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Transplantation menschlicher Neuronen in Mäusegehirn gelingt

Die Nervenzellen aus Stammzellen und das umliegenden Gewebe nahmen Kontakt auf

Wissenschaftlern ist die Transplantation von menschlichen Neuronen aus Stammzellen in ein Mäusegehirn gelungen. Erstmals konnten sie dabei mittels eines neuen Verfahren prüfen, ob die implantierten Neuronen und das umliegenden Nervengewebe kommunizieren. In den Proceedings of the National Academy of Sciences berichten die Forscher um Jason Weick von der Universität von Wisconsin von dem Verfahren, das als Optogenetik bezeichnet wird.

Ausgangspunkt war eine embryonale Stammzelle, die schon heute im Labor zu Körperzellen ausdifferenziert werden können. In das Erbgut so einer Stammzelle, in diesem Fall einem Neuron, wird ein Gen eingeschleust, das mit einem dem Sehpurpur des Auges verwandten Ionenkanal kodiert. Dieser Kanal kann später von außen durch Licht aktiviert werden. Weick gelang es auf diesem Wege, in den umgebenden Nervenzellen sowohl hemmende als auch erregende Impulse auszulösen.

Das Experiment gilt als der bislang überzeugendste Versuch, Stammzellen in ein existierendes Nervennetzwerk zu integrieren. Der nächste Schritt ist die Transplantation in das Gehirn einer lebenden Maus. Welche Wirkung die lokale Aktivierung von Nervenzellen dann auf ganze Hirnregionen oder gar das Gesamtsystem zeigt, ist völlig offen.

http://www.heise.de/tp/blogs/3/150926

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Check-up ins Leere

Vorsorgeuntersuchungen sind nutzlos

Die bei vielen Deutschen beliebten Vorsorgeuntersuchungen sind einer systematischen Übersichtsarbeit der Nordic Cochrane Centre zufolge gänzlich nutzlos. Die Forscher kommen nach der Auswertung von 14 Studien mit insgesamt mehr als 180.000 Teilnehmer zu dem Schluss, dass Menschen, die regelmäßig zum Check-up gehen, genau so häufig an einer Krankheit sterben wie andere. Es war die erste systematische Analyse dieser Art. Die Daten von 11.940 Toten aus neun Studien zeigten keine Unterschiede in den beiden Gruppen, weder übergreifend noch bei Krebs oder Herzkrankheiten. Studienleiter Lasse Krogsboll: „Wir sagen damit nicht, dass Ärzte keine Tests durchführen oder Behandlungen anbieten sollten, wenn sie vermuten, dass ein Problem vorliegt. Aber wir denken, dass generelle Gesundheitschecks abgeschafft werden können.“ Beschwerdefreie Menschen können sich also den Weg zum Arzt sparen.

Einige der ausgewerteten Studien haben Hinweise darauf gefunden, dass durch die Vorsorgeuntersuchung Diagnose gestellt werden, die zu keinen Symptomen oder gar einem kürzeren Leben geführt hätten. So wurden laut einer Studie vermehrt hoher Blutdruck oder hoher Cholesterinlevel diagnostiziert. Wenn überhaupt sollten sich Check-ups auf spezifische Krankheiten wie Nierenprobleme und Diabetes konzentrieren.

Auch diese Meta-Analyse unterliegt Beschränkungen. So sind viele der einbezogenen Studie schon vor Jahrzehnten durchgeführt worden. Die Richtlinie und Techniken haben sich seither geändert.

In Deutschland übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen bei über 35-Jährigen alle zwei Jahre einen Gesundheits-Check-up beim Hausarzt. Man hofft auf diesem Wege Krankheiten aller Art früh zu entdecken, um durch die rechtzeitige Behandlung einen schwerem Verlauf vorzubeugen. In anderen Ländern existieren ähnliche, kostenintensive Vorsorgesysteme.

Erschienen in der Telepolis unter http://www.heise.de/tp/blogs/3/153005

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Verhindert ein aktives Leben die Demenz? Vielleicht.

Schon länger weisen Studien darauf hin, dass ein aktiv geführtes Leben den Ausbruch von Demenz im Alter verhindern kann.

Schon länger weisen Studien darauf hin, dass ein aktiv geführtes Leben den Ausbruch von Demenz im Alter verhindern kann. Eine britische Langzeituntersuchung von über 13.000 Personen und über 300 Gehirnen hat sich nun der Frage angenähert, welche Komponenten genau im Alter geistig fit halten.

Dafür wurde für jeden Teilnehmer ein „Cognitive Lifestyle Score“ (CLS) ermittelt, der sich aus Angaben zu sozialen Kontakten und Engagement, Art und Komplexität des Berufs, der Aus- und Weiterbildung und dem sozioökonomischen Status zusammensetzte. Für den anatomischen Teil der Studie wurden die Gehirne der bis 2004 verstorbenen Teilnehmer unter die Lupe genommen und nach typischen, demenzspezifischen Veränderungen untersucht. Wie man sah, sah man nichts: Die Gehirne von Teilnehmern mit hohem CLS-Wert variierten hinsichtlich krankhafter Alzheimer-Mutationen nicht. Auch war die neuronale Dichte im Hippocampus nicht anders. Nur im Brodmann-Areal 9 fand man eine höhere Dichte.

Überrascht wurden die Forscher von dem Ergebnis, dass ein aktiver Lebensstil bei Männern das Risiko an Hirndurchblutungs-Störungen zu erkranken, um 80% senkte, während dies bei Frauen überhaupt keine Auswirkung hatte. Bei Frauen konnte dagegen eine Beziehung zwischen einem kognitiv aktiven Lebensstil und einem erhöhten Hirngewicht nachgewiesen werden; hier mussten die Männern passen. Auch nach Kontrolle der Kofaktoren blieb unklar, wie diese Unterschiede zu erklären sind. Was bleibt, ist ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen rührigem Tun und Denken und biologischen Veränderungen im Gehirn.

Korrespondierend wurde im anderen Teil der Studie erneut bestätigt, dass ein geistig reges Leben die Chance erhöht, nicht an einer Demenzform zu erkranken. Wohlgemerkt reicht dabei eine einzelne CLS-Komponente nicht aus – Gehirnjogging allein hilft also nicht. Das geringere Demenzrisiko war bei den 13.000 Teilnehmern auf der anderen Seite selbst dann zu beobachten, wenn nur eine Kombination von zwei CLS-Komponenten vorlag.

Es gelten die üblichen, schwer zu eliminierenden Einschränkungen einer solchen Studie. So können Kofaktoren wie Stress oder Ernährung existieren, die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen. Gerade letztere ist in jüngst in den Fokus gerückt. Bei Mäusen führt ein Eingriff in die insulingestützte Signalverarbeitung zu Ablagerungen im Gehirn, wie sie auch bei Alzheimer auftreten. Forscher wie Suzanne de la Monte sprechen schon von „Diabetes Typ 3“, wenn Hirnzellen insulinresistent werden. Menschen mit Typ 2 Diabetes sind aus ihrer Sicht besonders gefährdet, eine Demenz zu entwickeln. Aber Studien hierzu fehlen bislang und der überwiegende Teil von Alzheimer-Patienten hat keine Typ 2 Diabetes.

Auf die wichtige Rolle von Insulin im Gehirn wurden Wissenschaftler erst in den letzten Jahren aufmerksam. Die Substanz hilft nicht nur Nervenzellen dabei, Glukose aufzunehmen und in Energie umzuwandeln, sie reguliert auch einige Neurotransmitter und unterstützt das Wachstum von Neuronen und Blutgefäßen. Ewan McNay von der Universität von Albany im Bundesstaat New York und Suzanne Craft von der Washington Universität in Seattle setzten jüngst Ratten auf eine 12 Monate dauernde, extrem fettreiche Ernährung. Dies führte bei vielen Nagern zu Diabetes und parallel zur Bildung von amyloiden Plaques, wie sie auch bei Alzheimer Patienten auftreten.

Erschienen in der Telepolis unter www.heise.de/tp/blogs/3/152841

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Cognitive Enhancement Gesundheitssystem Übermensch

Die Debatte um die Quantified Self-Bewegung und die Selbststeuerung

telepolis, 07.08.2012

Enhancement mit Statistik

Jörg Auf dem Hövel

Die Debatte um die Quantified Self-Bewegung und die Selbststeuerung

Die Selbsterkenntnis per Datenanalyse hat Konjunktur. Wo früher Waage und Fieberthermometer ausreichen mussten, um den eigenen Gesundheitszustand zu messen, stehen heute eine Vielzahl von Gadgets bereit. Bio-Sensoren und Apps können Körperfunktionen in jeder Lebenslage aufzeichnen, aus den gewonnenen Daten werden Handlungsanweisungen für optimalen Schlaf, gesündere Ernährung, bessere Fitness und höhere Intelligenz gezogen. Das Quantified Self ist geboren, die lose gekoppelten Mitglieder dieser Bewegungen, die sogenannten Self-Tracker, wollen sich optimieren. Die Fitness- und Gesundheitsbranche sieht neue Geschäftsfelder wachsen, aber es wird auch Kritik laut.

Auf dem Markt sind bereits Waagen, die das Gewicht und den BMI per WLAN an den PC oder das Smartphone senden. Einige erlauben das Teilen der Daten auf Facebook und Twitter. Einen Schritt weiter geht Beeminder. Das System zieht Geld vom Konto ein, wenn man sein Trainingspensum nicht erfüllt. Und unter www.trackyourhappiness.org behauptet, eine App gar feststellen zu können, welche Tätigkeiten den Anwender glücklich machen. Viele Produzenten sammeln die anonymisierten Informationsströme, um Datenbanken mit Nutzerverhalten aufzubauen. So pflegt beispielsweise ein Hersteller von Schlafsensoren, die Firma Zeo, mittlerweile eine der weltweit größten Datenbanken über das menschliche Schlafverhalten.

Ein Hobby für Nerds, könnte man meinen. Und tatsächlich sieht man auf den Treffen zumeist junge Männer die Tabellen und Ansätze diskutieren. Florian Schumacher vom Quantified Self Netzwerk Deutschland weist gleichwohl darauf hin, dass bereits heute viele Menschen digitale Produkte, welche auf der Selbst Quantifizierung basieren, verwenden. Ob Schlafphasenwecker, Menstruationskalender oder GPS-Tracking für Sportler – eine Vielzahl von Smartphone Apps basiere auf der Messung und Analyse von persönlichen Daten. „Zugleich wird auch von medizinischer Seite immer häufiger die regelmäßige Kontrolle von Werten wie Gewicht, Blutdruck oder Blutzucker empfohlen und Ansätze aus der Telemedizin werden zunehmend populärer.“ Durch diese Trends sei davon auszugehen, dass sich Sportler und Patienten zukünftig häufiger quantitativ beobachten, um Ihre Leistungen oder ihre Gesundheit zu verbessern.

In Deutschland ist die Szene klein und diversifiziert. Die deutsche Quantified-Self-Facebook-Gruppe hat zur Zeit 146 Mitglieder. Nicht alle sind eingefleischte Body-Hacker, vielen geht es eher darum, Trainingseffekte zu messen und ihre Gesundheit auf einem guten Stand zu halten.

Die schillerndsten Blüten sprießen wieder einmal in den USA. Dort erlauben einige Self-Tracker jedermann ihre Einsicht in Hirnstrom- und Stuhlgangwerte. Der Tracker Chris Volinksy stellt beispielsweise seinen kompletten und immer aktuellen Gesundheits-Datensatz zum Download zur Verfügung. Dies umfasst zur Zeit Schrittanzahl, Gewicht und Produktivität, aber beispielsweise noch keine Blutwerte. Andere, wie Dave Asprey, haben das Quantified Self zu einer die gesamte Existenz umfassenden „Biohacking“ ausgebaut und bieten verschiedene Produkte an, die als cognitive enhancer wirken sollen.

Corpus Delicti

Dieser technische Enthusiasmus ruft Kritiker auf den Plan. Diese reiben sich nicht nur am gefährdeten Datenschutz, sondern befürchten einerseits einen Kampf gegen den eigenen Körper, der sich der Illusion hingibt, über eine manische Selbstkontrolle Herr über das eigenen Schicksal werden zu können. Andererseits sieht man in der Trackern die Spitze der gesellschaftlichen Tendenz, die physische Vollkommenheit als das höchste Gut im Leben zu sehen.

Jüngst hat die Autorin Juli Zeh mit einem grimmigen Artikel zu Wort gemeldet. Zeh hatte schon in ihrem Roman „Corpus Delicti“ eine Gesundheitsdiktatur beschrieben, in der hyperhygienische Kontrollen und Regulationen herrschen. In der Selbst-Quantifzierung sieht sie nun einer Art Magersucht für Männer, in den Trackern die Versuchskaninchen für das aufkeimende „Konzept des Gesundheitsuntertanen“. Ihr Argument: „Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen.“

Florian Schumacher hält solche Befürchtungen für übertrieben. Einen allgemein gültigen, optimalen Lebensstil gäbe es ohnehin nicht, da sich jeder Mensch in seinem Stoffwechsel, seinen gesundheitlichen Voraussetzungen und seinen persönlichen Bedürfnissen unterscheide. „Lösungen nach dem Prinzip von Quantified Self zielen darauf ab, besser auf den Einzelnen mit seinen individuellen Besonderheiten einzugehen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst führt zu Wissen, welches man für einen selbstverantwortlichen Lebensstil einsetzen kann.“ Darin sieht er primär eine Chance zum mündigen Umgang mit der eigenen Gesundheit.

