held des 60er – Tropicalismo, Gilberto Gil, Kulturminister. Dort wird “Open Source” adoptiert, im Sinne von Software und der Einstellung. In Mexiko herrscht ebenfalls eine starke Gegenkultur. Die Zapatisten gehören dazu, aber auch eher urbane Kulturen. Innerhalb der iranischen und chinesischen Jugend gärt es ebenfalls. Diese weltweiten Bewegungen haben vielleicht nicht die mediale Aufmerksamkeit wie die USA in den 60ern, aber sie sind da.

 


Unter dem Namen R. U. Sirius rührte Ken Goffman Ende der 80er Jahre mit am heißen Brei der entstehenden Cyberkultur. Er war einer der Herausgeber des Magazins Mondo 2000 www.mondo2000.com, einem subversiven Blatt, das über zehn Jahre lang Themen zwischen Hackertum, virtueller Realität und Techno-Utopien abdeckte. Autoren wie Bruce Sterling, William Gibson und Robert Anton Wilson schrieben für Mondo 2000, das als anarchischer Vorläufer des später erfolgreichen Magazins Wired (http://www.wired.com/wired/) gilt. Goffman ist zur Zeit Host von zwei Podcasts, „NeoFiles“ ) und die „R. U. Sirius Show“ (http://rusiriusradio.com).

Siehe zu dem Thema auch , eine Rezension zu dem Buch: „Nation of Rebels: Why Counterculture Became Consumer Culture“ von Joseph Heath and Andrew Potter.

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Elektronische Kultur

Der spielerische Krieg

Telepolis, 3.9.2005

Über die Verwischung von virtuellem und realem Krieg durch Videospiele

Die Entertainment-Industrie fokussierte sich bei Videospielen mit Kampfhandlung lange auf Szenarien im Zweiten Weltkrieg. Mit den Zeiten änderte sich das Feindbild: bei den Shootern der neuen Generation tummeln sich die Kombatanten in den Gefilden des Nahen Osten. Spiele wie „Battlefield 2“, „Full Spectrum Warrior“ und „America’s Army“ bieten nicht nur aktuelle Schauplätze, ihre graphische und taktische Qualität ist enorm gestiegen. Aus simplen First-Person Shootern mit dünner Handlung sind anspruchsvolle Simulationen geworden, die den Krieg optisch und physikalisch korrekt nachbilden. Dies ist kein Zufall, denn das (US-) Militär und die Spielhersteller kooperieren bei der Entwicklung virtueller Schlachtfelder.

Schon Mitte der 90er Jahre ließ die US-Army Soldaten an einer modifizierten Version des Baller-Klassikers „Doom“ trainieren. Um ihren Kämpfern noch realistischere Erfahrungen zuteil kommen zu lassen, gründete das Verteidigungsministerium 1999 in Kalifornien das ICT ( Institute of Creative Technologies (1), einem Joint Venture von Militär, Entertainment-Industrie und Wissenschaft. Paramount saß ebenfalls mit im Boot, das Filmstudio hatte im Jahr zuvor mit „Der Soldat James Ryan“ Maßstäbe in der realistischen Darstellung des Krieges gesetzt. 45 Millionen Dollar ließ sich das Verteidigungsministerium die Etablierung kosten, seither arbeiten Drehbuchautoren, Regisseure, Programmierer und Taktik-Offiziere Hand in Hand. Paul Debevec, der in „The Matrix“ die Spezialeffekte entwarf, hält am ICT ebenso Vorträge wie Drehbuchautor John Milius („Apocalypse Now“).

Im Jahr 2000 nahm das ICT mit dem Spieleentwickler „Pandemic Studios“ (2) Kontakt auf. Der Auftrag: Die Programmierung einer Kriegs-Simulation, die auf Basis des offiziellen „Field Manual“ der US-Army funktioniert. In diesem frei erhältlichen Gefechtshandbuch (3) werden acht unterschiedliche Konfliktsituationen und deren Lösung entworfen. Vor allem wollte das ICT den Kampf in Städten simuliert wissen. Ziel war, den Spieler mit allen Sinnen in die Story reinzuziehen und emotional zu verstricken. Schweißnasse Hände und Herzkopfen ändern die Entscheidungsfähigkeit, daraus lassen sich Rückschlüsse auf das Verhalten im Ernstfall ziehen. Drei Jahre später war es soweit, „Full Spectrum Warrior“ (4) wurde an die Armee ausgeliefert. Eine kommerzielle Zivil-Variante des „Spiels“ stand zunächst gar nicht auf dem Plan der Beteiligten, ein Jahr später kamen aber Versionen für Xbox und PC auf den Markt.

Wer nun glaubt „Full Spectrum Warrior“ fördert das rigide Ummähen möglichst vieler Gegner wird enttäuscht. Auch in der öffentlichen Version des Spiels geht es mehr darum Schusswechsel zu vermeiden und sich und seine Gruppe durch geschicktes Verhalten dem Gegner zu entziehen. Waffen sind zwar allgegenwärtig, ihr Gebrauch aber nicht immer die Lösung.

Wer gehorcht, hat Erfolg

Bei aller Detailtreue der virtueller Realitätsnachbildung bieten die modernen Taktik-Shooter aber doch nur eine saubere und unrealistische Variante des Krieges. Nicht nur, dass hier niemand sterben will und muss, die Unberechenbarkeit des bewaffneten Häuserkampfes bleibt außen vor. Weder wird ein Spieler von Querschlägern getroffen noch leidet die Waffe unter Ladehemmung. Pech, Zufall und technisches Versagen sind außen vor, von den zermürbenden Kampfpausen mal ganz abgesehen. In einem Spiel muss jede Handlung eine kausale Wirkung erzielen, sonst wird dem Spieler langweilig.

Neben der Stärke der Gruppe gegenüber dem Einzelkämpfer wollen die modernen Kriegsspiele vor allem auf eines hinweisen: Wer gehorcht, hat Erfolg. Bestes Beispiel ist hier wohl die frei erhältliche Simulation „America’s Army“ (5). Ein zackiger Sergeant drillt den Spieler zunächst beim Schießtraining, dann wird dem Rekruten die Befehlskette und der Kasernenalltag klar gemacht. Erst später wird hier in freudig in die Schlacht gezogen. Kein Wunder, es war das militäreigene MOVES-Institut (6) das die Software entwickelte.

Über die Website (7) lässt sich die Software seit 2002 zum Nulltarif downloaden, die virtuelle Fehde ist das erfolgreichste Rekrutierungstool des Internet-Zeitalters. Rund 5 Millionen Sessel-Soldaten sind registriert, um Online mit- und gegeneinander anzutreten. In einer Umfrage zum Bild der US-Armee gaben 40 Prozent der Jugendlichen an, ein positives Bild der Streitkräfte aufgrund deren Einsatz im Irak zu haben, weitere 30 Prozent begründeten ihre Freude an den GI’s mit „America’s Army“. Für wahre Fans gibt es darum auch die Möglichkeit direkt von der Homepage des Spiels auf der Rekrutierungsseite von Uncle Sam zu landen. Hier kann man den hart erdaddelten Spielstand als Referenz zu übermitteln. Das Spiel ist so erfolgreich, das Ubisoft im Oktober 2005 eine kommerzielle Version für Xbox und PlayStation herausbringt. Damit wird der Kundenkreis noch größer – und wohl auch jünger.

Chris Chambers, ehemaliger Major und Entwicklungsleiter für „America’s Army“, gesteht, dass das taktische Gemetzel der Rekrutierung dient. „Im dem Spiel geht es um Zielerreichung bei möglichst wenig Verlusten“, gibt er zu bedenken. Was er vergisst: Das gilt nur für Verluste in den eigenen Reihen.

Spielzeughersteller und Human-Maschinen

Die Zusammenarbeit zwischen Programmierern und Militär ist mittlerweile gefestigt: Das Software-Team von „Full Spectrum Warrior“ schnuppert in Abständen Kasernenluft, auch das Team von „America’s Army“ musste sich in Ford Benning (Georgia) von Original-Ausbildern schinden lassen. Schon die ursprüngliche Entwicklung kostete um die sechs Millionen Dollar, seit dem Erscheinen von „America’s Army“ steckte das Verteidigungsministerium weitere 5 Millionen Dollar in die Weiterentwicklung der Software. In „Camp Guernsey“, Wyoming, steht ein Simulator mit drei Großbildschirmen, an dem Soldaten mit echten Gewehren mit Laseraufsatz das Töten lernen. Als Software läuft eine abgewandelte Version von „America’s Army“.

Unterdessen unternimmt das ICT die nächsten Schritte in die Zukunft des virtuell-realen Krieges. Der Filmausstatter Ron Cobb, der schon Streifen wie „Total Recall“ und „Aliens“ ausschmückte, entwarf für die Armee den Soldaten der Zukunft, einen „Objective Force Warrior“. Wie sonst nur technische Waffensysteme wird dieser – gerade noch menschliche – Landser als komplettes System betrachtet, das Waffen, Rüstung, Tarnung und elektronische Geräte beinhaltet. Die Entwürfe sehen aus wie aus einem Cyborg Hollywood-Streifen, aber diese Human-Maschine soll in Serie gehen. Der Armeezulieferer „General Dynamics“ (8) hat die Ausschreibung für die Realisierung des Projekts gewonnen. Und: Der Spielzeughersteller Hasbro (9) soll bereits die Spezifikationen für den Cyber-Landser erhalten haben. Kriegs- und Spieldesign gehen Hand in Hand.

Das Militär hat sich auf die Konsolengeneration eingestellt. So ist der „Dragon Runner“ (10), ein ferngesteuerter, vierrädriger Roboter, der zur Aufklärung in Gebäuden auch im Irak eingesetzt wird, sehr leicht zu bedienen. Er wird über ein Pad gesteuert, was der bekannten Steuerungseinheit der Playstation nachempfunden wurde. Krieg und Entertainment, die schon durch das Fernsehen und die elektronische Medien ihren Todestanz gemeinsam aufführen, wachsen an weiteren Nahtstellen zusammen.
Links

(1)
(2) http://www.pandemicstudios.com/
(3) http://www.globalsecurity.org/military/library/policy/army/fm/
(4) http://www.fullspectrumwarrior.com/
(5) http://www.americasarmy.com/
(6) http://www.movesinstitute.org/
(7) http://www.americasarmy.com/
(8) http://www.generaldynamics.com/
(9) http://www.hasbro.com/
(10)

 

 

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Elektronische Kultur

Amazon wächst mit skalierbarer IT

Computerwoche, 19/2005

In einer geclusterten Linux-Umgebung mit Oracle-Datenbank verwaltet Amazon.com seinen gigantischen Datenbestand.

Was dem Online-Versandhändler Amazon heute einen Verlust von Hunderttausenden Euro bringen würde, war 1995 kein Problem: Die Web-Seite war für eine halbe Stunde offline. Amazons Chefprogrammierer schleppte im Gründungsjahr der Firma den einzigen Sun-Server noch persönlich in seinen Honda, um ihn in die neuen Geschäftsräume zu transportieren. Damals wie heute setzte der Katalog auf einer Oracle-Datenbank auf.

Über die Jahre wuchs mit den Anforderungen auch die Kapazität der Maschinen. Wo zunächst Alpha Server von Digital Equipment die Bestellungen sortierten, setzte CEO Jeffrey Bezos drei Jahre nach der Firmengründung auf einen Sun-Starfire mit Solaris-Betriebssystem. Die Firma war innerhalb der kurzen Zeit von elf auf über 1000 Mitarbeiter angewachsen, vier Millionen Kunden bestellten regelmäßig bei Amazon. Die Freude an der Sun-Hardware währte jedoch nicht lange, schon ein Jahr später ging Amazon eine Kooperation mit Hewlett-Packard ein. Seit dieser Zeit stattet HP Amazon mit Hardwarelösungen aus. Auf den Servern läuft seither Linux. Für jeden Dollar, so CIO Rick Dalzell, den Amazon in neue Hardware stecke, spare es zehn Dollar an Instandhaltungs- und Lizenzgebühren.

Das Volumen der Suchanfragen und der Datenbank verdoppelte sich bis 2002 jedes Jahr. Damals umfasste Letztere 10 Terabyte und zählte bereits zu den fünf weltgrößten Datenbanken. Sie ist das Herz von Amazon, an diesem Kulminationspunkt laufen alle Bemühungen zusammen. Bestellungen, Kundendaten, Produktbestandsdaten: Das Data Warehouse ist mit fast jedem System innerhalb des Unternehmens verbunden. Zu Spitzenzeiten greifen über 1000 Mitarbeiter auf die Daten zu.

Foto: Amazon
Foto: Amazon

Amazon mauserte sich vom virtuellen Buchhändler zum Allround-Spezialisten für jedes erdenkliche Produkt. Im Januar 2004 kündigte Manager Tom Killalea das „14-Terabyte-Plus“-Warehouse an. Der Online-Händler zählt seither nicht nur über 37 Millionen Kunden, sondern auch 550 000 Verkäufer, die über die Amazon-Plattform ihre eigenen Produkte vertreiben. Der Online-Store der US-Basketballliga NBA läuft ebenso darüber wie der des Spielzeughändlers Toys’r’us. Im Weihnachtsgeschäft 2004 erzielte Amazon erstmals mehr Umsatz mit Elektronikartikeln als mit Büchern.

Zugleich erwarteten die Nutzer von Amazon wie von allen Online-Läden, dass sie so zuverlässig funktionieren wie das Telefon: (Ein-) Wählen und loslegen. Die Seite muss nicht nur ständig erreichbar sein, sie muss zudem schnell laden und alle Informationen zügig ausliefern. Ein Kunde will innerhalb einer Minute wissen, wie lange es brauchen wird, bis eine Bestellung bei ihm ankommt, und ob die einzelnen Waren in nur einem Paket oder separat versandt werden.

Umstrukturierung beendet

Heute ist die Umstrukturierung von Amazons IT-Architektur abgeschlossen. Das System setzt auf Linux-Servern auf und läuft mit der Software „Real Application Clusters“ (RAC) von Oracle auf Proliant-Server von HP. Oracle RAC ist eine Datenbank, die das Clustering unterstützt. In jedem Proliant-DL-380-Servern gibt ein Intel-Xeon-Prozessor mit 3,4 Gigahertz den Takt an. HP empfiehlt für diese Proliant-Familie das modulare Speichersystem „Smart Array 1000“ (MSA 1000). Die Besonderheit bei Amazon: Die Architektur ist zweigeteilt und verrichtet ihre Aufgaben an unterschiedlichen Orten, die über ein Hochgeschwindigkeits-Glasfaser-WAN miteinander verbunden sind. Ein Teil des Real-Application-Clusters steht in an der Ostküste der USA, ein Teil an der Westküste.

Ein System beherbergt das eigentliche Data Warehouse, das zweite dient als „staging area“. Hier wird neue Software installiert, um bei einem Update einfach zwischen der normalen Umgebung und der Staging-Umgebung umschalten zu können. So lassen sich Software-Updates ohne Downtime fahren. Jedes System besteht aus mindestens vier Nodes, auf welchen jeweils Oracle auf Linux läuft. Die Nodes sind über 2-GB-Glasfaser mit SAN-Switches verbunden, die die Daten an die diversen MSA-1000-Speichereinheiten verteilten. Mit dem Application- und Cluster-Network sind die Nodes über 1-GB- und 100- MB-Ethernet verknüpft.

Die Software von Amazon ist eine über die Jahre gewachsene Eigenentwicklung, „100 Prozent homegrown“, wie der frühere Geschäftsführer Joe Galli einmal bemerkte. Die Site kam zunächst ohne Anwendungs-Server aus, erst später setzte man auf Web-Logic von Bea. Um das immer weiter wachsende Datenvolumen zu bewältigen, verbindet seither dieser J2EE-kompatible Web-Server die WebClients mit den verteilten Datenbanken.

Die geclusterte Architektur hat Vorteile: So ist die Kapazität nicht auf einen einzelnen Server beschränkt. Wird neue Rechen-Power benötigt, ist kein komplizierter Neuaufbau notwendig – ein neuer Server wird einfach an das bestehende Netzwerk angeschlossen. Zum anderen erhöht sich die Verfügbarkeit. Fällt ein Knotenrechner aus, übernehmen andere Einheiten seine Aufgaben. Zudem verfügt Bea Weblogic über Plugins für den Open-Source-Web-Server „Apache“. Amazon nutzt eine von der Firma Red Hat modifizierte Version von Apache mit Namen „Stronghold“, die den Apache-Server um SSL-Unterstützung erweitert.

Der Apache-Web-Server leistet hier das, was bei Ebay Microsofts IIS übernimt: Er kapselt das Internet aus Sicherheits- und Performance-Gründen von der Bea-Sphäre ab. Apache liefert beispielsweise JPG-Dateien schneller und preiswerter aus, als der lizenzpflichtige Bea-Server das kann.

Überhaupt profitiert das Online-Versandhaus von der Open-Source-Bewegung. Seit 2002 nutzt Amazon das Website Templating System „Mason“, ein bekanntes Perl-Tool zur Generierung von HTML-Code, das ebenfalls gut mit Apache zusammenarbeitet. Die Shop-Entwickler von Amazon stellen ihre Arbeit zum Teil auch der Programmierer-Gemeinde zur Verfügung. Über die Hälfte der Änderungen an Mason von Version 1.21 auf 1.22 gehen auf Amazon-Mitarbeiter zurück.

Der E-Commerce-Riese nutzt eine Reihe von Tools, um das Geschäft mit Käufern und Lieferanten am Laufen zu halten. So spürt ein Analyse-Tool der Firma SAS dem Käuferverhalten nach. Damit werden nicht nur Präferenzen erforscht, sondern auch Kreditkarten-Betrugsfälle verringert. Durch das Tool, so Jaya Kolhatkar, Leiterin der Betrugsaufklärung bei Amazon, seien 2001 die Betrugsfälle um 50 Prozent zurückgegangen.

Personalisierte Angebote

Neben der IT-Architektur ist auch Amazons Personalisierungs-Software ein gut gehütetes Geheimnis. Das System erkennt einen wiederkehrenden Besucher auf der Web-Seite und macht ihm auf Grundlage der bisher getätigten Einkäufe Vorschläge für die neue Shopping-Tour. Die Kunden sehen dann immer speziell für sie modifizierte Seiten. Amazons Lust am Data Mining verführte das Unternehmen 2000 sogar dazu, unterschiedliche Preise für das gleiche Produkt zu verlangen. Als die Käufer mitbekamen, dass sie als Versuchskaninchen benutzt wurden, stoppte Amazon das Experiment.

Die B-to-B-Strategie ist ähnlich ausgereift. Excelons „B2B Integration Server“ verbindet die Warenbestandsdatenbank von Amazon mit den großen Lieferanten.

Eine Software von Manugistics kontrolliert den globalen Warenfluss durch die Lager und legt auch fest, welche Produkte in welchem Lager in welcher Menge stets vorrätig sein sollten. Split-Orders, also Warenlieferungen, die von unterschiedlichen Lagerhäusern aus den Kunden erreichen, will Amazon unbedingt vermeiden. Zudem müssen länderspezifische Transport-, Zoll- und Steuerkosten berücksichtigt werden. Ein Großteil der versendeten Produkte kommt daher heute aus nahe liegenden Distributionszentren zu den Kunden.

Amazon als Plattformanbieter

Wie Ebay auch, öffnet Amazon seine Tore nun vermehrt für Entwickler. Mit dem „Amazon Simple Queue Service“ steht die Betaversion eines E-Mail-Dienstes für Softwareanwendungen bereit. Beide Unternehmen bieten damit ihre Infrastruktur, die sie ursprünglich für sich entwickelt haben, nun anderen Unternehmen an.

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Elektronische Kultur

Amazon wächst mit skalierbarer IT

Computerwoche, 19/2005

In einer geclusterten Linux-Umgebung mit Oracle-Datenbank verwaltet Amazon.com seinen gigantischen Datenbestand.

Was dem Online-Versandhändler Amazon heute einen Verlust von Hunderttausenden Euro bringen würde, war 1995 kein Problem: Die Web-Seite war für eine halbe Stunde offline. Amazons Chefprogrammierer schleppte im Gründungsjahr der Firma den einzigen Sun-Server noch persönlich in seinen Honda, um ihn in die neuen Geschäftsräume zu transportieren. Damals wie heute setzte der Katalog auf einer Oracle-Datenbank auf.

Über die Jahre wuchs mit den Anforderungen auch die Kapazität der Maschinen. Wo zunächst Alpha Server von Digital Equipment die Bestellungen sortierten, setzte CEO Jeffrey Bezos drei Jahre nach der Firmengründung auf einen Sun-Starfire mit Solaris-Betriebssystem. Die Firma war innerhalb der kurzen Zeit von elf auf über 1000 Mitarbeiter angewachsen, vier Millionen Kunden bestellten regelmäßig bei Amazon. Die Freude an der Sun-Hardware währte jedoch nicht lange, schon ein Jahr später ging Amazon eine Kooperation mit Hewlett-Packard ein. Seit dieser Zeit stattet HP Amazon mit Hardwarelösungen aus. Auf den Servern läuft seither Linux. Für jeden Dollar, so CIO Rick Dalzell, den Amazon in neue Hardware stecke, spare es zehn Dollar an Instandhaltungs- und Lizenzgebühren.

Das Volumen der Suchanfragen und der Datenbank verdoppelte sich bis 2002 jedes Jahr. Damals umfasste Letztere 10 Terabyte und zählte bereits zu den fünf weltgrößten Datenbanken. Sie ist das Herz von Amazon, an diesem Kulminationspunkt laufen alle Bemühungen zusammen. Bestellungen, Kundendaten, Produktbestandsdaten: Das Data Warehouse ist mit fast jedem System innerhalb des Unternehmens verbunden. Zu Spitzenzeiten greifen über 1000 Mitarbeiter auf die Daten zu.