Das Selbst und seine Steigerung

Die Optimierungsbemühungen der Quantified Self Bewegung fallen in eine Zeit, in der das Individuum ohnehin als durch und durch messbare und jederzeit zu verbessernde Gestalt interpretiert wird. Die Gesundheits- und Pharma-Industrie steht zur Seite, wenn es darum geht, an beliebigen Stellschrauben zu drehen: Nahrungsergänzungsmittel für die tägliche Ernährung, Koffein für das Büro, Stimulanzien für den Abend und vor dem Halbmarathon ein paar Schmerzmittel. Eine Zeit lang schien es, als das mit den sogenannten „cognitive enhancern“ pharmakologische Mittel zur Verfügung stehen, die Aufmerksamkeit, Aufnahmekapazität oder gar Intelligenz steigern. Die nähere wissenschaftliche Analyse relativierte dies stark, mehr als Wachbleiben ist kaum drin, Steigerungen einiger kognitiven Funktionen gehen meist mit Verringerung anderer Funktionen einher.

Um nicht nur die rationalen Funktionen, sondern die Gesamtstimmung auf hohem Niveau zu halten, können Antidepressiva dienen. Die Grenze zwischen Therapie und Enhancement ist hier nicht immer so scharf, wie dies gerne von der Ärzteschaft behauptet wird. Ob nun aber beispielsweise in Deutschland eine Überversorgung herrscht, wird diskutiert. Der aktuelle Arzneimittelreport behauptet dies, die Fachschaft widerspricht. Das Beispiel der medikamentenaffinen USA („Listening to Prozac“) mag als Warnung dienen, lässt sich aber nicht auf Europa übertragen. Zur Zeit wird die Wirkung des „Kuschelhormons“ Oxytocin erforscht. Die Therapeuten hoffen auf soziale Bindungsaktivierung. Allerdings zeigt sich, dass bei Menschen mit einer bestimmten Ausprägung der Oxytocin-Rezeptoren das Mittel seine Wirkung kaum oder gar nicht entfaltet.

Ob Zeiten des „emotionalen enhancement“ vor der Tür stehen ist offen. Felicitas Krämer von der Technischen Universität Eindhoven untersucht deren Ethik und warnt vor Eingriffen in die Psyche von Gesunden. „Das emotionale Enhancement scheint mir noch problembehafteter und komplexer als das kognitive, denn es geht nicht einfach um Steigerung.“ Die früher diskutierten Fragen der Natürlichkeit der Gefühle, die beim emotionalen Enhancement evoziert werden, hält sie für nachrangig. „Ich denke, wir können biokonservative Argumentationen nach dem Motto ‚etwas ist deshalb problematisch, weil es künstlichen Ursprungs ist‘ mittlerweile ganz beiseite legen. Sie sind widerlegbar. Stattdessen sollte der Diskurs sich hauptsächlich mit der Lebensqualität der Konsumenten und den möglichen negativen Folgen des Konsums befassen.“

Ob Hirndoping, Antidepressiva oder Entaktogene: Hinweise auf gutes Gelingen und inneren Frieden sind möglich, das Vertrauen auf die andauernde Wirkung wird zumeist enttäuscht. Es besteht immer die Chance, dass unser Körpersystem allzu schnelle Veränderungen an sich als Störung empfindet. Wer sich aufgrund innerer Querelen ändern will, darf Zeit einplanen. Eine Binsenweisheit vielleicht, genauso wie die Feststellung, dass genau diese Zeit heutzutage Mangelware ist. Und, nur nebenbei bemerkt, treffen sich an dieser Stelle diejenigen, die Heilung auf Knopfdruck durch Pharmakotherapie und diejenigen, die spirituelle Erweckung durch Urwaldaufenthalte mit Ayahuasca-Sitzungen erwarten.

So sehr man den Optimierungswahn auch kritisieren mag: Quantified Self könnte durchaus zur zivilen Selbstermächtigung und der damit möglichen Autonomisierung von den Institutionen des Gesundheitssystems und Fitnessbranche beitragen. Folgt man allerdings Autoren wie Juli Zeh ist körperlich-geistige Kultivierung ohne Unterordnung unter das kapitalistische Leistungsdiktat überhaupt nicht möglich. Auch die junge Bewegung des Quantified Self kommt nicht um die Frage herum, ob sie einer weiteren Form leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge unterliegen und zur Erosion gesellschaftlicher Solidarität beitragen.

Es ist nie einfach zu sehen, ob man etwas tut, weil man es von sich erwartet oder es von einem erwartet wird. So tief braucht man zudem nicht blicken, um zu erkennen, dass diese Technologie mehr ist als nur ein Mittel, genaueres über sich selbst zu erfahren. Denn an das Funktionsverständnis ist der Optimierungswille eng gekoppelt. Und ein hypertechnischer Ansatz, der zentrale Lebensbereiche in den Verfügungsbereich der Technik stellt, ist für Selbstverdinglichung durchaus sensibel.

 

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Gesundheitssystem Übermensch

Krebs und seine Metastasen: Es ist alles viel komplizierter

Die verschiedenen Zellen eines Tumors haben oft mehr genetische Unterschiede als Gemeinsamkeiten

Krebs entsteht aus einer einzigen entarteten Krebsstammzelle, die sich immer wieder teilt. Dabei können sich die neuen Zellen verändern. Es existieren also nicht nur unterschiedliche Arten von Krebs (über 200), sondern auch die Krebszellen eines Patienten unterscheiden sich signifikant voneinander. Hierin scheint der Grund zu liegen, weshalb bei einigen Patienten trotz der Strahlen- oder Chemotherapie bestimmte Zellen weiter wachsen.

Britische Forscher haben jetzt eine Studie veröffentlicht, in der die Tumore und Metastasen von vier Patienten mit Nierenzellenkrebs näher untersucht wurden. Die untersuchten Haupttumore variierten in sich stark und entwickelten weitere Unterlinien. Genetisch, so Studienleiter Charles Swanton, würden mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen den Krebszellen existieren. Die Ergebnisse würden sich mit jüngeren Berichten über Leukämien und Bauchspeicheldrüsenkrebs decken, zitiert die Süddeutsche Zeitung Andreas Trumpp vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).

Es können demnach in einem Körper viele Varietäten eines Krebsstamms existieren. Eine einzelne Gewebeprobe (Biopsie) kann daher ins Leere führen. Die neuen Erkenntnisse haben unbedingte Auswirkung auf die Krebstherapie. Zukünftig wird es darum gehen festzustellen, ob eine Mutation eines Krebstumors tatsächlich häufig vorkommt. Schon jetzt weiß man allerdings, dass es solche Basismutationen nicht immer gibt. Und die Entwicklung von Medikamenten für verschiedene Krebs- und Subkrebsarten wird kostspielig.

Die Studie von Charles Swanton weist erneut darauf hin, dass Früherkennung eine maßgeblich Rolle bei der Therapie spielt. Leider funktioniert diese nicht für alle Krebsarten wirklich gut. Trotz der neu entdeckten Komplexität darf nicht vergessen werden, dass die Überlebensraten bei allen Krebsarten seit Jahrzehnten ansteigen. Zur Zeit überlebt rund die Hälfte der Patienten mindestens die nächsten fünf Jahre nach einer Diagnose.

Erschienen in der Telepolis unter http://www.heise.de/tp/blogs/3/151608

 

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Interview mit Svenja Flaßpöhler über Leistungsdruck und Selbstverwirklichung in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft

telepolis, 25.02.2011

„Wir kommen um die Systemfrage nicht herum“

Interview mit Svenja Flaßpöhler über Leistungsdruck und Selbstverwirklichung in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft

Arbeit und Genuss sind für eine Vielzahl von Menschen in der westlichen Hemisphäre nah zusammengerückt. Gerade die durch die Informationsarchitekturen beschleunigte Mittelschicht der Gesellschaft neigt zu exzessivem Arbeitsverhalten, es herrscht zwanghaftes Tun. Aktivität und Leistung sind selbst in der Freizeit die bestimmenden Antriebskräfte. Der Geist des Kapitalismus, der sich aus Sicht von Max Weber noch aus der protestantischen Ethik speiste, erfährt dabei eine neue Ausformung: Heute arbeitet man nicht mehr für Gott, sondern zur Erhöhung des Selbstwerts. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler analysiert die Ursachen und Symptome dieses Phänomen unter dem Stichwort „Genussarbeit“.

Als ich Sie per Email um das Interview bat, haben Sie erst nach knapp vier Wochen geantwortet. Genussarbeit oder falsches Zeitmanagement?

Svenja Flaßpöhler: Das war ausnahmsweise einmal richtiges Zeitmanagement. Ich hatte nämlich schlichtweg keine Zeit, aufgrund meiner neuen Arbeit als stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Auf diese Arbeit wollte – und musste – ich mich konzentrieren. Genussarbeit in einem positiven Sinne heißt für mich genau das: Muße, Raum und Ruhe haben, um sich der Arbeit lustvoll zu widmen und trotzdem noch die anderen Dimensionen des Lebens zu leben. Genussarbeit in einem schlechten Sinne besteht aus exzessiver, zwanghafter, ausschließlicher Beschäftigung. Der exzessive Genussarbeiter kann nicht loslassen, nicht ablassen, nicht auslassen, nicht seinlassen. Hätte ich Ihre Mail also gestresst und womöglich nachts beantwortet, wäre genau das der Fall gewesen. Insofern schließen sich Genussarbeit und falsches Zeitmanagement übrigens nicht aus.

Ihr Genussarbeiter definiert seinen Selbstwert vor allem über die Arbeit und macht sich dadurch abhängig von der Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzten. Brauchen wir die Bestätigung unseres Tuns aber nicht alle? Und wie stellt man fest, ab wann die Grenze zum Krankhaften überschritten ist?

Svenja Flaßpöhler: Davon bin ich tatsächlich fest überzeugt: Niemand tut etwas einfach nur aus sich selbst heraus, sondern immer auch für einen Anderen. Das lässt sich an Kindern wunderbar beobachten. So selbstvergessen sie beispielsweise ein Bild malen: Es ist wichtig, dass Mama oder Papa das Bild würdigen. Wenn die Eltern vollkommen gleichgültig und gefühlskalt wären, würde das Kind möglicherweise überhaupt nicht malen. Dieses Angewiesensein auf die Anerkennung Anderer ist die Grundstruktur des menschlichen Schaffens, ja Existierens schlechthin. Schlimm wird es allerdings, wenn der Blick ausschließlich auf die Anderen und deren unter Umständen gnadenloses Urteil gerichtet wird. Dann stellt sich schnell das Gefühl ein, nie genügen zu können, und der individuelle Antrieb des Arbeitens geht verloren. Was zählt, ist nur noch der Erfolg, eine sinnentleerte, abstrakte Anerkennung, die schal ist. Der Kampf in Anerkennung schlägt in Sucht nach Anerkennung um.

Wir halten Passivität kaum mehr aus

Ein Problem dabei scheint zu sein, dass egal, was der Einzelne leistet, er durch viele äußere und innere Faktoren zu immer mehr angespornt wird.

Svenja Flaßpöhler: Ansporn ist zunächst einmal etwas Positives: Was wäre das Leben ohne diesen leichten Schmerz, diese Grundspannung, die uns auf Trab hält? Wem der Ansporn voll und ganz verloren geht, ist depressiv. Das Problem ist aber, dass das Angesporntsein heute absolut gesetzt wird: Das Ideal ist der ständig angespornte Mensch, der unablässig neue Ideen produziert, in seinem Beruf „aufgeht“, wie es so schön heißt und auch im Urlaub das Smartphone ganz nah am Herzen trägt. Aber Aktivität braucht Passivität als entgegengesetzten Pol. Keine Motivation ohne Langeweile, keine Inspiration ohne Phasen des Nichtstuns. Mein Eindruck ist, dass wir Passivität kaum noch aushalten.

Kann man sagen, dass das System diejenigen nach unten durchreicht, die dieses hyperaktive Spiel nicht mitmachen können – oder wollen?

Svenja Flaßpöhler: Einerseits ja. Wer sonntags prinzipiell nicht arbeitet und wochentags nach Feierabend keine Emails mehr checkt, gilt schnell als unbrauchbar. Allerdings, und insofern stimmt Ihre Annahme nur eingeschränkt, landen in der Regel ja auch die „unten“, die das Spiel mitmachen. Hyperaktivität schützt vor sozialem Abstieg keineswegs. Irrtümlicherweise glauben wir, uns durch ständige Präsenz unentbehrlich zu machen. Aber Präsenz ist keine individuelle, das heißt unaustauschbare Eigenschaft. Es gibt immer jemanden, der noch präsenter ist. Insofern sollten wir, da das Spiel nicht gewonnen werden kann und auch nicht glücklich macht, den Mut haben zu sagen: I would prefer not to.

Und wo liegt die Grenze zur Faulheit, die ohne soziale Verantwortung agiert?

Svenja Flaßpöhler: Ich würde den Spieß gern umdrehen. Ein hyperaktiver Mensch, der immer nur nach vorne, nie aber nach links und rechts, geschweige denn nach hinten schaut, weil er dafür gar keine Zeit hat, agiert ohne soziale Verantwortung. Ihn interessiert nur das Vorwärtskommen. Jede Ablenkung verursacht Stress.

Der faule Mensch, der Sonntags nachmittags auf dem Sofa liegt, schläft, ein bisschen Zeitung liest, zwischendurch auf der Gitarre klimpert, agiert hingegen sozial. Durch seine Passivität, die ja nie reine Passivität ist; die gibt es nur im Tod, wird er wieder offen für die Welt. Hyperaktivität verhärtet den Menschen. Passivität lässt ihn weich werden, empfindsam für Eindrücke, Verlockungen, Kinderfragen.

Wobei neue Eindrücke doch wiederum ständig um die Aufmerksamkeit buhlen. Heutzutage scheint mir selbst die Passivität von Disziplin begleitet sein zu müssen, um nicht Gefahr zu laufen, zwischen Gitarre, Zeitung, Kind und iPad hin und her zu pendeln. Die moderne Unterhaltungsindustrie setzt ja mittlerweile den Second Screen voraus, möchte also, dass wir die im Fernsehen laufenden Ereignisse und Nichtigkeiten parallel mit dem Smart Phone kommentieren.