Foto: Amazon
Foto: Amazon

Amazon mauserte sich vom virtuellen Buchhändler zum Allround-Spezialisten für jedes erdenkliche Produkt. Im Januar 2004 kündigte Manager Tom Killalea das „14-Terabyte-Plus“-Warehouse an. Der Online-Händler zählt seither nicht nur über 37 Millionen Kunden, sondern auch 550 000 Verkäufer, die über die Amazon-Plattform ihre eigenen Produkte vertreiben. Der Online-Store der US-Basketballliga NBA läuft ebenso darüber wie der des Spielzeughändlers Toys’r’us. Im Weihnachtsgeschäft 2004 erzielte Amazon erstmals mehr Umsatz mit Elektronikartikeln als mit Büchern.

Zugleich erwarteten die Nutzer von Amazon wie von allen Online-Läden, dass sie so zuverlässig funktionieren wie das Telefon: (Ein-) Wählen und loslegen. Die Seite muss nicht nur ständig erreichbar sein, sie muss zudem schnell laden und alle Informationen zügig ausliefern. Ein Kunde will innerhalb einer Minute wissen, wie lange es brauchen wird, bis eine Bestellung bei ihm ankommt, und ob die einzelnen Waren in nur einem Paket oder separat versandt werden.

Umstrukturierung beendet

Heute ist die Umstrukturierung von Amazons IT-Architektur abgeschlossen. Das System setzt auf Linux-Servern auf und läuft mit der Software „Real Application Clusters“ (RAC) von Oracle auf Proliant-Server von HP. Oracle RAC ist eine Datenbank, die das Clustering unterstützt. In jedem Proliant-DL-380-Servern gibt ein Intel-Xeon-Prozessor mit 3,4 Gigahertz den Takt an. HP empfiehlt für diese Proliant-Familie das modulare Speichersystem „Smart Array 1000“ (MSA 1000). Die Besonderheit bei Amazon: Die Architektur ist zweigeteilt und verrichtet ihre Aufgaben an unterschiedlichen Orten, die über ein Hochgeschwindigkeits-Glasfaser-WAN miteinander verbunden sind. Ein Teil des Real-Application-Clusters steht in an der Ostküste der USA, ein Teil an der Westküste.

Ein System beherbergt das eigentliche Data Warehouse, das zweite dient als „staging area“. Hier wird neue Software installiert, um bei einem Update einfach zwischen der normalen Umgebung und der Staging-Umgebung umschalten zu können. So lassen sich Software-Updates ohne Downtime fahren. Jedes System besteht aus mindestens vier Nodes, auf welchen jeweils Oracle auf Linux läuft. Die Nodes sind über 2-GB-Glasfaser mit SAN-Switches verbunden, die die Daten an die diversen MSA-1000-Speichereinheiten verteilten. Mit dem Application- und Cluster-Network sind die Nodes über 1-GB- und 100- MB-Ethernet verknüpft.

Die Software von Amazon ist eine über die Jahre gewachsene Eigenentwicklung, „100 Prozent homegrown“, wie der frühere Geschäftsführer Joe Galli einmal bemerkte. Die Site kam zunächst ohne Anwendungs-Server aus, erst später setzte man auf Web-Logic von Bea. Um das immer weiter wachsende Datenvolumen zu bewältigen, verbindet seither dieser J2EE-kompatible Web-Server die WebClients mit den verteilten Datenbanken.

Die geclusterte Architektur hat Vorteile: So ist die Kapazität nicht auf einen einzelnen Server beschränkt. Wird neue Rechen-Power benötigt, ist kein komplizierter Neuaufbau notwendig – ein neuer Server wird einfach an das bestehende Netzwerk angeschlossen. Zum anderen erhöht sich die Verfügbarkeit. Fällt ein Knotenrechner aus, übernehmen andere Einheiten seine Aufgaben. Zudem verfügt Bea Weblogic über Plugins für den Open-Source-Web-Server „Apache“. Amazon nutzt eine von der Firma Red Hat modifizierte Version von Apache mit Namen „Stronghold“, die den Apache-Server um SSL-Unterstützung erweitert.

Der Apache-Web-Server leistet hier das, was bei Ebay Microsofts IIS übernimt: Er kapselt das Internet aus Sicherheits- und Performance-Gründen von der Bea-Sphäre ab. Apache liefert beispielsweise JPG-Dateien schneller und preiswerter aus, als der lizenzpflichtige Bea-Server das kann.

Überhaupt profitiert das Online-Versandhaus von der Open-Source-Bewegung. Seit 2002 nutzt Amazon das Website Templating System „Mason“, ein bekanntes Perl-Tool zur Generierung von HTML-Code, das ebenfalls gut mit Apache zusammenarbeitet. Die Shop-Entwickler von Amazon stellen ihre Arbeit zum Teil auch der Programmierer-Gemeinde zur Verfügung. Über die Hälfte der Änderungen an Mason von Version 1.21 auf 1.22 gehen auf Amazon-Mitarbeiter zurück.

Der E-Commerce-Riese nutzt eine Reihe von Tools, um das Geschäft mit Käufern und Lieferanten am Laufen zu halten. So spürt ein Analyse-Tool der Firma SAS dem Käuferverhalten nach. Damit werden nicht nur Präferenzen erforscht, sondern auch Kreditkarten-Betrugsfälle verringert. Durch das Tool, so Jaya Kolhatkar, Leiterin der Betrugsaufklärung bei Amazon, seien 2001 die Betrugsfälle um 50 Prozent zurückgegangen.

Personalisierte Angebote

Neben der IT-Architektur ist auch Amazons Personalisierungs-Software ein gut gehütetes Geheimnis. Das System erkennt einen wiederkehrenden Besucher auf der Web-Seite und macht ihm auf Grundlage der bisher getätigten Einkäufe Vorschläge für die neue Shopping-Tour. Die Kunden sehen dann immer speziell für sie modifizierte Seiten. Amazons Lust am Data Mining verführte das Unternehmen 2000 sogar dazu, unterschiedliche Preise für das gleiche Produkt zu verlangen. Als die Käufer mitbekamen, dass sie als Versuchskaninchen benutzt wurden, stoppte Amazon das Experiment.

Die B-to-B-Strategie ist ähnlich ausgereift. Excelons „B2B Integration Server“ verbindet die Warenbestandsdatenbank von Amazon mit den großen Lieferanten.

Eine Software von Manugistics kontrolliert den globalen Warenfluss durch die Lager und legt auch fest, welche Produkte in welchem Lager in welcher Menge stets vorrätig sein sollten. Split-Orders, also Warenlieferungen, die von unterschiedlichen Lagerhäusern aus den Kunden erreichen, will Amazon unbedingt vermeiden. Zudem müssen länderspezifische Transport-, Zoll- und Steuerkosten berücksichtigt werden. Ein Großteil der versendeten Produkte kommt daher heute aus nahe liegenden Distributionszentren zu den Kunden.

Amazon als Plattformanbieter

Wie Ebay auch, öffnet Amazon seine Tore nun vermehrt für Entwickler. Mit dem „Amazon Simple Queue Service“ steht die Betaversion eines E-Mail-Dienstes für Softwareanwendungen bereit. Beide Unternehmen bieten damit ihre Infrastruktur, die sie ursprünglich für sich entwickelt haben, nun anderen Unternehmen an.

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Elektronische Kultur

Die IT-Architektur von Ebay

Computerwoche, 18/2005

IT-Architektur für E-Commerce-Riesen: Ebay

Riesige Datenbestände, Millionen von Seitenaufrufen, kurze Antwortzeiten: Drei der erfolgreichsten Internet-Unternehmen Amazon, Ebay und Google sind auf die unbedingte Performance und Ausfallsicherheit ihrer IT-Systeme angewiesen. Geht es um ihre IT-Architektur, hüllen sich die Unternehmen in Schweigen. Die Eckpfeiler lassen sich gleichwohl orten. Eine dreiteilige Artikelserie der computerwoche beleuchtet, mit welchen IT-Strategien die Gewinner des Internet-Booms das enorme Wachstum der vergangenen Jahre meisterten.

Den Anfang macht das Internet-Auktionshaus Ebay. Dessen Zahlen sind beeindruckend: Weltweit stehen ständig etwa 44 Millionen Artikel zum Verkauf, etwa vier Millionen Artikel werden jeden Tag neu eingestellt. Zu Spitzenzeiten verzeichnen die Seiten am Tag 889 Millionen Aufrufe, 270 Millionen Suchanfragen und 15 Millionen Gebote. Pro Sekunde werden dabei Datenmengen von bis zu 12 Gigabit versandt. Zum Vergleich: Am deutschen Knotenpunkt des Internets, dem DeCIX in Frankfurt am Main, laufen im Durchschnitt 20 Gbit pro Sekunde, in Spitzenzeiten bis 30 Gbit/s, zwischen den verschiedenen Teilnetzen hin und her. Für Ebay ist die Koordination dieser Daten und die ständige Erreichbarkeit der Web-Seiten überlebenswichtig, die technische Architektur muss dementsprechend solide sein.

ebay deutschland

Die Datenbank der Online-Auktionsplattform ist auf drei Standorte in den USA verteilt. Zwei der vier Datenzentren stehen in Santa Clara, eines in Sacramento und ein weiteres in Denver. Alle weltweiten Anfragen an die Datenbank landen an einem dieser vier Orte. Jedes Data Center beherbergt rund 50 Sun-Server. Schon die Kapazität eines Orts reicht aus, um das Auktionsgeschäft am Laufen zu halten – sieht man von den leistungshungrigen Suchanfragen der Nutzer ab. Die Datenzentren spiegeln ihre Informationen untereinander jedoch nicht, sondern dienen der Lastverteilung.

Die wichtige Basis von Ebay ist hauptsächlich auf Hardware von Sun und dessen Betriebssystem Solaris implementiert. Ein Blick auf die Kosten lässt die Dimensionen des „Projekts Ebay“ erahnen: Die „V880“-Server von Sun kosten mit Anschaffung und Support um die 100000 Euro pro Stück, die ebenfalls bei Ebay eingesetzten „V480″er um die 50000 Euro. Um den Benutzern das schnelle Suchen und Finden von Produkten zu ermöglichen, stellt die Firma zudem rund 130 Server anderer Hersteller mit insgesamt 1100 CPUs zu Verfügung. Dazu kommen weitere 280 Server für den E-Mail-Verkehr zwischen Ebay und Kunden. War früher die Zuverlässigkeit der Hardware das Problem, ist heute das Zusammenspiel der komplexen Computerstruktur die Kunst.

Seit einigen Totalausfällen vor etwa sechs Jahren hat Ebay die Systemarchitektur komplett überarbeitet. Im Juni 1999 war die Seite für 22 Stunden nicht erreichbar. Selbst der damals schon massive Hardwareeinsatz konnte das schnelle Wachstum der Seite nicht abfedern. Das Grundproblem lag in der monolithischen Struktur: Eine einzige Applikation beherbergte alle Funktionen von Ebay, alle Transaktionen auf der Seite trafen auf eine gigantische Datenbank. Fiel das System aus, begann stets eine zeitaufwändige Fehlersuche.