Svenja Flaßpöhler: Das ist richtig. Und die Frage, die sich da aufdrängt, lautet: Wer beherrscht wen? Ich die Maschine oder die Maschine mich? Ich habe mir gerade ein Smartphone angeschafft und laufe ständig Gefahr, dem Gerät erlegen zu sein. Die Faszination, die davon ausgeht, mit dem Zeigefinger die Welt zu bewegen, ist enorm. Das Fatale ist doch, dass wir uns im Grunde gern den Maschinen unterwerfen. Lust dabei empfinden. Wir müssen heute nicht mehr Pferdekarren über Äcker schieben, sondern sitzen auf ergodynamischen Stühlen vor schicken Macs und geben uns dem Rausch der Arbeit hin. Der moderne, technisch hochgerüstete Leistungsträger genießt sein Tätigsein, fühlt sich wichtig mit dem iPhone in der Hose. Warum also soll er nach Feierabend aufhören, das Display zu liebkosen? Um der Aktivitätsfalle zu entkommen, müssen wir das Begehren identifizieren, das uns in sie hineintreibt.

Das flüssige Selbst des modernen Menschen westlicher Industrie- und Informationsgesellschaften hat enorme Probleme der Grenzziehung, ständig wird sich neu erfunden, außer dem Therapeuten sagt uns keiner mehr, wann genug ist. Wie könnten, abseits der bewussten Passivität auf individueller Ebene, Anfänge vom Ende der Beschleunigung aussehen?

Svenja Flaßpöhler: Ich bin mir sicher: Wir kommen um die Systemfrage nicht herum. Wer nur empfiehlt, ab und zu mal das iPhone auszuschalten, betreibt Symptombehandlung, und die geht bekanntermaßen nicht sehr tief. Selbstverwirklichung, für mich immer noch eine lohnenswerte Utopie, setzt die Anerkennung der eigenen Grenzen, das Wissen um die eigenen Neigungen voraus: Ohne Selbst keine Selbstverwirklichung. In Zeiten neoliberaler Flexibilisierung sind wir davon weit entfernt. Marx war der Ansicht, dass Selbstverwirklichung im Kapitalismus nicht realisiert werden kann, weil das Arbeitsprodukt nie dem Arbeiter, sondern einem Anderen gehört. Dieser Andere treibt uns an mit dem Versprechen, dass die Mühe sich lohne. Aber lohnt sie sich wirklich? Möglich, dass wir gerade dabei sind, uns auf grandiose Weise selbst zu verfehlen.

Dieses System ist nicht die beste aller möglichen Welten

Zumal auch die neuen Medien, unter der Preisgabe der Privatsphäre, die Handlungs- und Beziehungsmuster der Nutzer mittlerweile im Sinne der Logik der globalen Verwertungsmaschinerie verändern. Welche Rolle spielt die Genusskultur aus ihrer Sicht in dieser Hinsicht? Für was steht das exzessive Genießen?

Svenja Flaßpöhler: Wer exzessiv genießt, überschreitet zwanghaft Grenzen. Körpergrenzen, Schmerzgrenzen, Grenzen der Privatsphäre, moralische Grenzen. Diese Form des Genießens wird uns durch unsere heutige Kultur nachgerade aufgedrängt, indem sie die Überschreitung einerseits untersagt und gleichzeitig anpreist. Auf der einen Seite sollen wir moralisch integer, fürsorglich uns selbst und anderen gegenüber, leistungsstark, schlank und vieles anderes sein; auf der anderen Seite aber leben wir in einer Kultur der All-you-can-eat-Angebote, der Flatrates, des Internetshoppings, der ständigen Erreichbarkeit und frei verfügbarer Internetpornographie.

Unsere Konsumgesellschaft fördert zwanghaftes Genießen, weil sie einerseits auf strengstem Verzicht beruht, gleichzeitig aber durch ihre Reize die Lust an der Überschreitung provoziert. Wenn ich beim Gehen Emails checke, meinem Gesprächspartner kaum zuhöre, weil es wieder einmal piept in der Tasche, dann fühle ich durchaus – ganz subtil, als leisen Kitzel – in meinem Inneren, dass ich eine Grenze, die Grenze des Anstands, die Grenze meines Aufnahmevermögens überschreite; aber gerade in der Überschreitung liegt ja die Lust.

Das klingt so, als ob durch korrekt angewandte Passivität zugleich der systemimmanente Leistungsdruck ausgehebelt und der Konsumterror abgemildert werden könnte. Das löst noch nicht das oben aufgeworfene Problem, dass die Produkte unserer Tätigkeit selten uns selbst, sondern einem Anderen gehören.

Svenja Flaßpöhler: Der Kapitalismus funktioniert doch nur so lange, wie der oder die Einzelne mitmacht bei dem Dreischritt: Produzieren – Konsumieren – Sterben. Würde er oder sie mehr seinlassen, auslassen und weglassen, bliebe die Shoppingmall am Samstag möglicherweise leer und das Büro auch.

Ich möchte mein Plädoyer für das Lassen tatsächlich nicht nur als ein Aufruf zum Nickerchen am Sonntagnachmittag verstanden wissen, sondern durchaus auch im Sinne des Streiks: Dieses System, in dem wir vor allem damit beschäftigt sind, Geld zu verdienen und Geld auszugeben, ist nicht die beste aller möglichen Welten. Insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass der Andere früher oder später sein Köfferchen packen muss, wenn sich die 99 Prozent zu korrekt angewandter Passivität entscheiden.

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Interview mit dem Philosophen Oliver Müller über chemo- und neurotechnologische Umbaumaßnahmen an Körper und Geist

telepolis, 20.08.2010

Wenn Technik Lösungen, aber keine Antworten bietet

Der Philosoph Oliver Müller arbeitet am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg und hat jetzt ein erhellendes Werk über den Einzug technischer Optimierungen in Lebenswelt und Körper des Menschen geschrieben. Im Interview beschreibt er, welche Auswirkungen diese Technisierungsprozesse auf Selbstsein und Selbstverständnis haben können.

Der Gegensatz von Natur und Technik ist bis heute Grundlage vieler Überlegungen zu Stellung des Menschen in der Welt. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen dieser Dichotomie?

Oliver Müller: Auch wenn sie meiner Meinung nach nicht als völlig obsolet betrachtet werden darf, kommt die Dichotomie von Natur und Technik vor allem in anthropologischer und ethisch-normativer Hinsicht an ihre Grenzen. Epistemologisch-phänomenologisch kann man im Normalfall dann doch meist unterscheiden: Viele technische Eingriffe verändern die Natur nachhaltig, doch bleibt das veränderte „natürlich“ – sei es der Schwarzwald (den es in der heutigen Form – mit dem Fichtenbestand – Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht gab) oder ein durch künstliche Befruchtung auf die Welt gekommenes Kind. Selbst in der Synthetischen Biologie, deren Produkte „living machines“ genannt werden, sind es zwar synthetisierte, aber doch lebende Mikroorganismen.

Beim Menschen ist das anders: Da ist es schwer zu sagen, was ist ganz natürlich und was ist kulturell und technisch überformt. Wir nehmen Medikamente, fahren Autos und implantieren Hirnchips. Dabei können massive Anpassungsvorgänge eine Rolle spielen und es kann zu weitreichenden Eingriffen kommen – doch macht uns diese „natürliche Künstlichkeit“, die typisch für die menschliche Lebensform auch nicht zu komplett „künstlichen“ Wesen, gleichzeitig wollen wir ohne das „Künstliche“ und „Technische“ gar nicht leben, identifizieren uns mit dem hochkomplexen Kulturraum. Trotzdem empfinden wir bestimmte Techniken als „natürlich“ oder integrierbar in eine als „natürlich“ empfundene Lebensweise. Und das führt uns zu der ethisch-normativen Dimension dieser Unterscheidung.

Häufig wird dem Natürlichen ein Wert zugemessen, der respektiert werden soll und das technische Handeln wird in irgendeiner Weise als problematisch angesehen. Doch so eins-zu-eins kann man weder aus der Natur noch auch der Technik Normatives ableiten. Dazu braucht es zusätzliche Argumente, bedarf es eines anthropologisch-ethischen Rahmens, in dem die Unterscheidung von Natur und Technik überhaupt sinnvoll eingesetzt gemacht werden kann. Dann kann aus der Begrenzung der normativen Reichweite – das klingt paradox – normativ Fruchtbares gemacht werden.

Ist denn aus Sicht der Philosophie so etwas wie ein unverbauter, tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge überhaupt möglich? Anders formuliert: Wartet auf dem Grund philosophischer Erkenntnis eine naturgegebene Ebene, deren Erkennen Richtlinien vorgeben kann?

Oliver Müller: Da müsste man gegenfragen: Was ist ein tiefer Einblick in natürliche Zusammenhänge? Ich denke, die Philosophie kann versuchen, die verschiedenen Weisen, das Natürliche zu verstehen und mit ihm umzugehen, präsent halten. Wenn Philosophie die kritische und selbstkritische Klärung der wichtigen, der interessanten und existenziellen Begriffe und Konzepte einer Zeit zum Ziel hat, dann muss sie sich auch der Natur und dem Natürlichen annehmen: Wie kann man sinnvoll nach dem Natürlichen fragen? Und dann kann man das auffächern: wissenschaftstheoretisch (welcher Naturbegriff liegt den Naturwissenschaften zugrunde?), anthropologisch (kann man gehaltvollerweise von einer „Natur des Menschen“ reden?) oder ethisch (inwiefern kann das Natürliche Handlungsorientierung bieten?) und so weiter. Und dann muss man sich eben einer dieser Fragen annehmen und sie genau analysieren und die Antworten streng prüfen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat Ihre Frage nach dem Erkennen und den daraus folgenden Richtlinien eine ethische Zielrichtung…

Anders formuliert, würde sie lauten: Kann das, was ich als „natürlich“ erkannt habe, im Gegensatz zum Künstlichen, Technischen, Kulturellen, zu normativen Richtlinien des Handelns führen?

Oliver Müller: Hier würde ich nun sagen, dass die Philosophie moderieren kann, sie kann sagen, die Erläuterung der Funktionsweise von Peptidverbindungen als Erklärung von bestimmten natürlichen Vorgängen ist auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die „Natürlichkeit“ einer Lebensweise. Letzterem kann man sich etwa metaphorologisch nähern und fragen: Inwieweit spielen die Vorstellungen des „Organischen“ oder des „natürlichen Gedeihenkönnens“ für die ethische Orientierung eine Rolle. Dass das eine sinnvolle Frage ist, zeigt die anhaltende Konjunktur des Aristotelismus. Doch wird man vermutlich sagen, die Richtlinien des Handelns lassen sich nicht auf diese metaphorischen Hintergrundvorstellungen reduzieren, das wäre schräg. Und dann müsste man diesen „Daseinsmetaphern“ einen Ort in der ethischen Theorie zuweisen und entwickeln, dass sie eine bestimmte Funktion ausfüllen, die vielleicht der Person-Begriff nicht mitabdecken kann.

Gleichzeitig muss man dabei aufpassen: Der direkte Verweis auf die Natur kann ja, wie Hume angemerkt hat, von einem unrechtmäßigen Schluss vom Sein auf ein Sollen führen. Gleichzeitig kann der Verweis auf die Natur zynisch oder chauvinistisch sein, etwa wenn man sexuelle Orientierungen als „widernatürlich“ bezeichnet. Das heißt, man muss sich genau anschauen, welcher Art der Begriff oder die Metapher des Natürlichen ist, den man fruchtbar machen will. Auf diese Weise würde man auch weitere für die Ethik relevante Natur- oder Natürlichkeitsbegriffe näher untersuchen, wie etwa den Körper, den Leib. Der Leib als die „Natur, die wir selbst sind“, wie Gernot Böhme das genannt hat, wird in ethischen Theoriebildungen oftmals marginalisiert. Und dann muss man fragen, warum das so ist und gegebenenfalls die leibliche Existenz anthropologisch und ethisch gehaltvoll machen. So kann die Philosophie durch eine Differenzierung der Fragestellung zu Antworten beitragen, die vielleicht präziser sind als die Antworten, die man vorher hatte.

Will man diese Methode konkret am Fall der Diskussion um die Selbstoptimierung durch chemisches oder neuro-technisches Enhancement anwenden, so könnte man beispielsweise fragen, welchen Sinngehalt „Optimierung“ heute zugemessen wird.

Oliver Müller: Genau. Die Verständigung über das, was wir in diesem Zusammenhang genau als „Optimierung“ bezeichnen, ist für die ethische Einschätzung des Enhancement von zentraler Bedeutung. Mir scheint, als würden in der Debatte immer wieder Kategorienfehler begangen. Denn von der Verbesserung des Menschen zu reden, hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition, Menschen wollten und sollten schon immer in moralischer oder körperlicher Hinsicht verbessert werden, die Perfektibilität galt als Auszeichnung des Menschseins. Und diese als wertvoll erachteten Verbesserungstendenzen des Menschen scheinen mitgemeint zu sein, wenn von neurotechnischer „Verbesserung“ oder ähnlichem die Rede ist.

Doch ist genau an dieser Stelle eine anthropologische Reflexion von Bedeutung: Denn das, was mit einem Medikament verbessert wird, muss erst in seiner Bedeutung für die menschliche Lebensführung qualifiziert werden. Die gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, die bei Prüfungen nützlich sein kann, oder der modulierte Stimmungshaushalt, der eine Person gesellschaftsfähiger machen mag, sind nur in bestimmter Hinsicht Optimierungen, in anderer Hinsicht können sie Verschlechterungen sein, etwa wenn die Einnahme von Medikamenten zu einer Selbstinstrumentalisierung führt, wenn sich eine Person also nur um des guten Funktionierens willen zu optimieren trachtet. Und an dieser Stelle kann es eben bedeutsam sein, sich des „Natürlichen“ oder „Organischen“ der Lebensführung als Richtwert zu erinnern.