Für die Probleme, die das alte, proprietäre, schwer wartbare und schlecht skalierbare System bereitete, suchte Ebay die Lösung in einer lose gekoppelten, schichtweise und modular aufgebauten Struktur, die auf offenen Standards basiert. Ohne es so zu nennen, entwickelte Ebay mit der neuen Gesamtarchitektur ein Beispiel für Grid Computing: Aufgaben werden an verschiedene CPUs verteilt, die sogar an unterschiedlichen Orten stehen können.

Die Architektur, an der Ebay bis heute arbeitet, sieht folgendermaßen aus: Da der Ausfall eines Servers nicht die gesamte Site zum Einsturz bringen darf, werden die Datensätze und Aufgaben auf verschiedene Maschinen verteilt. So entstand eines der größten Storage Area Networks der Welt, ein Netz aus Festplatten, das, über Glasfaser verbunden, effizient zu steuern, enorm schnell ansprechbar und vor allem gegen Ausfälle gefeit ist.

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Auch die Software wurde komplett ausgetauscht. Lief Ebay früher komplett unter dem Internet Information Services (IIS) von Microsoft, baut die Architektur heute größtenteils auf einer J2EE-Basis auf. Die Enterprise Edition der Java 2 Platform stellt einen allgemein akzeptierten Rahmen zur Verfügung, um mit modularen Komponenten verteilte, mehrschichtige Anwendungen zu entwickeln. Ein weiterer Vorteil: Die Anwendungen sind auf verschiedenen Servern lauffähig. Arbeitsaufwändig wird dafür der gesamte Code der Ebay-Web-Seite von C++ in die plattformunabhängige Programmiersprache Java umgeschrieben. Mittlerweile sind 80 Prozent der Seite neu programmiert.

Heute: dreischichtige Architektur

Der Java-Code läuft auf dem „Websphere Application Server“ von IBM. Die J2EE-Architektur erlaubt es, die Anwendungen in mehrere Schichten zu unterteilen: die Präsentationsschicht, die Geschäftslogik und die Datenhaltung. In J2EE-Anwendungen sind verschiedene Komponenten für diese Aufgaben zuständig. Die Präsentationskomponenten, die die Web-Seiten erzeugen, werden als „Java-Servlets“ oder „JSP-Seiten“ bezeichnet, die Geschäftskomponenten als „Session-Beans“ und die Datenhaltungskomponenten als „Persistence-Beans“. Letztere verwendet Ebay allerdings nicht, sondern setzt ein eigenes Framework ein, um mit der Datenbank zu kommunizieren. Die allgemeine Implementierung dieser Schicht in J2EE beziehungsweise Websphere würde den Anforderungen von über 800 Millionen Anfragen am Tag nicht standhalten.

Insgesamt ergibt sich somit ein dreiteiliger Aufbau der IT-Architektur: eine Oracle-Datenbank auf Sun, die mit der J2EE-Websphere-Middleware kommuniziert, welche wiederum das IIS-Frontend bedient. Die weltweiten Nutzer bekommen von diesem Zusammenspiel nur die vom IIS gelieferten Web-Seiten zu sehen.

Ebay lässt keine Informationen aus dem sensiblen Bereich des IT-Aufbaus nach außen dringen; zu oft haben Hacker schon versucht, die Web-Seite zu manipulieren oder den Zugriff mit Denial-of-Service-Attacken zu verhindern. Dass Ebay in den Jahren zwischen 2000 und 2002 immer wieder einmal für Stunden nicht zu erreichen war, lag aber nicht an Angriffen von außen, sondern an dem ungünstigen Systemaufbau, der die immer größeren Datenmengen nicht bewältigen konnte.

Experimente mit Linux-Servern

Seit dem Umbau hat die Seite hier keine nennenswerten Probleme mehr, wohl aber woanders. Nicht nur, dass über einfaches Javascript lange Zeit ein Passwortklau möglich war, auch die Betrugsfälle haben sich gemehrt: Nach wie vor besteht Ebay nicht auf der korrekten Identifizierung seiner Nutzer, Identitätsdiebstähle führen zu illegalen Auktionen. Unbekannte ersteigerten so beispielsweise im Namen des Bundestagsabgeordneten Uwe Göllner ein Solarium im Wert von 30000 Euro.

Nahezu alle Länderseiten laufen weiterhin auf Microsofts IIS in der Version 6.0. Dass Ebay trotz der notorischen Unsicherheit des Web-Servers weiterhin IIS nutzt, stößt in Sicherheitskreisen auf Unverständnis. Nicht nur deshalb experimentiert das Auktionshaus auch auf AMD-basierenden Sun-Servern mit einer Linux-Variante.

Statische Inhalte lagern lokal

Deutschland ist nach den USA der wichtigste Umschlagplatz für Ebay. Rund die Hälfte des internationalen Umsatzes von 759 Millionen Dollar wird hierzulande erzielt. Waren es 2000 noch 1,1 Millionen registrierte Nutzer, sind heute mehr als 16 Millionen Deutsche bei Ebay eingetragen.

Bei einem Aufruf einer regionalen Ebay-Seite wird nur ein sehr kleiner Teil der Anfrage an eines der Datencenter in den USA weitergeleitet. Der Großteil der angeforderten Seite wird von einem Server in der Nähe des Nutzers bereitgestellt. Ebay hat bei dem Hosting-Dienstleister Akamai, der in 65 Ländern über 14000 Server betreibt, reichlich Volumen angemietet. Hier liegt unter anderem auch der statische Inhalt der Ebay-Website. Logos, andere Bilder und der HTML-Code müssen somit nicht aus den USA in die Welt verschickt werden. So landen nur rund fünf Prozent einer Anfrage überhaupt in den USA, der große Rest kommt jeweils aus den 28 Ländern, in denen der Konzern eine eigene Domain angemeldet hat. So lädt sich die Ebay-Web-Seite in Frankreich, Deutschland oder auf den Philippinen genauso schnell wie in den USA.

Die stete Erreichbarkeit der Seiten lässt Ebay von gleich zwei Unternehmen kontrollieren. Die Firma Gomez überprüft die Performanz beim Heimanwender, indem sie auf die Ebay-Seiten von über 50 Orten in aller Welt aus zugreift, während Keynote an den großen Backbones im Internet kontrolliert, wie schnell und sicher die großen Internet-Service-Provider in der Lage sind, Daten auszuliefern. Zusätzlich betreibt Ebay selbst ein internes System, das in mehr als 40 auf dem Globus verteilten Städten die Zugriffs-Fehlerraten überprüft und zugleich Hacker-Angriffe registriert.

Eine immer wichtigere Rolle spielen die Powerseller, die über Ebay ihren Lebensunterhalt erwirtschaften. Weltweit sollen dies an die 450 000 Menschen sein. Sie sind vom Funktionieren der Ebay-Site genauso abhängig wie der Konzern selbst. In Zukunft wird Ebay diesen Powersellern mehr Einblick in die hauseigene Datenbank geben. Jeder von ihnen soll dann in der Lage sein, mittels Analyse-Tools seine Geschäfte zu verbessern.

 

 

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Elektronische Kultur Psychoaktive Substanzen

Interview mit Wolfgang Sterneck

HanfBlatt, Nr. 100

Annäherung an das richtige Leben

Ein Interview mit Wolfgang Sterneck

Wolfgang Sterneck engagiert sich seit den Achtziger Jahren als Aktivist in alternativen Szenen. Durch die Mitgestaltung des Sonic-Netzwerkes, von KomistA und des Alice-Projects hat er sich ebenso einen Namen gemacht, wie durch seine zahlreichen Publikationen, die ihn als profunden Kenner subkultureller Strömungen ausweisen. Er verschafft wichtigen Stimmen der Gegenkultur Gehör und präsentiert anregendes Material zur Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Realisierung einer anderen Welt als der Desaströsen, auf die die Menschheit zwischen Überlebenskampf und Konsumrausch im Zeitalter der Globalisierung gegenwärtig zuzusteuern scheint.

Hanfblatt:
Du verfolgst als Aktivist und teilnehmender Beobachter seit Jahren die Entwicklung der Techno-House-Goa-Trance-Szene. Oberflächlich betrachtet scheint es sich heute um eine reine Feier-Kultur zu handeln, in deren Zentrum zünftige Drogenparties mit elektronischer Tanzmusik inklusive optisch stimulierender Lightshows und Deko stehen. Wenn man sich mit Veteranen der Szene unterhält, ist immer wieder vom „Party-Spirit“ in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Rede, der heute irgendwie nicht mehr so da sei. Was hat es mit diesem „Spirit“ auf sich? Was ist gemeint?

Sterneck:
Es ist nicht nur oberflächlich betrachtet „eine reine Feier- Kultur“. Der Mainstream ist zweifellos von Kommerz und Konsum geprägt. – Hauptsache Druff sein und „Spaaaß“ haben, nichts hinterfragen, am wenigsten sich selbst … Fische die mit dem Strom schwimmen. Wie alle Musikkulturen der letzten Jahrzehnte ist Techno mit einem idealistischen Anspruch im Underground entstanden. Da ging es um solche Aspekte wie „Do It Yourself“, um kreatives Experimentieren, um die gemeinschaftliche Erfahrung anderer Wirklichkeiten. All dies machte den besonderen Reiz der ersten Jahre aus. – Wobei diese Elemente nicht gestorben sind, sondern im Underground weiterleben. Doch im Mainstream gehen solche Ansätze zwangsläufig unter. Ursprünglich ging es beispielsweise um eine gemeinschaftliche Kultur, die keine Idole nötig hat. Inzwischen sind jedoch längst die bekannten Djs zu egozentrischen Stars geworden, die sich kaum von Rockstars unterscheiden und zu denen das Party-Volk ergeben hinaufblickt.

Hanfblatt:
Seit einigen Jahren kann man „Alice – The Drug- and Culture- Project“, an dem du maßgeblich beteiligt bist, auf Parties und Festivals mit elektronischer Tanzmusik antreffen. Ihr engagiert euch für einen „mündigen Umgang mit psychoaktiven Substanzen“. Was muss man sich unter „Drogenmündigkeit“ vorstellen, und auf welchem Weg kann diese nach euren Vorstellungen erreicht werden?

Sterneck:
Wir sind nicht nur auf Partys aktiv, sondern auch in Schulen oder auf Tagungen anzutreffen. In Bezug auf Drogen versuchen wir Drogenmündigkeit zu fördern. Dies beinhaltet einen möglichst souveränen Umgang mit Drogen aller Art, die Fähigkeit (aber nicht den Zwang) zur Abstinenz, ebenso die Fähigkeit sich selbst bzw. den eigenen Umgang mit Drogen kritisch reflektieren zu können. Dieser Ansatz schließt im Grunde das ein, was man allgemein als Suchtprävention bezeichnet, also das Vermeiden von Abhängigkeit. Er geht aber noch viel weiter, indem er nicht nur negativ auf Probleme konzentriert ist. Vielmehr versucht er die Person an sich zu stärken: Mündigkeit durch Information, Reflexion durch kritische Auseinandersetzung, Selbstbestimmung durch innere Stärke. Vor diesem Hintergrund geht es uns nicht nur um Drogen. Vielmehr versuchen wir generell über Veranstaltungen, kulturelle Projekte, Flyer etc. die Leute dazu anzuregen, aus der so weit verbreiteten passiven Konsumhaltung auszubrechen und selbst aktiv bzw. kreativ zu werden, um letztlich ihr Leben den Klauen von Fremdbestimmung und Verwertung zu entreißen.

Hanfblatt:
Was unterscheidet euch von „Eve & Rave“, dem ebenfalls aus der Techno-Szene erwachsenen Selbsthilfe-Projekt in Sachen bewussterem Umgang mit psychoaktiven Substanzen?

Sterneck:
Da gibt es im Grunde keine inhaltlichen Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit Drogen. Beiden Projekten geht es um möglichst sachliche Aufklärung, um die Entwicklung von Bewusstsein und um Hilfe bei Problemen. Uns verbindet das Ziel der Drogenmündigkeit und zum Beispiel die Forderung nach der Einführung des Drug-Checking. Mit anderen Projekten sind wir im Sonics- Cybertribe-Netzwerk zusammengeschlossen. Uns verbindet jedoch auch, dass wir den von dir benutzten Begriff der „Selbsthilfe“ nicht gebrauchen. Dieser Begriff wurde in der Anfangszeit oft genutzt, um uns zu schwächen bzw. in eine bestimmte Ecke zu stellen: „Das sind die Technos, die versuchen ihre Drogenprobleme selbst zu therapieren“. Dies war und ist jedoch bei Alice nie der Fall gewesen. Vielmehr geht es uns darum, Veränderungen zu bewirken, zumindest die Notwendigkeiten aufzuzeigen: Veränderungen im Umgang mit Drogen auf einer persönlichen wie gesellschaftlichen Ebene, aber auch unabhängig von der Drogenthematik generell, um soziale und kulturelle Veränderungen.

Hanfblatt:
In deinen Schriften ist immer wieder von kulturellen Freiräumen, Visionen eines befreiten Lebens und einer konkreten Utopie die Rede. Gefühlsmäßig habe ich da zwar gleich meine eigenen Assoziationen, aber was genau meinst Du damit?

Sterneck:
In Anbetracht der sozialen und ökologischen Entwicklungen ist es eigentlich offensichtlich, dass es zu grundlegenden Veränderungen kommen muss. Doch derartige Veränderungen in einem größeren Maßstab erscheinen im Zeitalter der Globalisierung geradezu illusionär. Dies heißt jedoch nicht, dass man den Kopf in den Sand stecken sollte. Es ist auch im Hier und Jetzt möglich, Freiräume zu schaffen, in denen ein Leben möglich ist, das von Prinzipien wie Gemeinschaftlichkeit, Kreativität, Selbstbestimmung, Balance mit der natürlichen Umwelt etc. geprägt ist. Zum Beispiel kann ein besetztes Haus im Idealfall einen solchen Freiraum bieten oder eine Underground-Party oder eine kleine Gruppe von Leuten, die vor Ort in ihrem Bereich etwas verändern wollen oder unzählige andere Möglichkeiten. Eine Volxküche beispielsweise, wie es sie in vielen linken Zentren gibt, in der zum Selbstkostenpreis gekocht wird, damit sich jeder das Essen leisten kann, aber auch um die Vereinzelung der Ein-Personen-Haushalte aufzubrechen. Oder eine Party, die nicht am finanziellen Gewinn ausgerichtet ist, sondern die Gäste wie VeranstalterInnen gemeinsam gestalten. Oder eine politische Aktion, die der neoliberalen Globalisierung eine solidarische Vernetzung von unten entgegensetzt. Es gibt unzählige solcher Ansätze. Das Entscheidende ist die innere Bereitschaft jedes Einzelnen in seinem Bereich solche Türen zu öffnen. Mit einem Joint in der Hand endlos darüber zu philosophieren, was man alles machen könnte und sollte und müsste – und dann wird schon wieder der nächste gerollt – ist einfach und bequem … aber wer über das Philosophieren nicht hinaus kommt, der ist ein Teil des Problems und nicht der Lösung.

Hanfblatt:
Innerhalb und aus der Techno- und Rave-Szene heraus haben sich diverse kleinere Subkulturen entwickelt, von denen du in deinen Büchern, z.B. in „Tanzende Sterne“, berichtest, und die sich vielleicht als „Cybertribes“ subsummieren lassen. Gibt es tatsächlich etwas, was all diese Szenen verbindet?

Sterneck:
Egal auf welche Musikkultur man blickt oder in welcher Stadt man sich gerade bewegt – wer genauer hinschaut wird immer wieder auf Leute und Projekte stoßen, die versuchen andere Wege zu gehen, die versuchen sich Kommerz und Vereinnahmung zu widersetzen. Diese Leute findest Du im Free Jazz genauso wie im Punk, HipHop oder Techno – allerdings in der Regel nur im Underground. Die Rhythmen sind zum Teil andere, die Texte unterscheiden sich in ihren Metaphern, aber im Grunde geht es immer wieder um Selbstbestimmung, um Gemeinschaft, um Entfaltung, um eine innere Tiefe.

Hanfblatt:
Wenn man sich so umschaut, dann muss man doch feststellen, dass der Boom der letzten großen, wirklich neuen Jugendkultur um die Techno-Szene herum, lange schon vorbei ist. Die Kommerzialisierung erfolgte weitestgehend bis Mitte der 90er, Deppentechno a la Blümchen und „Hyper Hyper“, Sponsoren wie Camel und Jägermeister, Bier-Parade und leere Phrasen a la Dr. Motte ließen grüßen.

Hanfblatt:
Du bist ja ein profunder Kenner gegenkultureller Strömungen. Siehst du irgendwo Pflänzchen der Hoffnung? Worauf sollte man deines Erachtens sein Augenmerk richten? Was kann man selber tun?

Sterneck:
Im Zuge der medialen Gleichschaltung vollzieht sich die Vereinnahmung von Strömungen, die irgendwo im Underground als zumindest potentiell subversive Gegenkultur entstanden sind, immer schneller. Doch so verschlingend die Mechanismen der Gleichschaltung auch sein mögen, ein letztes Stück innerer Lebendigkeit, das Bedürfnis nach freier Entfaltung und Selbstbestimmung, wird immer gegeben sein. Die „Pflänzchen der Hoffnung“, von denen du sprichst, kannst du überall finden, wenn du hinter die Fassaden der Nachrichtenshows und der Plakatwände blickst. Mal ist es eine blühende Sonnenblume, mal eine dornige Rose oder irgendein auf den ersten Blick völlig unscheinbares Pflänzchen, das sich da zwischen den Betonplatten widerspenstig seinen Weg bahnt. Es geht nicht um die Frage, ob es diese „Pflänzchen“ gibt, sondern, ob du sie wahrnimmst, ob du sie gießt – und letztlich, – um in diesem Bild zu bleiben – ob du selbst bereit bist, dem Heer der künstlichen Plastikblumen einen eigenen verwilderten Garten, so winzig er auch sein mag, entgegenzustellen.

Hanfblatt:
Du hast ja mehrere Bände mit interessanten Texten zu verschiedenen Themenschwerpunkten zusammengestellt. Was interessiert dich da besonders? Worum geht es dir dabei?

Sterneck:
Ein Aspekt ist, dass es mir darum geht Verbindungslinien aufzuzeigen. Beispielsweise zu dokumentieren, dass man den Geist der Revolte in der Hippie-Kultur, genauso wie im Punk, dem HipHop oder im Techno finden kann. Ein anderer Aspekt, der immer wieder auftaucht, ist die Verbindung von innerer, persönlicher Entwicklung und äußerer, gesellschaftlicher Veränderung. Isoliert führen beide Wege schnell in eine Sackgasse, miteinander verknüpft eröffnen sie neue Möglichkeiten. Manchmal geht es mir auch darum, im Rahmen meiner Möglichkeiten kleine „Denkmale“ zu schaffen. Zum Beispiel ein Projekt oder einen Musiker zu beschreiben, der Wichtiges bewegt hat, aber zuvor kaum Beachtung fand. Neben dieser ideellen bzw. politischen Ebene suche ich mir selbstverständlich Themen aus, die mir irgendwie nah sind, die mich selbst beschäftigen. Für mich gibt es in diesem Sinne keine Trennung von Arbeit und Freizeit. Ich mache Dinge, von denen ich überzeugt bin, und auf dieser Basis gehen Idealismus, Entfaltung und Vergnügen ineinander über.

Hanfblatt:
In dem Band „Erotika. Drogen und Sexualität“ versammelst du eine ganze Reihe Erzählungen, Autobiographisches, Geschichtchen von bekannten und unbekannten Autoren, die alle mit Sexualität und Drogen zu tun haben. Voyeuristisch gesehen fand ich persönlich das zwar ganz interessant, was sich mir jedoch nicht so recht erschloss, war die Intention dahinter. Was soll ich damit anfangen?

Sterneck:
Die Antwort auf die Frage, was Du damit anfangen sollst, ob du einen Bezug findest oder nicht, die nehme ich dir nicht ab. Es gibt kaum andere Bereiche, die gesellschaftlich einerseits so tabuisiert sind und mit denen andererseits so scheinbar locker umgegangen wird, wie die Bereiche der Sexualität und der Drogen. Gleichzeitig eröffnen beide Bereiche im Idealfall eine Tiefe ein „inneres Fließen“ wie es ansonsten im Alltag kaum möglich ist. Der Rausch der Sexualität gleicht im Idealfall einem veränderten Bewusstseinszustand, gleicht einer Überwindung des blockierten Alltagsbewusstseins. Ebenso können im Idealfall auch psychoaktive Substanzen innere Räume eröffnen, die zuvor völlig verschlossen waren. Sex und Drogen können aber auch auf sehr vielfältige Weisen diese inneren Räume völlig verschließen. Verbindet man nun Sex und Drogen, dann können sich diese Möglichkeiten noch einmal potenzieren. Der viel beschworene, aber nur selten erlebte „kosmische Orgasmus“ oder eine verschmelzende Zärtlichkeit gehört genauso zu diesen Möglichkeiten wie völlig verkrampfte Situationen, Impotenz oder gar Missbrauch. Für mich persönlich war es spannend, all die verschiedenen Zugänge zum Thema zusammenzutragen. Von wissenschaftlichen und historischen Betrachtungen bis hin zu äußerst offenen Erfahrungsberichten und Literaturauszügen. Nicht zuletzt sollte solch ein Thema nicht nur trocken abgehandelt werden, sondern in einem besonderen Maße auch eine im erotischen Sinne anregende Wirkung haben.

Hanfblatt:
Besteht nicht in jeder Subkultur das Risiko, dass sie sich zu weit von den gesellschaftlichen Realitäten entfernt und sektiererische Züge annimmt? Wie kann man dies vermeiden und die Bodenhaftung behalten?