Was die Stoa „nach der Natur leben“ nannte, hat nichts mit einem zivilisationskritischen „Walden“ zu tun. Es ging um die Etablierung von Orientierungsfiguren für die Lebensführung. Und da kann unter Umständen das Gefühl der „organischen Entwicklung“ oder des „Gedeihenkönnens“ stimmiger sein als die Logik des Enhancements, quasi auf Knopfdruck pharmakologische Lösungen für Herausforderungen in bestimmten Lebenssituationen anzubieten. Es geht also nicht darum zu sagen, die Enhancements seien „wider die Natur“. Das ist Quatsch. Aber die Reflexion über das Natürliche kann helfen, einen Rahmen zu etablieren, in dem die Beantwortung der ethischen Fragen der individuellen Lebensführung zumindest bereichert wird.

Dazu kommt die Aufgabe, Enhancement-Techniken vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung zu betrachten. Bei den Medikamenten zeigt sich hier eine Linie von den Stimulanzien, wie sie beispielsweise im 2. Weltkrieg von deutschen Fliegern benutzt wurden, bis hin zum heutigen Modafinil, das an britische Truppen verteilt wurde. Wie kommt es, dass diese Aufputschmittel, trotz mangelnder wissenschaftlicher Basis, nun als „Neuro-Enhancer“ bezeichnet werden?

Oliver Müller: Das ist eine gute Frage. Mir scheint da eine merkwürdige Allianz von wissenschaftlicher Rationalität und mythisch-magischen Praktiken bzw. Sehnsüchten eine große Rolle zu spielen. Offenbar gibt es ein menschliches Grundbedürfnis, sich mit Pharmaka selbst zu formen, andere Seelenzustände zu erkunden oder ähnliches.

Schon in der Antike dient das „pharmakon“ immer wieder als Begriff, aber auch als Metapher, um philosophische oder anthropotechnische Selbstformungen zu thematisieren und zu propagieren. Zaubertränke gibt es in der Kulturgeschichte zuhauf, bei „Tristan und Isolde“ ist es sogar so, dass die pharmakologisch induzierte Liebe als besonders „authentische“ gilt. Und diese mythisch-magische Folie der Selbsteinwirkungen wird nun in der modernen Zivilisation rationalisiert, indem die Aura, das Versprechen, sich selbst zu verbessern, als technisch generierbar, als machbar auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt.

Es entspricht der Logik der Technik, Lösungen auf Knopfdruck anzubieten, perfektes Funktionieren zu garantieren. Dies kann sich dazu ausweiten, dass in einer Art technologischem Imperativ alles „Imperfekte“ am Menschen – oder eben am Soldaten – technisch kompensiert werden muss. Und auch wenn nicht in allen Fällen klar ist, in welcher Weise das vermeintlich Imperfekte perfektioniert wird oder welche Wirkungen und Langzeitfolgen manche Medikamente überhaupt haben, findet hier eben ein Überlagerungsvorgang statt: Der technologische Imperativ der Selbstkorrektur ist nur eine Ausdrucksform für mythische Sehnsüchte nach dem ultimativen pharmakon.

Es ist sicherlich so, dass die Pharma-Industrie von diesem Vorgang profitiert. Inwieweit sie bei der Lancierung des Begriffs „Enhancement“ eine Rolle spielt, weiß ich nicht zu sagen, doch es ist jedenfalls so, dass manche Ethiker vorschlagen, statt „Hirndoping“ den Begriff „Enhancement“ zu verwenden, weil er „neutral“ sei – aber genau das ist nicht der Fall. Dadurch dass Enhancement „Steigerung“ oder „Verbesserung“ bedeutet, liegt auch in diesem Ausdruck schon etwas Tendenziöses. Oder anders gesagt: Im Enhancement feiert die mythisch-magische Sehnsucht nach pharmakologischer Selbsttranszendierung im Gewand des Sachlich-Rationalen fröhliche Urständ…

Das menschliche Grundbedürfnis seine Umwelt und sich selbst mittels Technik zu perfektionieren, braucht Richtwerte. Sind uns diese in den westlichen Industriegesellschaften im Rahmen der von ihnen „Selbstinstrumentalisierung“ und „Selbstverdinglichung“ genannten Prozesse verloren gegangen?

Oliver Müller: Selbstinstrumentalisierung und Selbstverdinglichung sind nach meinem Verständnis Deutungsmuster, mit denen man Grenzen von Technisierungsprozessen ermitteln kann. Ich verstehe Technisierungsprozesse als in ihrer Grundstruktur ambivalent: Die Technik erschließt uns unsere Wirklichkeit, kann sie aber auch verarmen, in dem Sinne, dass andere Wirklichkeitsbereiche durch die Technik dominiert werden. Die Technik hilft uns, die Wirklichkeit zu kontrollieren, kann aber sie auch beherrschen, Technisierung ist immer auch Ersparnis von Zeit, kann aber auch zu Beschleunigungsvorgängen führen, mit denen wir nur noch schwer zurechtkommen können. Mir geht es nicht darum, die Technik zu verteufeln, das wäre unsinnig, denn der Mensch ist ganz wesentlich Techniker. Ich will vielmehr zeigen, dass wir kritischer Deutungsmuster bedürfen, um sensibel zu sein für negative Auswirkungen von Technik.

Was bedeutet das für das Enhancement-Beispiel?

Oliver Müller: Die moderne Medizintechnologie wird uns immer mehr Präparate und Techniken zu Verfügung stellen, nicht mehr nur therapeutisch, sondern optimierend auf uns einzuwirken. Zu Selbstinstrumentalisierung wird der Einsatz dieser Technik, wenn die Selbstbezugnahme einseitig wird, wenn alternative Selbstverbesserungsmöglichkeiten verloren gehen oder marginalisiert werden. Zur Selbstverdinglichung wird das Enhancement, wenn ich mein Leben nach Maßgabe dieser Techniken ausrichte und etwa defiziente Erfahrungen im Kontext leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge chemisch ausgleiche. Wenn ich die pharmakologische Nachbesserung an meinem Selbst für gerechtfertigt halte, dann interpretiere mich schon, als wäre ich eine Maschine.

Und welche Richtwerte schlägt die Philosophie vor?

Oliver Müller: Richtwerte würden in den Aufgabenbereich der philosophischen Ethik fallen. Dabei sind unterschiedliche Ebenen zu betrachten: Erstens muss die Ethik, müssen Ethiker angesichts weitreichender Handlungsmöglichkeiten des Menschen – der Mensch ist immerhin das einzige Tier, das böse sein kann – diejenigen unverrückbaren Grenzen und Normen formulieren, die das Rückgrat unserer Kultur bilden, die menschliches Leben überhaupt garantieren können. Beispiele hierfür sind die Menschenwürde oder die Respektierung individueller Autonomie.

Zweitens geht es in der Ethik aber auch darum, die Zumutungen der conditio human in Lebenspraxis umzusetzen. Hierunter verstehe ich nicht nur die Tradition des Nachdenkens über das „gute Leben“ oder die „Sorge um sich“, sondern überhaupt den Umgang mit der eigenen Endlichkeit, Gebrechlichkeit, Fragilität. Um mit den Unbilden des Lebens umgehen lernen zu können, bedarf es grundsätzlicher anthropologischer und sozialer Reflexionen über die Eigenarten der humanen Lebensform. Und dazu gehört auch eine Verständigung über die Rolle der Technik in unserem Leben.

Welche Aspekte unseres Dasein wollen wir in den Verfügungsbereich der Technologien rücken und welche nicht? Also geht es in der Ethik immer auch um die Selbstverortung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die Normen und Lebensregeln, die aus solchen Überlegungen gezogen werden können, sind natürlich anderer Art als der Rekurs auf die Würde. Hier spreche ich eher von Orientierungsnormen, Maßstäben oder Richtwerten, die eine andere Art von Verbindlichkeit haben – die aber helfen, das individuelle Leben zu strukturieren. Was von großer Bedeutung ist, denn es ist charakteristisch für Menschen, dass sie sich in einem Netz von normativen Vorstellungen bewegen und unzählige Meinungen darüber haben, wie etwas sein soll, wie ein Leben geführt werden soll, was gar nicht „geht“ – derartige kryptonormative Vorstellungen gilt es explizit zu machen, zu bündeln, zu hinterfragen.

Wenn es gut läuft, dann schiebt die Enhancement-Debatte doch die öffentliche Thematisierung der menschlichen Selbstdeutung an. Ab wann führen technische Einflussnahmen auf den Körper zur Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung? Ein Problem dabei ist doch sicherlich, dass die Definition des Selbst so schwierig und hoch individuell ist.

Oliver Müller: Die Definition des Selbst ist schwierig, ist eine große philosophische Herausforderung. Das werde ich hier nicht versuchen. Was hier jedoch wichtig ist: Der Mensch ist das sich selbst interpretierende Wesen, wie Charles Taylor sagt. Das heißt: Wie man sich selbst deutet – in einer anderen Sprache: Welches Menschenbild man hat –, wirkt sich auf die Bewertung von Handlungen und Einschätzung von Lebensweise aus. Daher sind Veränderungen in der Selbstdeutung ein herausragendes Thema der Ethik. Diese sind natürlich schwer zu protokollieren, doch ich bin davon überzeugt, dass hier einer der Knackpunkte in der Bewertung von Technisierungsprozessen im Allgemeinen und des Enhancement im Speziellen liegt.

Um ein extremes Beispiel zu verwenden: Wenn sich Menschen als im Prinzip unfreie, fremdgesteuerte Wesen verstehen, dann wird sich dies auch auf ihre Begriffe von Verantwortlichkeit und Schuld auswirken, falls sie diese überhaupt noch im ethischen Repertoire haben. Im Enhancement-Kontext heißt das: Wenn die vorherrschende Selbstdeutung diejenige ist, dass Menschen physiologisch imperfekte Maschinen sind, die man pharmakologisch und technologisch verbessern kann und sollte – dies ist übrigens eine der Grundüberzeugungen des Transhumanismus –, dann wird man die entsprechenden Medikamente und Techniken nicht nur sorgloser einsetzen, sondern diesen Einsatz auch fordern… Wenn die Selbstdeutung derartige Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Praxis hat, dann kann man in der Tat von einer „Mechanisierung menschlicher Selbstdeutung“ reden.

Es ist eine Illusion, dass wir unsere Beschränkungen jemals vollständig überwinden können, weil ja hinter jeder überwundenen Schranke eine neue wartet. Sollte man zu mehr Bescheidenheit aufrufen?

Oliver Müller: Ob Bescheidenheit hier die richtige Tugend ist, weiß ich nicht, ich würde vielleicht sagen, dass dies eine Sache der Klugheit ist, der phronesis, also der Fähigkeit, Situationen nüchtern einzuschätzen und ausgewogene Urteile zu fällen, auf deren Basis man dann handelt. Und dann kann es in der Tat hilfreich sein, Enhancement-Maßnahmen auf ihre Kurzsichtigkeit hin zu untersuchen.

Wenn mit einem verbessernden Eingriff auch ein bestimmtes Lebensgefühl des Erfolgs, der „Unschlagbarkeit“ oder der souveränen Lebensgestaltung verbunden ist, dann ist es eben klug abzumessen, ob das entsprechende Medikament denn auch wirklich die Grundsituation verändert oder ob es nicht nur auf Symptome reagiert. Und wenn man zum dem Schluss kommt, dass sich die Lebenssituation durch Enhancement-Einnahmen nicht wesentlich und nur kurzfristig ändert, dann kann man den Einsatz von Enhancements vor diesem Hintergrund ethisch beurteilen.

Sind wir automatisch in der technischen Logik gefangen, sobald wir eine Technik anwenden, um unsere Denken oder Fühlen zu verändern, man denke an Meditationstechniken?

Oliver Müller: Ich denke nicht, dass wir automatisch in einer technischen Logik „gefangen“ sind, wenn wir Technik anwenden. Denn wir können als Menschen gar nicht umhin, Technik anzuwenden, Technik gehört, wie schon gesagt, zum Menschsein dazu. Aber es kann eben sein, dass die Anwendung von Techniken andere Erfahrungsbereiche oder Rationalitätstypen dominiert – das war übrigens eines der Hauptargumente von Ernst Cassirer -, und dann kann die Technik, die den menschlichen Freiheitsspielraum erweitert, in ihr Gegenteil umschlagen und Freiheiten unterbinden, etwa wenn mit der Technisierung Normierungs- und Standardisierungsprozesse verbunden sind, die ein spezifisches Repertoire an Handlungen nahelegen oder nur noch diese ermöglichen.

Ich finde es sehr interessant, dass Sie in diesem Kontext Meditationstechniken erwähnen. Denn zur Zeit gibt es ja viele Annäherungsversuche zwischen Neurowissenschaftlern und Buddhisten oder anderen Meditationstechnikern. Ich bin sehr gespannt, was bei diesen Begegnungen längerfristig herauskommt. Wir können zum einen sicher sehr viel lernen, wie neurobiologische Prozesse mit meditativen Bewusstseinszuständen korrelieren. Das finde ich spannend. Doch es kann eben auch sein, dass das Bedürfnis entsteht, die Meditationstechniken auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse zu „verbessern“. Es ist nicht schwierig, sich eine Welt vorzustellen, in der sich Meditationstechniken als Anthropotechniken etablieren – Meditationstechniken dienen ja auch heute schon dazu, groteske, scheinbar systembedingte Arbeitsbelastungen zu kompensieren -, und in der dann Meditationstechniken medikamentös oder vielleicht neurotechnologisch „unterstützt“ werden.

Eine solche chemische Unterstützung von Meditationstechniken wäre für mich ein Beispiel dafür, wie die technologische Logik zu einer Entfremdungssituation im Sinne einer Selbstverdinglichung führt. Es ist ein Charakteristikum der technologischen Zivilisation, dass Wissen (fast) immer eine „Umsetzung“ verlangt. Auch hier wird es nicht bei dem neurobiologischen Wissen bleiben, sondern es wird in Umsetzbares, Machbares transformiert. Aber es ist eben fraglich, so drückt das Günther Anders aus, ob das Gekonnte gleichzeitig auch das Gesollte ist.