Sterneck:
Klar, das ist immer eine Gefahr. Manchmal ist es wichtig sich auf Inseln zurückzuziehen, aber man darf nie vergessen, dass jede Insel von einem Meer umgeben ist. – Und dieses Meer prägt. So idealistisch wir auch sein mögen, wir tragen alle unsere schrägen Egos mit uns herum, die uns schon in der Kindheit anerzogen wurden. Und auch als Erwachsener wird es nie möglich sein, sich völlig dem umgebenden Meer zu verschließen. Das muss uns immer bewusst sein. Den perfekten Umgang mit diesen Strukturen gibt es nicht. Ein naheliegendes und doch so selten gebrauchtes Mittel ist das der Hinterfragung und Selbstreflexion, der Kritik und Selbstkritik. Sich neben sich zu stellen und zu schauen, was geht überhaupt mit mir ab, ist dies noch der Weg den ich bzw. wir einschlagen wollten? „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ hat Adorno mal gesagt. Aber es besteht die Möglichkeit und die Notwendigkeit sich diesem zumindest anzunähern.

 

Publikationen von Wolfgang Sterneck
(als Herausgeber und Autor, Näheres unter www.komista.de, www.sterneck.net und www.nachtschatten.ch):

„Cybertribe-Visonen“
„Der Kampf um die Träume. Musik und Gesellschaft.“
„Erotika. Drogen und Sexualität“ (und als Auszug daraus „Das Utopia der Lust“)
„Psychedelika. Kultur, Vision und Kritik.“
„Inside. Modern Primitives, Dunkle Erotik und Subversive Rituale.“
„Tanzende Sterne. Party, Tribes und Widerstand.“
„Stille, Bewusstsein und Veränderung“ (gemeinsam mit John Cage, inklusive CD)
„Connecta-Music, Mind and Politics“ (CD & DVD, siehe www.alice-project.de)

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Elektronische Kultur

Wohin mit den E-Mails von Schriftstellern?

DU, Nr. 752, Heft 11/2004

Schriftsteller im Datennirvana

Wer sichert eigentlich die E-Mail Korrespondenz von Autoren?

Bedrohlich sind Gedächtnislücken immer dann, wenn Elementares zu verschwinden droht. Auch die literarische Welt nutzt seit über zehn Jahren E-Mail, wie aber die weltweite Korrespondenz von Romanciers und Publizisten für die Nachwelt gesichert werden kann, dafür gibt es kaum konkrete Pläne. In der Flut von Interviewanfragen, Einladungen und dem unvermeidlichen Spam geht der elektronische Gedankenaustausch mit Freunden, Widersachern und Verlegern unter. Dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft droht die digitale Lücke.

Früher, ja früher, da war das einfacher. Briefe wurden auf Papier geschrieben und landeten im Archiv. Freundliche Erben hinterließen den Bibliotheken und Stiftungen den Nachlass, darunter waren oft Tausende von handgeschriebenen und getippten Schriftstücken. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verwahrt beispielsweise über 1000 solcher Autorennachlässe.

Und heute? In den USA werden schon seit acht Jahren mehr E-Mails als Briefe verschickt und auch europäische PC-Besitzer senden lieber Mails als noch zur Post zu rennen. Die Folge: Im Jahr entstehen weltweit rund 400.000 Terabytes an Informationen durch E-Mail Verkehr, das entspricht ungefähr den Büchern von 40 Universitäts-Bibliotheken. Der umtriebige Surfer erhält täglich bis zu 60 E-Mails und muss sich entscheiden, ob, wohin, und vor allem in welchem Format er sie abspeichert.

Die moderne Kommunikation wartet nicht nur mit einer Vielfalt von E-Mail-Programmen auf, die die Botschaften meist properitär codieren, sondern zudem mit Dateien in Mail-Anhang. Deren Vielfalt stellt jedes ausgewachsene Rechnersystem vor eine Interpretationsaufgabe. Word- und Adobe Acrobat Dokumente belagern die Festplatte ebenso eingescannte Briefe im jpg, tif, oder, schlimmer noch, bmp Format. Jedes Software-Firma sucht ihre Codierungsart als Standard durchzusetzen, denn das verspricht Geld und Ruhm.

Die Folge ist ein Wildwuchs an Formaten, die mit den Jahren obsolet werden. Ältere digitale Dokumente verweigern sich gerne der Wiederherstellung, sind sie doch häufig in einem Format oder auf einem Medium abgespeichert, das heute nicht mehr lesbar ist. „Kann man alles Konvertieren, kein Problem…“, mailt Urs Gattiker, Professor für Management und Informations-Wissenschaft an der International School of New Media in Lübeck.

Nicht immer. So wurden in den 80er Jahren Millionen von Briefen und Studienarbeiten auf dem damals beliebten ATARI ST mit der Textverarbeitung „Signum“ verfasst. Deren Konvertierung ist heute nicht mehr möglich. Im Keller der British Library lagern Lochkarten eines Computers aus den sechziger Jahren, die vom Evolutionsbiologen Bill Hamilton gestanzt und nun nicht mehr entschlüsselt werden können. Die Institution ist auch stolzer Besitzer eines Geräts des Klimatologen James Lovelock, zu dem leider nur das Netzkabel fehlt.

Die ehrwürdige Library hat nun als eine der ersten Bibliotheken einen Kurator für digitale Manuskripte angestellt. Jeremy John soll die Archivierung der E-Mails bedeutender Schriftsteller und Wissenschaftler organisieren. Eine Aufgabe, der sich andere europäische Staaten bisher nicht stellen. Das Marbacher Literaturarchiv sieht sich bislang nur in der Lage, E-Mails aus ihnen überlassenen Nachlässen zu sortieren, eine Beschaffung und Speicherung aktueller Nachrichten sei bisher, Zitat, „nur angedacht“.

Selbst wenn Autoren keine Berührungsängste vor digitalen Welten hegen und ihre Post und Manuskripte brav auf CDs brennen, ist künftigen Generationen der Einblick in ihre Arbeit nicht garantiert. Eine CD-ROM hält unter guten Bedingungen die Daten zwischen drei und 15 Jahren authentisch parat. Danach verschwinden die Bits ins digitale Nichts.

In einer Zeit, wo die Antwort auf die meisten Fragen „Technik“ heißt, löst man auch diese Probleme auf dem herkömmlichen Wege: Auf der ganzen Welt sind Vollzeitkräfte damit beschäftigt, eingescannte oder digital erstellte Bilder, Dokumente und Filme ins nächste Hard- und Software-Zeitalter zu retten, indem sie die Informationen regelmäßig auf neue Datenträger kopieren und in das just moderne Datenformat konvertieren.

So viel Code war nie. Die enorme Anhäufung von digital verfügbarer Informationen stehen ebenso riesige Verluste gegenüber. Geht es nach den Apologeten des Cyberspace soll E-Mail den herkömmlichen Papierbrief bald ablösen. Aber das sind vielleicht dieselben Auguren, die vor Jahren die Ära des papierlosen Büros vorhergesagt haben. In Institutionen wie dem Marbacher Literaturarchiv will man so schnell eh nicht denken. Dort ist man sich noch nicht einmal einig, ob E-Mail nicht doch eher mit einem Telefonat vergleichbar und daher nur bedingt speicherungswürdig ist.

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Ich© liebe Dich®

telepolis v. 1.11.2004

Ich© liebe Dich®

Das Markenregister wird mit immer abstruseren Werbe-Slogans zugemüllt, der Markenschutz zur Allzweckwaffe gegen die Mitbewerber

Nicht immer, aber immer öfter melden Global Player und kleine Klitschen ihre Werbe-Slogans beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) oder dem europäischen Harmonisierungsamt (HABM) an. Die Einordnung aller möglichen Slogans als schützenswertes Gut nimmt groteske Formen an, das DPMA-Register gilt als verstopft und mit ungenutzten und unnützen Marken zugemüllt. „Heul doch!“, „Ich bin da“, „Du kannst“ – selbst Floskeln wie „Unter uns“ sind inzwischen in privater Hand und genießen den Schutz des Markengesetzes. Ist es nur noch eine Sache der Zeit bis die Hardware-Hersteller gleich neben das €-Zeichen das © auf die Tastatur legen?

Schuh
Es ist bekannt: Die Eroberung der Käuferherzen erfolgt heute nicht mehr über die Güte der Ware, sondern deren Prestige. Dass Unternehmen ihre Slogans, neudeutsch „Claims“, rechtlich sichern, ist Resultat der Entwicklung von der Qualität des Produkts zu dessen Image. Heute sind die Artikel-Assoziationen im Kopf des Kunden wertvoller als das Produkt selbst. Die Macht der Marke beruht weithin auf ihrem immateriellen Wert.

Wer muss bei dem Satzfragment „Nichts ist unmöglich…“ nicht automatisch an den japanischen Automobilhersteller denken? Wem es gelingt seine Werbe-Kampagne auf die sprachliche Essenz eines knackigen Slogans einzudampfen, der ist dem Herz des Kunden schon ein Stück näher gekommen. Jede noch so ausgebuffte Produkt- oder Dienstleistungsstrategie bleibt luftleer, wenn sie nicht mithilfe der Werbung mit den Wünschen und Vorstellungen des Kunden spielt. Geht das Kalkül auf, verselbstständigt sich der Slogan und ist in aller Munde; im Bewusstsein des Kunden verbindet dann stets ein dünner Bewusstseinsfaden den Slogan mit dem Produkt.

Unternehmen suchten schon früher ihre Kundenbindungssprüche rechtlich abzusichern. Nur stand dem Jahrzehnte lang die Eintragungspraxis des DPMA und die Rechtsprechung der Patentgerichte entgegen. Aber über die Jahrzehnte wurde die Schutzfähigkeit von Slogans immer mehr ausgeweitet und ein Ende ist nicht in Sicht.

Ein Blick zurück in die Geschichte der Slogans in Deutschland zeigt das Ausmaß der Veränderung. In der Zeit vor der Einführung des Markengesetzes im Jahre 1995 wurden nur solche Werbesprüche eingetragen, die auf einen spezifischen Geschäftsbetrieb hinwiesen. So erschien meist der Firmenname des Herstellers oder eine bereits als Marke geschützte Bezeichnung im Reklamespruch: „Genießer trinken Doornkaat.“-Slogans, die weder Firmenname noch eine Marke enthielten, wurden damals regelmäßig als eintragungsunfähig angesehen. DPMA, Bundespatentgericht und Bundesgerichtshof (BGH) stellten mehrmals fest, dass solche Spruchfolgen als „allgemein reklamehaft“ zu gelten haben, weil sie dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen wären.

„Phantasievoller Überschuss“ ist der Zauberstab

Zu einer ersten Aufweichung dieser Praxis kam es nach Inkrafttreten des Markengesetzes. Das Bundespatentgericht gab Klagen von Firmen statt, die ihren Slogan unbedingt geschützt sehen wollten. Ab jetzt reichte es aus, Worte ungewöhnlich miteinander zu kombinieren oder sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Das neue Zauberwort hieß „phantasievoller Überschuss“, und dieser war schon gegeben, wenn der Slogan mit seinem Wiedererkennungswert eine betriebliche Hinweiswirkung verband. Einfacher gesagt: Wenn der Slogan ungewöhnlich klang und keine im Sprachraum gebräuchliche Wortfolge für den Artikel darstellte, dann war er eintragungswürdig. Man gönnt sich ja sonst nichts.