 

Literatur:
Oliver Müller: Zwischen Mensch und Maschine – Vom Glück und Unglück des Homo faber. 214 Seiten, edition unseld, 12 Euro.

 

 

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Interview mit Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber und die Zukunft der Drogenkultur

Hanfblatt Nr. 112, März 2008 „

Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt!“

Interview mit dem Psychologen Wulf Mirko Weinreich über das Bewusstseinsmodell von Ken Wilber, dessen Anwendung in der Suchttherapie und die Zukunft der Drogenkultur.

Der US-Forscher Ken Wilber hat ein Erklärungsmodell für das Bewusstsein entwickelt, das verschiedenste philosophische und psychologische Ansätze integriert. Dadurch kommt er zu einem räumlichen Modell, dass im wesentlichen aus drei Elementen besteht: Quadranten, Ebenen und Zuständen. Quadranten sind die unterschiedlichen Bereiche, die jedes Ding ausmachen. Danach besitzt alles (ja, alles) eine Außenseite, nämlich den Körper, und eine Innenseite – das individuelle Bewusstsein. Zugleich steht dieses „Objekt/Subjekt“ in einem kollektiven Verbund, nämlich einem kulturellen und einem systemischen. Klingt kompliziert, ist aber ein einem Beispiel ganz einfach zu begreifen: Ein Mensch hat immer ein ganz persönliches Bewusstsein, zu dem nur er Zugang hat. Dieses ist mit seinem Gehirn als körperlichem Ausdruck verbunden. Zugleich ist kein Mensch allein auf der Welt, sondern er ist in das kollektive Bewusstsein seiner Kultur eingebunden. Der äußere Ausdruck seiner Gesellschaft findet sich in ihren Systemen und Institutionen wieder, wie beispielsweise der Wirtschaft und dem Verkehrswesen.

Und nun kommts: Keiner dieser Bereiche lässt sich auf einen anderen reduzieren, es gibt von allen Dingen also immer vier Aspekte, „vier edle Wahrheiten“, wie es im China-Restaurant heißen würde. Die Auswirkungen dieser Sichtweise sind phänomenal, denn nun es ist möglich, die seit Jahrhunderten propagierte Trennung zwischen Körper und Geist beizulegen: Das sind nach Wilber nur zwei Seiten der gleichen Medaille.

Quadranten nach Wilber
Quadranten und Ebenen nach Ken Wilber

Nun kann man einwenden: „Ja aber ein Stein, hat der auch ein persönliches und gar kollektives Bewusstsein? Die Anwort lautet „Ja“, wenn auch auf einer sehr niedrigen Ebene. Damit kommt man schon zur nächsten Annahme (nicht nur) Wilbers, daß die Evolution nämlich eine Richtung hat, hin zu mehr Bewusstheit. Ein Stein hat, so weit wir wissen, sehr sehr wenig Bewusstsein, eine Pflanze schon etwas mehr, weil sie auf ihre Umwelt reagieren kann, und dass ein höheres Tier recht viel Bewusstsein hat, wird wohl niemand bestreiten wollen. Aus diesem Beispiel wird aber auch ersichtlich, dass die Quadranten in Wechselwirkung zueinander stehen: je komplexer der Körper, desto komplexer ist auch das Bewusstsein. Und weil sich Atome, Moleküle, Zellen, höhere Lebewesen und Menschen zeitlich nacheinander entwickelt haben, spricht Wilber von Entwicklungsebenen, wobei jede folgende die vorherige integriert: Eine Zelle kann ohne Atome und Moleküle nicht sein.

Auch das menschliche Bewusstsein im Speziellen hat sich bis heute über mehrere deutlich unterscheidbare Ebenen entwickelt. Das Bewusstsein der Urhorden war archaisch, die Stämme hatten ein magisches, die frühen Hochkulturen ein mythisches Bewusstsein. In unserer Gesellschaft dominiert die rationale Ebene, die vom wissenschaftlichen Weltbild geprägt ist. Sie wird jedoch immer mehr von der pluralistischen Postmoderne („alles geht“) abgelöst. Wilber hofft für die Zukunft auf eine neue, integrale Bewusstseinsebene.

Jeder Mensch durchläuft die oben genannten Ebenen während seines Lebens. O.k., manche werden nie erwachsen, wie es so schön heißt, sie bleiben auf einer vorrationalen Ebene stehen. Die Mehrheit aber schwingt sich im Laufe des Lebens bis zu der Stufe auf, auf der der Großteil der Gesellschaft steht und die Wilber daher das „Durchschnittsbewusstsein“ nennt. Wer weiter will, wird durch den Magneten der sozialen Kontrolle zurück gehalten, wer hinterherhinkt, wird durch den Magneten der gesellschaftlichen Anforderungen nach oben gezogen.

Das dritte wichtige Element in Wilbers Bewusstseinsmodell sind die Bewusstseinszustände. Diese leitet er ganz einfach von den drei natürlichen Bewusstseinszuständen Wachen, Träumen und Tiefschlaf ab. An die letzen beiden können wir uns normalerweise nach dem Aufwachen nicht erinnern. Doch sind Wilber zufolge außergewöhnliche Bewusstseinszustände nichts anderes als ein wacher Zugang zu den Welten, die wir im Traum oder Tiefschlaf erleben. Auslöser für außergewöhnliche Bewusstseinszustände können extreme Lebenserfahrungen, spirituelle Techniken, aber auch psychoaktive Substanzen sein.

Zustände nach Wilber
Zustände nach Ken Wilber
Und nun kommts: Diese psychoaktiven Substanzen lassen sich recht elegant im Wilberschen Modell von Ebenen, Quadranten und Zuständen beschreiben. Nehmen wir nur einmal die Wirkung von Cannabis in den vier Quadranten: Zum einen haben wir den Konsumenten, der sein Wohlbefinden steigert und einen bestimmten, inneren, allein ihm zugänglichen Zustand erreicht. Zum anderen verändern sich dadurch seine Körper- und Hirnaktivität. Cannabis wirkt aber zugleich im kulturellen Quadranten, intersubjektiv, sozusagen. Hier wird ausdiskutiert, welche Bedeutung die Substanz für die Gesellschaft hat. Wohlgemerkt sprechen wir hier von der Innenseite, da durch Kommunikation gegenseitiges Verständnis erzeugt wird. Von außen betrachtet schafft Cannabis aber auch eine gesellschaftliche Infrastruktur (Headshops, Firmen, Polizeieinheiten, usw.): Das ist der untere rechte Quadrant.

Was nun Cannabis und andere psychoaktive Substanzen sonst noch mit dem Menschen aus der Sicht dieses Modells anstellen, darüber handelt das folgende Gespräch mit dem Psychologen und Suchttherapeuten Wulf Mirko Weinreich. In seinem Buch „Integrale Psychotherapie“ hat er das Wilbersche Modell für die psychotherapeutische Praxis umgesetzt, im März diesen Jahres wird er auf dem „Welt Psychedelik Forum“ in einem Vortrag die psychedelische Erfahrung im Kontext dieses Modells erläutern.

Frage:
Legt man das Modell Ken Wilbers zu Grunde, wirken psychoaktive Substanzen zum einen in den Quadranten, zum anderen auch im Bewusstsein des Menschen auf besondere Weise. Wie würden Sie die Wirkung von „Drogen“ zunächst einmal auf der subjektiven Ebene erklären?

Antwort:
Das hängt natürlich ganz von der Art der Substanz ab. Die lassen sich ja grob in drei Wirkungsrichtungen einteilen: die anregenden „Upper“, die beruhigenden „Downer“ und die Psychedelika. Es gibt auch noch ein paar Zwitter, wie MDMA und Cannabis.

Drogenwikrungen

Alle Substanzen, die auf dem Upper-Downer-Pfeil liegen, scheinen vor allem unser normales Tagesbewusstsein zu verändern, wobei die Upper bei den meisten Menschen deutlich Ich-stärkend wirken, die Downer eher Ich-auflösend. Um es extrem zu illustrieren: Man vergleiche dafür nur mal den typischen Kokainbenutzer mit dem typischen Heroinkonsumenten. Ganz anders dagegen wirken die Psychedelika, die es ermöglichen, das normale Tagesbewusstsein einschließlich des Ichs weitgehend zu transzendieren und in außergewöhnliche Bewusstseinszustände einzutauchen. Das Ich verstehe ich hier als individuelle psychische Struktur, also den Teil des Bewusstseins, der dafür sorgt, daß wir morgens beim Aufwachen immer noch wissen, das wir die gleiche Person sind wie gestern.

Frage:
Und wovon ist abhängig, ob die verschiedenen Substanzen einen positiven Aspekt in das Leben des Konsumenten einbringen?

Antwort:
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es nichts Negatives in unserem Universum gibt. Positiv und negativ sind menschliche Bewertungen, die einfach davon abhängen, ob etwas intelligent oder unintelligent eingesetzt wird: „Das Messer in der Hand eines Mörders ist etwas anderes als das Messer in der Hand eines Arztes.“ Selbst Heroin als die verrufenste Droge entfaltet als Morphium bei Schmerzpatienten ihr positives Potential.

Frage:
Intelligenter Einsatz ist also abhängig von der Kompetenz, der Motivation und vom Kontext?

Antwort:
Richtig. Psychoaktive Substanzen können uns die Möglichkeiten unseres eigenen Bewusstseins zeigen, oder auch, was uns fehlt. Sie können also Wegweiser sein – für dauerhafte Veränderung braucht man andere Methoden, wenn man nicht im Kreislauf der Sucht landen will. Ich benutze bei meinen Patienten gerne ein Bild: „Stell Dir vor, Du sitzt in einer dunklen Einzelzelle. Und dann nimmst Du eine Droge, die Fensterläden gehen auf, Du siehst die Sonne, den Himmel, eine Landschaft ohne Grenzen et cetera. Die Droge lässt nach – die Fensterläden schließen sich und Du sitzt wieder im Dunkeln. Um dauerhaft nach draußen zu kommen, hilft nur eines: Du musst Deinen Hintern bewegen!“ Und „Hintern bewegen“ ist für mich nur ein anderes Wort für Selbst-Entwicklung.

Frage:
Das zielt auf den transformatorischen Aspekt, der ja nicht immer erwünscht ist. Die meisten der Konsumenten wollen ja eher eine kurzzeitige Entspannung oder Erregung ihrer Lebenslage.

Antwort:
Die meisten Menschen benutzen psychoaktive Substanzen für Dinge, für die sie eigentlich nicht da sind: zur Gefühlsregulation, zur Problembewältigung, für Kontakt und Abgrenzung und so weiter. Das geht am wahren Potential der Substanzen vorbei. Sich nur entspannen zu wollen, das ist psychologisch gesehen, wie mit dem LKW Brötchen holen fahren – ein Fahrrad hätte es auch getan – beispielsweise Sex oder eine Phantasiereise. Aus integraler Sicht ist der transformatorische Aspekt natürlich der interessantere, wobei Transformation durchaus auch Spaß machen darf.

Frage:
Aber wie benutzt man psychoaktive Substanzen korrekt?

Antwort:
Der Hauptunterschied zwischen der hedonistischen und der transformatorischen Verwendung ist das Setting und vor allem die Aufmerksamkeitsausrichtung. Im ersten Falle agiert der Konsument in der Außenwelt und nimmt sich selbst nur am Rande wahr. Im zweiten Falle liegt die Aufmerksamkeit ganz auf der Selbstbeobachtung: Was verändert sich wie in Körper und Bewusstsein während der Wirkzeit? Erst dadurch können die Substanzen ihr volles Potential entfalten – und der Anwender kann lernen, in diese Zustände ohne chemische Hilfe zu kommen. MDMA kann das Wesen der Liebe zeigen, LSD ermöglicht spirituelle Erfahrungen. Aber natürlich ist in MDMA keine Liebe und in LSD keine Transzendenz enthalten – das ist alles im Bewusstsein des Anwenders. Ob jemand nun fähig ist, eine Substanz als Wegweiser zu benutzen, oder hedonistisch oder sich sogar nur zudröhnt, hängt natürlich von seiner persönlichen Reife ab – was integral gesehen nichts anderes als seine individuelle Bewusstseinsebene ist. .
Um mal ein Beispiel zu bringen: 1985 habe ich einen Beutel Marihuana geschenkt bekommen. Das war natürlich ein Schatz in der DDR, den man nicht so einfach wegpaffen konnte. Also habe ich mir immer wieder Settings überlegt, wie ich das meiste da rausholen konnte. Z.B. mehrere Runden den gleichen Weg durch ein Stück Straße und Park gehen, jedes Mal mit einem anderen Musikstück im Walkman und dabei beobachten, wie sich die eigenen Gefühle und der visuelle Eindruck je nach Musikstück änderten. Jedes Mal habe ich mir irgendetwas einfallen lassen, was ich erforschen wollte. Die einzelnen Experimente fanden immer im Abstand von mehreren Wochen statt. Nach 10-12 Malen hatte ich das Gefühl, alles gelernt zu haben und Marihuana wurde uninteressant. Nach der Wende habe ich noch ein paar andere Substanzen kennengelernt, mit denen es mir genauso erging: Ein paar Mal ausprobieren, lernen, wie ich den Zustand willentlich ohne Substanz herbeiführen kann – und Tschüß.

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Frage:
Und die Gefahr der rein entspannenden Herangehensweise liegt worin?

Antwort:
Die hedonistische Haltung verführt sehr zur eigenen Passivität und dazu, immer öfter immer mehr zu nehmen. Das verändert den Konsumenten auch – aber eher in regressiver Weise. Es ist für mich zum Beispiel erstaunlich, dass die meisten Patienten in meiner Klinik schon zig „Pappen“ eingeworfen, aber noch nie das volle Potential von LSD erlebt haben. Sie sagen, es sei schön bunt gewesen –von der wahren Natur des Bewusstseins keine Spur. Bei anderen Substanzen genau das gleiche. Und sie sind immer ganz platt, wenn ich ihnen zeige, dass sie mit bestimmten Trance-Techniken die gleichen Zustände wie mit ihren Drogen erreichen können.

Frage:
Denkt man dieses Argument bis zum Ende, könnte es zur Legitimation der momentanen Drogenpolitik dienen, da die hedonistischen Nutzer den Zusammenhalt des sozialen Systems gefährden.

Antwort:
Drogen sind meines Erachtens gerade in der hedonistischen Anwendung grundsätzlich systemstabilisierend, da die hedonistische Anwendung nicht zu kritischen Einsichten führt. Anregende Drogen wirken leistungssteigernd, beruhigende Drogen stellen die Leute ruhig – was will der Staat mehr? Das es Gesetze gegen viele psychoaktive Substanzen gibt, hat meines Erachtens weniger mit deren Gefahrenpotential, sondern eher was mit Traditionen und rivalisierenden Lobbies zu tun. Wissenschaftlich lässt sich der derzeitige Zustand jedenfalls nicht begründen.

Frage:
Müssen, um zu einer besseren Anwendung von Drogen zu kommen, zugleich immer auch Veränderungen in allen Quadranten angestoßen werden?

Antwort:
Grundsätzlich käme der notwendige Veränderungsimpuls aus dem kollektiv-inneren Quadranten, nämlich dann, wenn genügend Individuen die derzeit herrschenden Auffassungen in Frage stellen. Das Problem ist, dass diese Diskussion kaum von den reinen Hedonisten ausgeht, obwohl sie in der Überzahl sind. Eigentlich müsste beispielsweise der „Verein für Drogenpolitik“ mehrere Millionen Mitglieder haben – tatsächlich sind es nur einige hundert. Dagegen schafft es die Gruppe von Menschen, die sich für eine transformatorische Anwendung dieser Substanzen einsetzt, allein in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum zwei Großkongresse auf die Beine zu stellen – dabei sind das weltweit vielleicht nur tausend Menschen.

Frage:
Der kollektive-innere Quadrant, also das „Wir“, unterliegt in seiner Bewertung von psychoaktiven Substanzen den Zwängen der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Wie kann es angesichts der Konsummechanismen zum Umdenken kommen?

Antwort:
Die Frage verleitet ja fast zu einer allgemeinen Kapitalismuskritik – das spare ich mir hier mal. Integral betrachtet gehe ich davon aus, dass die Evolution einfach weiter geht – also auch die Evolution des individuellen und kollektiven menschlichen Bewusstseins. Daraus folgt, dass sich das Durchschnittsbewusstsein unserer Gesellschaft langsam aber sicher nach oben verschiebt. Damit wird irgendwann sowohl genügend Wissen vorhanden sein, um psychoaktive Substanzen differenziert zu bewerten, als auch genügend Kraft im Sinne von gesellschaftlichem Druck, um aus diesem Wissen konkrete Gesetze entstehen zu lassen. Man braucht also nur etwas Geduld.

Frage:
Wie könnte denn eine integrale Drogenpolitik aussehen?

Antwort:
Lassen Sie mich mal ein bisschen in die Zukunft spinnen: Eine solche Drogenpolitik müsste sowohl die Quadranten als auch die Ebenen beachten. Das heißt beispielsweise, dass restriktive Gesetze für Menschen, die sich mit relativ einfachen Bewusstseinsstufen identifizieren, weiterhin angebracht sein können – in diese Richtung geht ja der Jugendschutz. Dummerweise hört die Differenzierung der Gesetze mit 18 Jahren auf. Nur weil der Körper dann ausgewachsen ist, sind noch längst nicht alle Menschen „erwachsen“. Auch nach dem 18. Lebensjahr gibt es noch Entwicklung, allerdings verlagert sie sich immer stärker vom Körper auf das Bewusstsein in Form von Persönlichkeitsreifung. Es gibt zwar eine Wahrscheinlichkeit, dass ältere Menschen auch reifer sind, das ist aber kein linearer Zusammenhang. Das heißt, dass Erwachsene gleichen Alters nicht alle auf derselben Bewusstseinsebene stehen. Ich nenne die Bewusstseinsebene gerne „inneres Alter“ – im Gegensatz zum „äußeren Alter“ des Körpers. Anders ausgedrückt: Menschen über 18 unterscheiden sich nicht nur quantitativ voneinander, indem der eine vielleicht etwas schlauer ist, als der andere, sondern auch qualitativ. Konsequent zu Ende gedacht müssten für jede Ebene eigene Gesetze gemacht werden…

Frage:
… was unter falscher Anwendung leicht zu einem totalitären Staat führen kann.

Antwort:
Als Suchttherapeut würde ich mir Liberalität lieber auf anderen Gebieten denn dem der Drogen wünschen. Psychoaktive Substanzen können zwar durchaus intelligent eingesetzt werden, sind aber nicht wirklich lebensnotwendig. Da ich als junger Mensch auch etwas zur Übertreibung neigte, bin ich ganz froh, als ehemaliger DDR-Bürger erst mit 30 richtig mit dem Thema Drogen konfrontiert worden zu sein. Doch zurück zu einer integralen Drogenpolitik:
Da sich Bewusstseinsebenen derzeit nur relativ aufwendig bestimmen lassen, wäre die einzige praktikable Möglichkeit, den Zugang zu bestimmten Substanzen auch über das 18. Lebensjahr hinaus nach dem körperlichen Alter zu regeln, also Gesetze für 30-, 40- oder 50-jährige zu erlassen. Vielleicht gibt es irgendwann ja mal die Möglichkeit, die Bewusstseinsebene relativ schnell und sicher neurologisch zu bestimmen.

Frage:
Die neurologische Bestimmung wäre ja eine reine Messung im rechten Quadranten.

Antwort:
Wenn Wilber Recht hat, dass alle Phänomene in den inneren Quadranten Korrelate in den äußeren haben, müsste sich die Bewusstseinsebene des Einzelnen auch neurologisch nachweisen lassen. Zielorientierte Bewusstseinstests sind leider sehr anfällig, wie z.B. Assessment-Center zeigen: Nur um die begehrte Stelle zu bekommen, werden die richtigen Antworten von den Anwärtern auswendig gelernt, egal, ob man für den Job geeignet ist, oder nicht. Da bietet der rechte Quadrant einfach die objektiveren Daten, weshalb ja auch das körperliche Alter oft als Kriterium genommen wird. In meiner Zukunftsspekulation wäre ein neurologischer Status nichts anderes, als ein körperliches Kriterium – nur viel differenzierter. Genau genommen wäre es eher eine Form von Leistungsdiagnostik, so wie Schulzeugnisse. Nur dass hier nicht Intelligenz, sondern das allgemeine Bewusstseinsniveau gemessen würde. Leider sind Intelligenz und Persönlichkeitsreife ja nicht identisch, sonst würden es die Schulzeugnisse auch tun. Aber wie gesagt, dass ist nur eine Idee auf der Suche nach einem einfachen, objektiven und akzeptablen Kriterium.

Frage:
Und was hätte man von so einem so differenzierten Kriterium?

Antwort:
So, wie Schulzeugnisse einem Menschen unterschiedliche Rechte verleihen – z.B. die Möglichkeit zu studieren oder eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft einzunehmen – so könnte das gleiche für die Bewusstseinsebene in Bezug auf einen differenzierten Zugang zu psychoaktiven Substanzen gelten. Auch wenn es im Moment ungewöhnlich klingt, so gäbe es dann die Möglichkeit, dass Menschen gleichen äußeren Alters aufgrund ihres unterschiedlichen inneren Alters unterschiedliche Rechte hätten. Das könnte z.B. heißen, dass ein Mensch Alkohol trinken darf. Einem anderen – gleichaltrigen – wäre es dagegen verboten, weil man sich aufgrund seiner Bewusstseinsebene nicht sicher sein kann, ob er anderen Leuten unter Alkoholeinfluß nicht den Schädel einschlägt. Aus der Anwendung der Persönlichkeitsreife als Kriterium, ergäbe sich ein ironisches Paradoxon: Derzeit sind Drogen vorrangig ein Jugendthema. Nach dem integralen Modell käme es zu einer Umkehrung: Je älter – besser: je reifer – ein Mensch ist, desto eher würde ihm legaler Zugang zu bestimmten Substanzen gewährt.

Frage:
Ich wüsste aber immer noch gerne etwas mehr über die Auswirkung einer integralen Drogenpolitik auf die kollektiven Quadranten?

Antwort:
Eines hatte ich schon genannt: Eine differenziertere Betrachtung dieser Substanzen in der öffentlichen Meinung und daraus abgeleitete Gesetze. Außerdem müßte eine wirkliche Kultur im Umgang mit psychoaktiven Substanzen entwickelt werden, wie sie viele Naturvölker noch haben. Das heißt, die Menschen müssen lernen, mit diesen hochpotenten Mitteln sinnvoll umzugehen, nicht nur im Party-Setting. Thomas Metzingers Vorschlag für einen LSD-Führerschein geht z.B. in diese Richtung. Im kollektiv-äußeren Quadranten ginge es z.B. darum, außer dem Repressionsapparat eine Infrastruktur zu schaffen, die einen konstruktiven Gebrauch überhaupt erst ermöglicht. Das würde mit einer staatlich kontrollierter Produktion und dem Vertrieb beginnen, um Missbrauch weitestgehend auszuschließen, und vielleicht mit speziellen Forschungslaboratorien enden.
Um hier keine falschen Hoffnungen zu wecken und es ganz deutlich zu sagen: Eine integrale Drogenpolitik wäre weit von einer generellen Drogenfreigabe entfernt! Statt dessen ginge es um einen mit dem integralen Modell begründbaren differenzierten und rationalen Umgang mit diesen Substanzen. Der derzeitige Umgang in der westlichen Welt ist völlig irrational – was einer der Gründe für die Drogenkriminalität ist: Gesetze, die keiner versteht, werden ignoriert. Lediglich Holland versucht da andere Wege zu gehen.
Viele der jungen Leute, die sich heute die Freiheit nehmen, Drogen nach eigenem Gutdünken zu konsumieren, wären auch nach dem integralen Modell von bestimmten Substanzen ausgeschlossen. Verschiedene Drogen, deren Gefahrenpotential nachgewiesenermaßen geringer ist als die des Alkohols und die jetzt noch verboten sind, wären dann aber sicher auch in jungen Jahren schon erlaubt. Das 21. Lebensjahr sollte aber nach meiner Auffassung die absolut untere Grenze sein – Bewusstseinsebene hin oder her. Vorher haben Körper und Geist noch mit der Pubertät zu tun, so dass der Drogenkonsum in 99% aller Fälle nur dazu dient, die damit verbundenen Unannehmlichkeiten zu kompensieren. Vielleicht würde das Konsumalter für Alkohol sogar auf 25 oder 30 Jahre heraufgesetzt. Weitere Substanzen wiederum, deren Sucht und Gefahrenpotential absolut nicht beherrschbar ist, würden sicher für den Normalbürger generell verboten bleiben und wären nur bestimmten, z.B. medizinischen, Anwendungsbereichen vorbehalten. Wenn Evolution nach Wilber eine ständige Zunahme an Differenzierung und Komplexität ist, kann eine zukünftige Drogenpolitik auch nur eine differenzierte und komplexe sein. Im Moment ist das ja oft sehr grob: Die Befürworter sagen „Ja“ und die Gegner „Nein“ – und das wars.

Frage:
Wie sieht es aus mit der integralen Drogenpolitik im rechten oberen Quadranten, die sich mit den objektiven, beobachtbaren Tatsachen beschäftigt? Was können die herkömmlichen Naturwissenschaften leisten?

Antwort:
In diesem Bereich sind natürlich vor allem die Biochemie, die Psychologie, die Medizin und die Neurowissenschaften gefragt, um die Auswirkungen psychoaktiver Substanzen sowohl auf den Körper als auch auf das Bewusstsein des Individuums zu untersuchen. Verrückterweise werden diese Wissenschaften am stärksten von der allgemeinen Drogenprohibition getroffen: Während der Jugendliche auf dem Parkplatz vor seiner Disko das – illegale – Drogenparadies vorfindet, quält sich der interessierte Wissenschaftler von Sondergenehmigung zu Sondergenehmigung. In Wissenschaftskreisen ist allgemein bekannt, dass das Gefahren- und Suchtpotential der Substanzen sehr unterschiedlich ist. Das zeigen auch meine eigenen Ratings bei Konsumenten. Drogenklassifikation

Zu ähnlichen Ergebnissen ist 2007 eine englische Befragung gekommen, die an Ärzten, Polizei- und Justizbeamten durchgeführt wurde, die im Drogenbereich arbeiten. Aus diesen und auch vielen medizinischen Erkenntnissen müsste die Politik nur mal die entsprechenden Schlüsse ziehen.
Was Sie in der oberen Tabelle sehen, sind bloß die negativen Aspekte. Viel spannender wären natürlich die positiven, nämlich das einmalige Potential der einzelnen Substanzen. Der weitaus größte Teil der Untersuchungen, die es dazu gibt, stammt leider aus den 60er Jahren, also aus der Zeit, bevor der „war on drugs“ ausgerufen wurde. Erst in den letzten Jahren gibt es wieder eine nennenswerte Forschung. Diese ist vor allem neurologisch orientiert, versucht also mit bildgebenden Verfahren die Wirkung auf das Gehirn zu untersuchen. Die wirklich spannende Frage ist natürlich, wie eine Substanz zum Wohl der Menschen genutzt werden kann – und da reicht es nicht, die chemischen und biologischen Veränderungen im Gehirn zu untersuchen, sondern auch die Auswirkungen auf Denken, Fühlen und Verhalten.

Frage:
Sie sind ja nun Psychologe und Suchttherapeut, beschäftigen sich also überwiegend mit dem individuell-inneren Quadranten. Wo sehen Sie da Anwendungsmöglichkeiten?