LogoDuDarfstEin Beispiel: So erstritten ein Hersteller einer Margarine die Eintragung der Wortmarke „Du darfst“ ins Markenregister und eine Firma für Haushaltsgeräte den Begriff „Zisch & Frisch“. Die Richter waren der Meinung, dass „Du darfst“ eine unvollständige Aufforderung darstellte, deren gedankliche Ergänzung durch den Kunden den Kriterien des „phantasievollen Überschusses“ entsprach. Im Urteil zu den Küchenmaschinen machte die Lautmalerei des „Zisch“ in Zusammenhang mit dem „Frisch“ bei den Richtern Eindruck. Im selben Jahr (1997) hatten der 26. Senat des hohen Gerichts allerdings den Slogan „IS EGAL“ abgeschmettert. Da fragte sich der abgewiesene Getränkeabfüller, wenn „Du darfst“, warum „IS“ das dann nicht „EGAL“?

Zisch&Frisch öffnete die Schleuse, es folgte eine Flut von Klagen, die von den Gerichten mit immer spitzfindigeren Jurisdiktionen beantwortet wurden. Die Branchen bemühen sich um kurze, originelle und möglichst witzige Wortfolgen, um die begehrte Eintragung beim Markenamt zu erhalten. Diese gilt zunächst für zehn Jahre, ist aber beliebig oft verlängerbar und damit unsterblich.

Die Rechtsprechung des Bundespatengerichts wurde nahezu unberechenbar. Die Patenanwältin Alexandra Fottner spricht vorsichtig von einer „sehr subjektiven Auffassung“ des Gerichts hinsichtlich der Schutzfähigkeit von Werbeslogans. So wurde „Energie mit Esprit“ als eintragungsfähig angesehen, während „Partner with the Best“ diese Ehre nicht zuteil wurde. Einem Badener Radiosender wurde das zu bunt, er zog vor den BGH um seine kreative Wortfolge „Radio von hier, Radio wie wir“ durchzuboxen. Mit dem dann folgenden richtungsweisenden Beschluss des BGH trat die rechtliche Absicherung der Slogans in die dritte Phase ein.

Der BGH stellte in dem wegweisenden Urteil am 8. Dezember 1999 fest, dass an Slogans keine höheren Anforderungen als an andere Wortmarken (wie „IKEA“) gestellt werden dürfen. Seither können flotte Wortkombinationen für eine oder gar mehrere der 45 Produktklassen immer dann angemeldet werden, wenn sie eine deutliche Unterscheidungskraft besitzen.

Erst anmelden, dann weitersehen

Heute ist es nur noch die vermeintliche Originalität und Prägnanz des Slogans, die zur Entscheidung über die Eintragung herangezogen werden. So hob der BGH einen Beschluss des Bundespatentgerichts aus dem Jahre 1997 auf, der den Begriff „Unter uns“ noch als lexikalisch nachweisbare Redensart und allgemein gebräuchliche Redewendung angesehen hatte.

Dem entgegen sah der BGH in „Unter uns“ eine originelle Verkürzung des Satzes „unter uns gesagt“. Aus der Verkürzung resultiere, so der BGH, eine Mehrdeutigkeit, die der Kunde auflösen muss. Mehr noch, der Slogan könne auch in einem sozialen Sinne interpretiert werden, wonach der Kunde mit dem Erwerb des Produktes zu einer Gemeinschaft gehöre, wobei diese Gruppe unklar bliebe. Angesichts dieses juristischen Feinstricks murmelten einige Anwälte dann doch: „Ich bin doch nicht blöd.“

Die UFA nahm das Urteil dankbar an, sie hat sich den Titel ihrer Soap „Unter uns“ nicht nur in der Leitklasse 41 (Erziehung, Unterhaltung), sondern in 20 weiteren Klassen (darunter Seifenprodukte, Büromaterial und Schmuckwaren) schützen lassen.
Allein Elektro-Gigant Siemens hat über 3.000 Marken in allen möglichen Klassen angemeldet. Das Problem: Das DPMA überprüft nur die in § 8 des Markengesetzes genannten „absoluten Schutzhindernisse“, das sind solche Marken, die „ausschließlich aus Zeichen oder Angaben bestehen, die im allgemeinen Sprachgebrauch oder in den redlichen und ständigen Verkehrsgepflogenheiten zur Bezeichnung der Waren oder Dienstleistungen üblich geworden sind“. Um dies zu verdeutlichen: Die Wortmarke „Bester Regenschirm“ ist als Bezeichnung für Regenschutz gängig, besäße aber für Geldschränke (Klasse 6) durchaus die erforderliche Unterscheidungskraft.

Ist die Hürde des § 8 genommen, kann der Slogan theoretisch auf alle der 45 Klassen ausgedehnt werden. Erst wenn sich ein Mitbewerber daran stößt, dass diese Wortmarke in einer – aus seiner Sicht – falschen Klasse eingetragen ist, wird es spannend; es wird geklagt. Vor dem Bundespatentgericht kommt es jährlich zu über 2.000 Markenrechts-Prozessen über ähnlich lautende, abgewiesene oder unbenutzte Marken. Allerdings können sich kleinere Unternehmen diesen kostspieligen Rechtsweg nicht leisten, der Kampf gegen die Rechtsabteilungen großer Handelskonzerne wird gescheut.

Markenrechtsexperten wie Volker Jänich, Professor für Bürgerliches Recht und Gewerblichen Rechtschutz an der Universität Jena, weisen deshalb darauf hin, dass mit der Ausdehnung des Markenschutzes die Beschränkung des Verhaltenspielraums der Mitbewerber einhergeht. „Natürlich ist das Markenrecht auch ein Monopolisierungsrecht“, gibt Jänich zu bedenken, „und durch hohe Prozessrisiken sowie die immanente Drohfunktion eingetragener Schutzrechte droht heute eine Erlahmung der ökonomischen Entwicklung.“ Mit anderen Worten: Weil immer mehr Marken und Slogans geschützt sind, wird der Raum für die Ideen neuer Unternehmungen eng.

Die extreme Ausweitung des Schutzbereichs für Wortmarken lässt sich allerdings statistisch schwer untermauern. Beim DPMA schlüsselt man die eingetragenen Wortmarken nicht nach Slogans und normalen Wortmarken (NIVEA) auf. Über die Jahre ist die Zahl der angemeldeten Wortmarken konstant: Durchschnittlich werden im Jahr an die 60.000 dieser Marken angemeldet, beim europäischen Pendant, der HABM, noch einmal etwa 30.000. Zur Zeit sind in Deutschland rund 1 Million Marken geschützt.

Um ihren guten Namen gesichert zu sehen und Trittbrettfahrern, aber auch Wettbewerbern keine Chance zur Entfaltung zu geben, melden beispielsweise Konzerne wie der Autohersteller „Jaguar“ ihre Marke in für sie eigentlich abstrusen Markenklassen an. Der englische Fabrikant möchte vermeiden, dass ein Schokoladenhersteller auf die Idee kommt, seinen schnittigen Riegel „Jaguar“ zu nennen. Erst anmelden, dann weitersehen.

So werden ganze Branchen von der Nutzung eingängiger Produktbezeichnungen abgehalten. Auch hier muss das DPMA untätig zusehen, wie immer mehr Wortmarken das Register füllen. Das Amt sieht sich außerstande zu überprüfen, ob die angemeldete Marke überhaupt genutzt wird oder nur der präventiven Abwehr dient. Zwar wird eine Marke, wenn sie fünf Jahre lang nicht genutzt wurde, gelöscht, aber auch diesen Nachweis muss ein Konkurrent vor Gericht und nicht das DPMA führen.

Schwierig wird die juristische Interpretation des Markengesetzes auch dort, wo eine neue Wortkombination gerade erst auf dem Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch sind. So trug das Markenamt in den euphorischen Tage der frühen Internet-Ära Marken wie „Explorer“ ein. Später löschte das DPMA einige der Eintragungen wieder, andere dieser Prosa, wie etwa „Site Promotion“, sind noch heute geschützt.

Aber nicht nur die Startups machen den Angestellten bei DPMA zu schaffen. Im September des vergangenen Jahres ließ sich die Firma Zentis die Marke „Caffe Latte“ schützen. Damit ist nun auch die Jahrzehnte alte und wohlbekannten Bezeichnung für Milchkaffee in Firmenbesitz. Der Trick bei der Anmeldung: Die Anwälte von Zentis meldete ihr Produkt in der Leitklasse 29 (Milchprodukte) an, unterließen aber in der Erläuterung die explizite Bezeichnung ihres Erzeugnis; von „Kaffee mit Milch“ oder einem Mixgetränk ist nirgendwo die Rede. Dennis Sevriens, Anwalt für Markenrecht in Berlin, spricht von „einem üblichen Vorgehen“, würden damit doch „die Prüfer beim DPMA auf die falsche Fährte gelockt werden“. Große Unternehmen würden vermehrt Trends beobachten, um aufkeimende Begrifflichkeiten gleich als Marke zu schützen.

Slogan- und Markenwahn

Letzter Höhepunkt des Sloganhypes ist die Eintragung des Gemeinplatzes „Ich liebe es“ durch McDonald’s. Das DPMA erklärte den Claim als ungewöhnlich genug zur Bezeichnung von Fast-Food und trug ihn brav ins Register ein. Die deutsche Werbeagentur Heye & Partner „erfand“ diesen Slogan und gewann einen von der Hamburger-Kette ausgeschriebenen Wettbewerb damit. Wo früher nur ausgedehnte Hirnakrobatik oder der geniale Einfall honoriert, geschützt oder patentiert wurde, landet heute jede morgendliche Eingebung unter der Dusche bereits am Nachmittag beim Markenamt. Grenzen dafür, das Sätze in den Besitz von jemand übergehen, scheint es zur Zeit kaum zu geben. Alles nach dem Motto: Geiz ist geil.

Nichts ist unmöglich. Das Markengrabbing wird durch die Arbeit des 1993 gegründeten Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt noch verstärkt. Hier reicht ein Eintrag und der Slogan ist für den gesamten europäischen Raum gesichert. Die im spanischen Alicante sitzende Institution hat seit Beginn ihrer Tätigkeit die Anforderungen an Reklamesprüche nicht hoch angesetzt. Sie gab den Grundsatz der bis dahin für Slogans nötigen Kürze, Prägnanz und Mehrdeutigkeit auf. 1999 gab das Amt einer Firma Recht, die den Satz „Beauty isn’t about looking young but looking good“ gesichert sehen wollte. Auch Satzungetüme wie „the best british clothing for the worst british weather“ sind mittlerweile eingetragen.

Fachanwälte wie Fottner sind überzeugt davon, dass im Zuge der europäischen Harmonisierung auch der BGH nicht mehr starr an dem Grundsatz der Slogan-Kürze festhalten wird und „zukünftig auch längere unterscheidungskräftige Wortfolgen zur Eintragung zulassen wird“.
Durch die Akzeptanz der Anglizismen werden die Werbesprüche international übergreifend. Mit dem Schuh ist auch die Nachricht vom „Just do it“ im hintersten Andendorf angekommen. Der Nike-Treter klebt am Fuß, die mit ihm vermittelte „Message“ haftet im Hirn. Heute kauft man weniger das Produkt selbst, sondern den damit verbundenen Lebensstil, der Gebrauchswert rückt merklich hinter den Symbolwert zurück. Deshalb ist die Frage für Unternehmen heute nicht „Was biete ich?“, sondern „Wie wirke ich?“. Aus der Mixtur von Vertrauen (statt Nutzen) und der Fokussierung auf die Stil-, statt die Zielgruppen wird heute das erfolgreiche Marketing-Rezept gebraut. Die Verbildlichung des Stils zum Image leistet das Logo, die Verbalisierung der Slogan.

Nicht umsonst heißt der Slogan unter Werbern auch „Claim“, ein Ausdruck aus dem Wilden Westen, der das Abstecken des eigenen Besitzes mit Grenzpfählen besagt. Slogan wiederum bedeutet soviel wie „Schlachtruf“. Das „Branding“ einer Marke lehnt sich ebenfalls an den Cowboyslang an. Damals brannte man dem Vieh sein Zeichen ein, auch heute steht der Kunde als Ochse auf der Weide der bunten Warenwelt, um von einer Firma ihren Code ins Hirn gebrannt zu kriegen.

Deutsche Kaufmänner zeigen keine Scheu vor der englischen Sprache, wohl wissend, dass die Bevölkerung sich mit den Anglizismen längst angefreundet hat. Auch hier sind es die seltsamsten Verheißungen, die ihren Eingang in die Kartei finden: „eat the best…“, „feel the best…“, „think the best…“, und natürlich auch „be the best…“ sind alle fest in deutscher Hand bei den Ämtern. Die deutsche Wirtschaft zeigt sich ohnehin äußerst markenfreudig. Rund 25% der beim europäischen HABM registrierten Marken stammen aus den USA, gleich dahinter liegen deutsche Firmen mit 17%.

Mittlerweile treibt der Eintragungswahn Blüten. Der Satz „Ich bin Christ“ ist seit einem Jahr als Wort-Bildmarke geschützt und befindet sich nicht in den heiligen Händen des Klerus, sondern in Klasse 41 (Erziehung, Unterhaltung) wieder. Ein kluger Mann aus dem Ruhrpott hat einen Trick angewendet, der unter Markenmaniacs immer beliebter wird. Da die Wortfolge „Ich bin Christ“ allein nicht schutzwürdig wäre, kombinierte er den religiösen Claim mit einem Logo und ließ sich die so entstandene Marke auch gleich für Schreibwaren und Bekleidungsstücke schützen.

Wer nun aber glaubt, er darf auf dem nächsten Kirchentag seine Konfession nicht mehr auf dem T-Shirt zur Schau tragen, der liegt verkehrt. Das Markenrecht zielt allein auf den Geschäftsverkehr, der private Gebrauch und auch die Ironisierung von Slogans und Wortmarken ist legal. „Ich liebe es“ darf also bei Happenings auf vergammelten Burgern stehen und auch der Spruch „Die längste Praline der Welt“ darf auf einer Jeans prangen. Auf diese Steine können Sie bauen. Konfliktschwanger wird es erst, wenn ein kleiner Textilien-Fabrikant einen bekannten Slogan auf eine ganze Serie von T-Shirts druckt und diese vertreibt.

Heute reicht schon ein Buchstabendreher oder ein Akcent, damit eine ursprünglich Wortmarke zur Wort-Bildmarke aufgebläht wird. Statt „Marke“ wird dann „Márke“ reserviert, die Konkurrenz wird später bei Eintragungsversuchen von „Marke“ auf „Verwechselungsgefahr“ verklagt.

Hypertrophie der Schutzrechte

Kommunikations- und Werbeexperten wie der Hannoveraner Juniorprofessor Jannis Androutsopoulos erforschen die Kunst der Werbung sowie Lust und Frust der Kundschaft. Androutsopoulos sieht den kontinuierlich anwachsenden Schutz für Slogans schlichtweg als das Ergebnis der Evolution von Werbung: „Noch bis in die 70er Jahre hinein hätten die Normen der Werbung keine dialogische und umgangssprachliche Werbesprüche attraktiv erscheinen lassen.“

Auch die Kompetenz des Rezipienten, Lücken im Slogan zu schließen, nähme sicherlich im Laufe der Werbe-Sozialisation zu. „Insofern“, so der Fachmann für Medienkommunikation, „kann ‚Du darfst‘ nur in einer eingespielten Werbegesellschaft funktionieren“. Für die Zukunft sagt Androutsopoulos eine Werbung voraus, die immer fragmentarischer und kryptischer daherkommt.

Wohin die Okkupation der Wortfolgen führt, weiß zur Zeit keiner so genau. Androutsopoulos gibt Entwarnung. Er sieht die Alltagssprache als Fass ohne Boden, die sich ständig erneuert. Angst vor dem Ausverkauf der Worte bräuchte niemand zu haben: „Die Elemente der Sprache sind zwar finit, aber ihre Kombinationsmöglichkeiten unendlich. Und solang nur Kombinationen und nicht auch ihre Bestandteile patentiert werden, lässt mich dies doch noch hoffen.“

Juristen wie Volker Jänich sehen dagegen mit Sorge auf die Sonderrolle des Markenrechts, „dem einzigen Schutzrecht“, so Jänich, „das zeitlich unbegrenzt wirkt“. Trotz oft vergleichsweise geringer Mühen beim Entwurf eines Slogans stehe diesem ein ewiger Schutz zu. Dagegen ist die sogenannte „Schöpfungshöhe“ in anderen Bereichen des geistigen Eigentums nicht nur erheblich schwerer zu erreichen, das Urheber- und Patentrecht kennen auch zeitliche Begrenzungen, nach denen die Ergüsse des Erfinders an die Allgemeinheit fallen.

Auch die von Markengesetz und DPMA beschworene „Unterscheidungskraft“ von Slogans verkommt inzwischen zur Makulatur, ist doch selbst der Begriff, der dafür erfunden wurde eben keine Unterscheidungskraft zu besitzen, in diversen Markenklassen eingetragen: „Nichts“.

Bei den Domains geht es auch gegen Privatpersonen

Wo bislang nur Werbeagenturen und Firmen sich gegenseitig ihre Marken und saloppen Sprachfetzen streitig machten, zielen deren Rechtsabteilungen neuerdings auch auf Privatpersonen, um diese beispielsweise von dem Gebrauch von Internetadressen abzuhalten, die mit dem Firmennamen in Verbindung gebracht werden könnten. Die Registrierung einer Domain im weltweiten Netz ist Minutensache – und kostet knapp 20 Euro. Heerscharen von agilen Bürgern und Kleinunternehmern melden immer wieder Domains bei der DENIC, der deutschen Vergabestelle für die international erreichbaren Adressen, an, die als Bestandteil einen großen Namen führen. So nannte ein Autoteile-Händler seine Seite etwa www.bmw-teile.de, ein anderer seine Präsenz www.bmwwerkstatt.net.

Die Gerichte urteilen hier zumeist zugunsten der Marke. Begründung: Wo BMW draufsteht, da soll auch BMW drin sein. Es dürfe nicht, so die Richter, der Eindruck entstehen, als ob BMW die Tätigkeit der Inhaber überwachen und eine dauerhafte Vertragsbeziehung bestehen würde.

Wem dies noch klar erscheint, der wird bei den sprachlich stärker eingebundenen Domains schon eher zweifeln. Der Betreiber der Domain www.metrosexuals.de erhielt von dem Handelskonzern METRO die Aufforderung, seine Domain zügig zu löschen. Die Anwälte sehen in der Domain keinen Platz zum Austausch für gepflegt-urbane Männer a la David Beckham, sondern eine Gefahr für die Integrität der Firma.

Der Rechtsstreit läuft, der Kampf um das Eigentum an Worten und Sätzen geht in eine weitere Runde. Juristen werden zukünftig immer häufiger zu klären haben, wo der Schutzbereich einer Marke aufhört und wo die Freiheit eines anderen Unternehmen, die künstlerische Verwendung durch Künstler oder die pure Freizeitlust der Privatperson anfängt. Es droht eine rechtliche Grauzone, in der jeder Domaininhaber damit rechnen muss, Ziel der Verteidigungsstrategie großer und kleiner Wirtschaftsunternehmen zu werden. Wie würde die Metro wohl auf einen Dietmar Hamann Fanclub reagieren, der sich die „Metronomen“ nennt und eine gleichlautende .de Domain anmeldet? Oder gibt es bereits Bestrebungen bei der METRO, den Verein Namens „Pro-Bahn“ für den Begriff „Metro-Express“ abzumahnen, den dieser für die Einführung eines schnellen Zugstrecke zwischen Köln und Dortmund nutzt? Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Der neueste Kniff unter Markengrabbern ist es, die Titel urheberrechtlich geschützter Werke, deren Schutz abgelaufen ist, als neue Marke eintragen zu lassen. So ist beispielsweise der Titel des Kinderbuches „Alice im Wunderland“, 1864 von Lewis Caroll veröffentlicht, in Händen einer Merchandising-Tochter der ProSiebenSat.1 Media AG. „Tom Sawyer“ wiederum haben sich verschiedene Firmen für Tabak, Wassersportgeräte und alkoholische Getränke schützen lassen. Das literarische Kulturerbe wird zur wertvollen Quelle für das Markendesign, bestehen doch beim Kunden bereits fest etablierte, positive Assoziationen zur Wortmarke.

Beliebt ist es neuerdings auch die Namen berühmter Personen als Marke anzumelden. Ob „Ludwig van Beethoven“ oder „Wolfgang Amadeus Mozart“, „John F. Kennedy“ oder „Konrad Adenauer“: Sie alle stehen mittlerweile mit ihrem Ruf für ein Produkt gerade. „Bill Clinton“ muss sogar für ein Aphrodisiaka herhalten. Um das ohnehin schon aufgeblähte Markenregister nicht zu einem Sammelsurium fragwürdiger Slogans und kulturell besetzter Bezeichnungen verkommen zu lassen, diskutieren die Juristen nun, ob solche Anmeldungen nicht den Tatbestand der „Bösgläubigkeit“ erfüllen und zukünftig vom DPMA schon im Vorwege abgelehnt werden sollten.

Was bleibt? Während es für Unternehmen zunehmend schwieriger wird eine neue Marke zu etablieren ohne in den Rechtskreis eines Mitbewerbers einzudringen, ändert die Schlacht um Worte für den Kunden wenig. Er ist weiterhin Ziel des die Marke umgebenen Marketings, seine soziale oder künstlerische Entfaltung behindert die Omnipräsenz der Marke kaum – sieht man einmal von den Verwechselungsgefahr bei Domainnamen und der juristisch schwer anfechtbaren mentalen Verschmutzung durch den alltäglichen Werbemüll ab.

Schon vor Jahren holte deshalb die Satire-Zeitschrift „Titanic“ zum polit-ökonomischen Gegenschlag aus. Ihre Antwort auf den mit einer Kampagne unterstützten Namenwechsel des Knusperriegels „Raider“ auf das heute bekannte „Twix“ hieß: „Haider heißt jetzt Wix, sonst ändert sich nix“.