Antwort:
Da ich selbst über 20 Jahre Meditationserfahrung habe, interessieren mich persönlich besonders außergewöhnliche Bewusstseinszustände – also das, was man u.a. auch mit bewusstseinserweiternden Drogen erreichen kann. Unsere Gesellschaft leidet unter anderem ja an einer Sinnkrise. Weder der rationale Materialismus – „Money makes, that the world goes round“ – noch das mythische Christentum sind in der Lage, dieses Loch in den Seelen zu füllen. Erforschung des Innenraumes über Meditation wäre eine Möglichkeit – doch hat nicht jeder die Zeit dazu, sich 20 Jahre lang hinzusetzen. Ein entsprechendes Setting vorausgesetzt, bräuchte es eigentlich nur 45 Minuten, damit einem Menschen deutlich wird, dass Atheismus ein Irrtum ist und auch der christliche Vater-Gott ein bißchen an der Wahrheit vorbei geht – nämlich so lange, wie die meisten oral eingenommenen Halluzinogene brauchen, um zu wirken. Wer jemals die entsprechende Erfahrung gemacht hat, weiß, dass es sich dabei nicht um „Halluzinationen“ handelt, wie uns der Name Halluzinogene weismachen möchte, sondern dass es so ist, als ob einem eine Augenbinde abgenommen wird – und man die Welt zum ersten Mal sieht, wie sie wirklich ist.

Frage:
Wenn man das so hört, wundere ich mich, dass halluzinogene Drogen keinen größeren Einfluß auf das religiöse Leben haben?

Antwort:
Ich finde ihn ziemlich stark. Das ganze vielgeschmähte New Age ist letztlich nichts anderes als ein Nachhall der ersten psychedelischen Revolution in den 60ern: Ein Teil der Jugend machte unter Drogen spirituelle Erfahrungen pantheistischer und panentheistischer Natur. Da unsere Gesellschaft dafür keine Erklärungsmodelle hatte, wandten sie sich in den Osten. Sie suchten nach Erklärungen und nach Wegen, um diese Zustände permanent zur Verfügung zu haben. Das beste Beispiel sind die Beatles, die zu Maharishi Mahesh Yogi gingen, nachdem sie LSD genommen hatten. Das hat letztendlich den Buddhismus-, Zen- und Hinduismus-Boom ausgelöst. Auch die Beschäftigung mit dem Schamanismus gehört dazu. Im Westen bieten die Unitarier bzw. Freireligiösen zwar Erklärungsmodelle im Geiste der Aufklärung, aber keine Erfahrungswege, wie man solche Zustände dauerhaft verwirklichen kann. Letztendlich geht es aber darum, beides zusammenzubringen: Die Wege, um unmittelbare spirituelle Erfahrungen zu machen, sowie Erklärungsmodelle, die möglichst moderne und postmoderne Erkenntnisse mit einschließen sollten, die also einer rationalen oder pluralistischen Bewusstseinsebene entsprechen. Das könnte ein zeitgemäßer Ausweg aus der heutigen Sinnkrise sein. Dank des deutschen Papstes geht es im Moment ja eher wieder zurück in Richtung Mittelalter.

Frage:
Gibt es direkte therapeutische Anwendungen?

Antwort:
Die meisten Therapeuten beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Tagesbewusstsein, also dem manifesten ICH. Aus integraler Sicht könnte man es so beschreiben, dass sie psychisch Kranken helfen, eine Bewusstseinsstufe zu erreichen, die die umgebende Gesellschaft für das äußere Alter des Betroffenen für angemessen hält. Dabei wird sehr viel mit Verhaltenstraining, Aufarbeitung der Vergangenheit, Einsicht, etc. gearbeitet, wenig jedoch mit intensiven korrigierenden Erfahrungen. Und gerade da könnten solche Substanzen hilfreich sein, als Wegweiser oder als Katalysator für psychische Prozesse. Z.B. erhielten in den 60ern Alkoholabhängige in Kanada eine einmalige Dosis LSD in einem klinisch-therapeutischen Setting – mit einer bis heute anhaltenden umwerfenden Effektivität. Ich persönlich halte zwar LSD aufgrund von Wirkungsdauer und Intensität gerade bei wenig strukturierten Patienten für ein extrem heftiges Medikament. In letzter Zeit wird der Einsatz von MDMA und verwandten Stoffen bei verschiedenen psychischen und psychosomatischen Krankheiten untersucht, z.B. bei Posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese Substanz scheint das größte therapeutische Potential zu haben, bei einem relativ geringen Gefahren- und Suchtpotential. In meinen Gruppen hatte ich z.B. noch nie einen Ecstasy-Abhängigen. Die meisten, die diese Droge hedonistisch einnehmen, kennen sie ja nur im Party-Setting, meist überdosiert, damit sie länger tanzen können und mehr Alkohol vertragen. 95% meiner Patienten haben noch nie den Zustand erlebt, den man vielleicht am besten als „Herzöffnung“ bezeichnen kann, obwohl sie schon hunderte Pillen „geklinkt“ haben. Wenn ich „95%“ sage, ist mir schon bewusst, dass das nicht repräsentativ ist, da Menschen, die eine Therapie nötig haben, diesbezüglich eine Negativ-Auswahl darstellen. Dieser Zustand der „Herzöffnung“ zeichnet sich durch absolute Angstfreiheit, Urvertrauen und Kontaktfähigkeit aus. Dadurch ist es recht leicht möglich, sich mit Traumata auseinanderzusetzen, deren Konfrontation man normalerweise vermeiden würde. Das ist das, was man als Katalysatorfunktion bezeichnen könnte.

Frage:
Kritiker wenden ein, dass es absurd sei, in der Suchttherapie Drogen einzusetzen.

Antwort:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine einmalige Erfahrung im therapeutischen Setting Süchtigen klar machen könnte, was sie eigentlich in den Drogen suchen, nämlich Nähe, Kontakt, Sicherheit. Viele von ihnen sind ja genau das Gegenteil: Sie sind voller Spannungen, misstrauisch und absolut nicht kontaktfähig. Gerade wenn jemand durch traumatische Erfahrungen oder eine lange Haftzeit emotional total blockiert ist, könnte die Erfahrung dessen, was möglich ist, eine Neuorientierung anstoßen.
Eine andere Möglichkeit ergäbe sich bei der Therapie von Menschen, die eine drogeninduzierte Psychose haben, die nach einem „Horrortrip“ „auf LSD hängengeblieben“ sind, wie man so schön sagt. In der normalen Psychiatrie versucht man das manifeste ICH zu stabilisieren. Als Gegengewicht zur Unordnung, die der Horrortrip im subtilen Selbst dieser Menschen verursacht hat, mag das ganz hilfreich sein – die Unordnung selbst wird dadurch aber nicht beseitigt. Eine wirkliche Heilung von Horrortrips kann meines Erachtens nur erfolgen, wenn man mit therapeutischer Hilfe noch einmal an diesen Platz geht, das heißt, indem man den ursächlichen Bewusstseinszustand jenseits des Tagesbewusstseins noch einmal induziert. Da die meisten dieser Menschen das nicht willentlich hinbekommen, wäre eine Möglichkeit die therapeutisch gesteuerte Anwendung eines Halluzinogens um dann den Schrecken bewusst zu integrieren. Allerdings wären solche Anwendungen sicher Einzelentscheidungen, da nicht alle Patienten fähig sind, aus derartigen Sitzungen die entsprechenden Einsichten zu ziehen. Und es kann ja nicht darum gehen, bestehende Psychosen oder Suchtstrukturen zu verfestigen. Das vorhin erwähnte Beispiel mit den Alkoholikern oder die erfolgreiche Therapie von Heroin-Abhängigen mit Ibogain zeigen, dass die therapeutische Anwendung psychoaktiver Substanzen nicht zu mehr, sondern zu weniger Sucht führt.

Frage:
Das therapeutische-transformatorische Setting, das Sie immer wieder betonen, was ist das besondere daran?

Antwort:
Die Beschreibungen ähneln sich da ziemlich: Statt „Risiko-Mischkonsum“ in großen Mengen werden die Substanzen dort in sehr geringer Dosis und pur verabreicht, dann niemals häufig, sondern nur einmal oder wenige Male in großen Abständen und nach sorgfältiger vorheriger Vorbereitung, statt Lärm ist dort Stille, statt Bewegung ist dort Ruhe, statt um den Kontakt mit anderen Menschen geht es um den Kontakt mit sich selbst. Dazu kommt dann noch eine entsprechende Lenkung durch Fragen, die der Therapeut stellt. Das ist natürlich das genaue Gegenteil vom Party-Setting.

Frage:
Wenn der therapeutische Nutzen so offensichtlich ist, warum wird das aus ihrer Sicht nicht schon längst praktiziert?

Antwort:
Da gibt es mehrere Gründe. Die politischen hatten wir schon. Dann gibt es natürlich wirtschaftliche: MDMA wurde schon 1913 entdeckt. Doch damals gab es noch keine richtige Psychotherapie. Heute, wo man wüsste, was man damit anfangen kann, sind die Patente abgelaufen. Das heißt, dass MDMA für die Pharmakonzerne völlig uninteressant ist, da sich damit kein Geld mehr verdienen läßt. Für andere Substanzen wie LSD und Psilocybin gilt ungefähr das gleiche. Außerdem müssen Vorteile und Nachteile natürlich erst einmal genau erforscht werden – wobei die Risiken der meisten klassischen psychoaktiven Substanzen natürlich bekannter sind als die Nebenwirkungen vieler Medikamente, die die Pharmakonzerne aktuell auf den Markt bringen. Hinzu kommt der alte Streit zwischen Medizin und Psychotherapie: Nur Ärzte dürfen Medikamente geben, auch psychoaktive. Aufgrund ihrer Ausbildung und ihres Auftrages sind die meisten Mediziner allerdings nicht an Medikamenten interessiert, die zu außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen führen – im Gegenteil: Der Mensch soll doch wieder „normal“ werden. Morphium ist okay, das nimmt die Schmerzen und der Patient ist wieder normal. Und Polamidon nimmt den Heroinabhängigen den Suchtdruck, ohne einen Rausch zu erzeugen. Aber MDMA, Ibogain oder LSD? Dabei haben diese 3 Substanzen wenig oder kein eigenes Suchtpotential. Wenn ich all die abhängig machenden Medikamente sehe, habe ich manchmal das Gefühl, dass die meisten Ärzte mehr Angst vor dem Rausch als vor der Sucht haben.

Weinreich

Frage:
Was haben Sie für ein Klientel? Können Sie das genauer beschreiben?

Antwort:
Altersmäßig natürlich eher junge Leute, die meisten aus dem Prekariat. Und wenn ich es nach den Hauptdrogen trennen sollte, könnte ich sagen, ca. 30% Heroin, 30% Kokain, 30% Methamphetamin und 10% THC. Von diesen 100% sind 98% aber auch Raucher und 80% haben ein Alkoholproblem. Oft steht letzteres sogar im Vordergrund.

Frage:
Und das Wilbersche Modell findet Verwendung bei Ihrer Arbeit?

Antwort:
Klar! Daran wird doch eines deutlich: dass Sucht in erster Linie keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung ist. Das zeigt sich an den Symptomen in allen Quadranten, z.B. emotionale und kognitive Unreife im individuell-inneren und süchtiges Verhalten und die körperlichen Auswirkungen im individuell-äußeren. An den Grenzen zu den kollektiven Quadranten kommen dann Störungen der Beziehungsfähigkeit und eine radikale Weltsicht im inneren und dissoziales Verhalten wie Beschaffungskriminalität etc. im äußeren hinzu. Normalerweise bekommen wir einfach nicht mit, das das alles zusammengehört, weil wir unsere Aufmerksamkeit aus dem Kontext heraus immer nur auf einen Quadranten richten. Und dann sehen wir entweder den Kriminellen, oder den Süchtigen, oder den Radikalen oder den emotional instabilen Menschen. Das sind einfach alles Symptome, die für eine bestimmte Entwicklungsebene typisch sind, mit der sich die meisten der oben beschriebenen Klienten identifizieren. In der klassischen Psychologie läuft sie unter dem Terminus „Persönlichkeitsstörung“. Der Blick durch die Quadrantenbrille hilft mir, das ganze Paket von Symptomen als ein Ganzes zu sehen und mich nicht an einzelnen festzubeißen. Das heißt, ich versuche nicht nur, den Patienten von seiner Sucht wegzukriegen, sondern ihm auch zu helfen, einen Entwicklungsschritt als ganzer Mensch, also in allen Quadranten zu machen.

Frage:
Ist das Modell für Ihre Patienten denn nicht etwas zu kompliziert?

Antwort:
Ich arbeite da schon mit Vereinfachungen, doch versuche ich ihnen grundsätzlich die Bewusstseinsebenen klar zu machen, vor allem, was es für Vorteile hat, sich da weiterzuentwickeln. Manchmal geht es auch ganz handfest zu. Z.B. lasse ich mich nicht auf rechtsradikale Diskussionen ein, da es dabei meines Erachtens nicht um eine wirkliche politische Meinung geht. Ich mache ihnen einfach deutlich, dass Rechtsradikalität eine Kinderkrankheit des Geistes ist, wie Mumps oder Masern für den Körper. Und dagegen hilft nur eines: Schnell erwachsen werden.

Frage:
Wo sehen Sie denn als nächstes Veränderungen im öffentlichen Umgang mit psychoaktiven Substanzen?

Antwort:
Ich bin mir sicher, dass die psychotherapeutische Anwendung über kurz oder lang kommen wird. Die Forschung in anderen Ländern ist sehr verheißungsvoll. Und spätestens wenn die Krankenkassen mitbekommen, dass sie damit viel Geld und Therapiezeit sparen können, werden sie Druck auf die Pharmakonzerne und die Politiker ausüben, damit die ihre Blockadehaltung aufgeben. Das könnte noch vor einer Liberalisierung des Betäubungsmittelgesetzes kommen.


Personeninfo:
Wulf Mirko Weinreich

geb. 1959, Dipl.-Psych., außerdem Studium der Ethnologie, Sinologie und Religionswissenschaft, schon viele Jahre mit Unterstützung vieler Lehrer und Methoden auf Entdeckungsreise im eigenen Innenraum, seit 1985 therapeutische Arbeit mit Methoden der Humanistischen, Systemischen und Transpersonalen Psychologie im Einzel- und Gruppensetting, mehrere Jahre ehrenamtliche Mitarbeit in einer Drogenberatungsstelle, z. Zt. Gruppentherapeut in einer Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen, Autor des Buches „Integrale Psychotherapie“
Website: http://www.integrale-psychotherapie.de

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Cognitive Enhancement Übermensch

Einleitung zum Telepolis Übermensch Blog – Projekt Übermensch: Upgrade ins Nirvana

Einleitung zu einem neuen Telepolis-Blog am 21.11.2007

Projekt Übermensch: Upgrade ins Nirvana

Jörg Auf dem Hövel

Robotik, Neuro-Implantate, Hirn-Enhancement, Gentechnik: Wohin führt das?

Zwang und Lust an Vervollkommnung der eigenen Person sind uralt, evolutionär zunächst dem Überleben dienend wurde Erkenntnis zum Kulturgut. Schon die frühen Werkzeuge erweiterten den allgemeinen Handlungsraum des Menschen. Interessant wurde es immer dann, wenn die Werkzeuge inkorporiert wurden, denn dann stand Integrität und Wesensnatur auf dem Spiel.

Krücke, Holzbein und Brille sind frühe Prothesen, ihre Linie verlängert sich bis zu den chipgesteuerten Hochleistungsprothesen bei den heutigen Paralympics. Früher waren Prothesen und Implantate schlechter Ersatz, nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis eine Prothese oder ein Implantat zum Ausschluss eines Sportlers bei einem Wettbewerb führen wird (Wann ist ein Mann ein Mann?). Der rasante technische Fortschritt, Rechenkapazität gepaart mit Miniaturisierung, ermöglichen den Einzug der Technik in den Körper. Ein wunderbares Beispiel dafür, vor welchen Aufgaben die Sportethik zukünftig stehen wird.

baumkroneCochlea-Implantate übernehmen das Ohr, andere zentrale Funktionen des Körpers werden folgen. Teile der KI-Gemeinde träumen schon jetzt von der Übernahme höherer kognitiver Funktionen. Aber der Künstlichen Intelligenz sind über die Jahre die Grenzen ihres Ansatzes vor Augen geführt worden. Das hält die Apologeten des vollständigen Nachbaus des Menschen nicht davon ab, in unregelmäßigen Abständen den Durchbruch zu verkünden. In den letzten Jahren ist es still geworden um Minsky, Moravec und Kurzweil, dafür durfte Aubrey de Grey ran und die Heilung des Alterns voraussagen. Man kann sich über die Propheten lustig machen, sie sind allerdings nur die Randerscheinung einer umfassenden Geistesströmung, welche die Fähigkeiten des Menschen technisch erweitern will.

Die Rolle der in menschenähnlichen Maschinen verkörperten Künstlichen Intelligenz dürfte dabei klein bleiben. In eng umrissenen Welten wie beispielsweise Schachbrettern ist die KI stark, sobald sie in reale Unwägbarkeiten geworfen wird, zeigt sich die Schwäche der reinen Berechnung. Die Siliziumknechte tummeln sich zur Zeit auf Miniatur-Fußballplätzen oder auf vier Rädern in der Wüste und haben frappante Probleme, sich autonom zu orientieren, anzukommen, geschweige denn auch noch sinnig zu handeln.

Dort wo KI zum Posthumanismus wird, ist die Schwelle zum Erlösungsversprechen übertreten. Ob Reinraum des Cyberspace oder Upgrade eines Androiden mit kompletthumaner Software: Im Kern geht es um den Übergang des menschlichen Wesens in eine neue Seinsform. Logischerweise fließt in diesem Siliziumparadies nur klares Wasser die Flüsse hinunter und alle Frauen haben Körbchengröße G.

Neuro-Enhancement

Weitere Techniken weisen über den Menschen hinaus: Magnetisches und medikamentöses Enhancement der Denkvorgänge und natürlich die Gentechnik. Die Doping-Diskussion ist momentan noch primär an körperlich leistungssteigernden Substanzen wie EPO festgemacht, dabei leben Teile der Gesellschaft in einem dauergedopten Zustand. Morgens Koffein, Abends das Entspannungsbierchen, am Wochenende ein Näschen. Für die Verzweifelten Prozac, für die Willigen Viagra, für die Gestressten Diazepam.

Das spirituelle Doping des Geistes fristet ein Schattendasein in der Ecke der Drogenpolitik. Diese wird mittlerweile ohnehin von den Pharma-Konzernen effektiver betrieben. Indikationen lassen sich immer finden, das Geld kommt mit dem Off-Label-Use rein. Die Diskussion um Neuro-Enhancement mittels neuer, legaler Wirkstoffe ist bereits in Gang, aber in den Pipelines der pharmazeutischen Firmen ist kein Wundermittel mit Namen „Nürnberger Trichter“ in Sicht.

Allerdings werden die Grundlagen des Lernens immer besser ergründet, die Erforschung der Alzheimer Demenz zeigt die neuronalen Bedingungen des Denkens auf, hier lastet Leistungsdruck auf den Arzneimittelforschern. Weil zudem hohe Gewinne locken, ist damit zu rechnen, dass bessere Wirkstoffe entwickelt werden, die zumindest die Degeneration aufhalten. Ob dies in gesunden Menschen zu einer Leistungssteigerung des Denkorgans führt, steht auf einem anderen Blatt.

Genbasierte Designer-Medikamente

Rund zehn Prozent aller Medikamente auf dem Markt sind mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt worden – Tendenz steigend. Im Gegensatz zur grünen Gentechnik ist dieser Bereich der roten Gentechnik weithin akzeptiert. Das Einbringen eines fremden Gens in einen Organismus, um diesen zur Expression eines bestimmten Wirkstoffs zu bringen, ist die eine Sache, das Einbringen von fremden Genen in den menschlichen Organismus eine andere.

Aus Sicht einiger Mediziner ist diese „Gentherapie“ nur die logische Fortsetzung der Produktion von gentechnischen Arzneimitteln. Hierbei würde beispielsweise ein Patient mit einer Enzym-Mangelkrankheit keine Medikamente mehr einnehmen, sondern einige seiner Körperzellen würden gentechnisch so verändert werden, dass er das fehlende Enzym selbst bildet.

Bei der erblichen Immunschwäche SCID-X wurde das schon versucht, doch es trat als Nebenwirkung Leukämie auf. Die Mediziner hatten das Enzym-Gen an einer falschen Stelle ins Erbgut der schwerkranken Probanden eingefügt. Gentherapeutisch behandeln tat man auch zwei Männer in Frankfurt am Main. Dort wurde 2005 den zwei schwerkranken Patienten blutbildende, gentechnisch veränderte Stammzellen injiziert. Der Erfolg ist bis heute umstritten, die Langzeitwirkung auf die körpereigenen Zellen unklar.

Wissenschaftler wie der Humangenom-Pionier Francis Collins, der das „Human Genome Project“ zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms leitete, sehen gleichwohl optimistisch in die Zukunft. Er sagt voraus, dass bis 2020 genbasierte Designer-Medikamente für Bluthochdruck, Diabetes und andere der sogenannten „Volkskrankheiten“ verfügbar sein werden.

An dieser Stelle kann der Raum betreten werden, in dem die Zukunftsmusik spielt. Vorstellbar sind zukünftig beispielsweise Gentherapien, die auf die Nachkommen des Patienten vererbt werden. Noch verwehren sich die Mediziner gegen solche Ideen. Und noch geht es nur um ein Stück vom Leben für schwerkranke Menschen.

Der Übermensch des 21. Jahrhunderts

Schon immer gab es Bemühungen, sich mit Hilfe der Errungenschaften der Medizin nicht nur zu therapieren, sondern auch über den normalen Zustand hinaus zu optimieren. An dieser Stelle setzt Enhancement an, die Erweiterung der Basisfunktion.

Dieses Über-sich-Hinauswachsen, der Versuch der Vervollkommnung, die Lust, schier Übermenschliches zu leisten, ist Triebkraft der Menschheit bis heute; mit allen kreativen wie zerstörerischen Konsequenzen. Mit ironischer Konnotation kann man von einer sozialen Bewegung der „Übermenschen“ sprechen.

Aber der Übermensch ist nicht nur einer, der über sich hinaus wachsen will. Nach Friedrich Nietzsche will der Übermensch die Kräfte des heiligen Chaos in das Diesseits bringen. Alle Gefühlsspitzen und Erweckungen, aber auch die bis dato ins Jenseits gerichteten Ekstasen und Hoffnungen auf Erlösung sollen zurück auf die Erde gebracht werden.

Während Nietzsches Übermensch die Religion in sich wieder finden will, hat der Übermensch des 21. Jahrhunderts sie in den Raum technischer Potentiale zurück verfrachtet. Gründe dafür gibt es genug: Der Fortschritt wurschtelt sich in die letzten Fasern des molekularen Daseins hinein, alles scheint erklärbar, wenn nicht heute, so doch morgen. In diesem Sinne ist Wissenschaft zur Quasi-Religion geworden. Das über sich hinaus wachsen ist heute technisch banalisiert, die Aufgehobenheit im heiligen Chaos, dem geistigen Urgrund aller Religionen vor ihrer unheilvollen Institutionalisierung, ist heute eher durch den Cyberspace erwünscht als durch religiöse Praktiken.

Nietzsches Übermensch war ein entscheidendes Stück weiter gegangen. Erst in der Transzendierung des arbeitsorientierten, technisierten Welt findet der Mensch seine wahre Bestimmung: Ein hingebungsvolles Leben als Kunstwerk. Nicht nur am Rande sei hier erwähnt, dass der Übermensch eben auch Gefahr läuft sich einzubilden, über die aus seiner Sicht Zurückgebliebenen zu richten. Wo der Übermensch herrscht müssen die Untermenschen leiden.

Selbstvervollkommnung trägt immer auch die Gefahr der Egozentrik und des Größenwahns in sich. Durch das über sich hinauswachsen entfremdet der Mensch sich dann von sich selbst. Man merkt, hier schwingt im Hintergrund schon die Idee von der Raupe, die noch zum Schmetterling werden muss. Getrieben wird diese nur heute wohl weniger vom naturgegebenen Programm, als von den Anforderungen der Leistungs-, manche würden sagen kapitalistischen Gesellschaft.

Angesichts der ökologischen Lage kann der Übermensch heute nur noch bescheiden von seinem Gipfel aus hinab blicken. Zu lange hat er vergessen, auf welchem Grund und Boden er da eigentlich steht. Nun müssen Aufstreben und Genügsamkeit neu ausbalanciert werden.

Es gibt also viel zu tun, um die Chancen, Gefahren und Absurditäten des Projekts „Übermensch“ zu erläutern. In einem neuen Telepolis-Blog wird davon zukünftig die Rede sein.

 

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Cognitive Enhancement Übermensch

Modafinil, die Firma Cephalon und ein Selbstversuch

telepolis, 23.10.2007

Gehirn-Doping: Augen geradeaus

Wie die Pharmafirma Cephalon die vermeintliche Gehirndoping-Substanz Modafinil im psychoaktiven Markt etabliert. Dazu ein Selbstversuch

Im Jahre 1992 wunderte sich Frank Baldino. Die eigentlich nachtaktiven Mäuse in dem Versuchslabor der Pariser Firma Lafon blieben den ganzen Tag wach. Die Tiere standen unter dem Einfluss einer neu entwickelten Substanz, die gegen Depressionen helfen sollte. Die chemisch korrekte Bezeichnung für den Wachmacher lautete kryptisch 2-Diphenylmethyl-Sulfinyl-Acetamid, kurz „Modafinil“ genannt.

Baldino hatte 1987 in den USA die Pharma-Firma „Cephalon“ gegründet und war in Paris auf der Suche nach einem neuen, aufputschenden und vor allem verkaufsträchtigen Medikament mit wenig Nebenwirkungen. Er entschloss sich Modafinil zu lizensieren. 2006, genau 13 Jahre nach der Lizenzierung, nahm Baldinos Firma bereits jährlich 727 Millionen Dollar alleine mit Modafinil ein. Generika-Hersteller sind in ihre Schranken gewiesen worden, Cephalon kann Modafinil, das in den USA unter dem Namen Provigil (Deutschland: Vigil) über den Tresen geht, bis 2011 ungestört verkaufen.

Der Erfolg von Cephalon und Modafinil gilt als Blaupause für die Etablierung eines so genannten „cognitive enhancers“ im Markt, einer Hirnpille, die nicht nur aufmerksam, sondern auch schlauer machen soll. Ursprünglich gegen die plötzlichen Schlafattacken von Narkoleptikern zugelassen, mausert sich das Medikament seit einigen Jahren zum Alleskönner. Aber was kann die Substanz wirklich?

Erster Anlauf
27.7.2007, 16.00 Uhr
 Das Wochenende naht, aber es liegt Arbeit auf dem Schreibtisch. Schrecklich schwere Artikel für die Telepolis? Nein, wildes Geschreibsel für einen Newsletter. Ich nehme die erste 200mg Dosis Modafinil meines Lebens. Set und Setting sind hervorragend: Gut ernährt, drei Wochen Urlaub in Griechenland hinter mir, eine gesunde Frau, Familie und Freunde gut in Futter. Nun will ich leisten und dabei auch noch schlauer werden. Ich bemühe mich möglichst nicht auf die Wirkung zu achten, die muss schon von alleine kommen.
17.30 Uhr
 Leichte, subjektiv empfundene Temperaturerhöhung. Ich arbeite normal weiter. Zügig und gekonnt, wie immer. Weder bin ich schneller an der Tastatur, noch sprudeln besonders brillanten Sätze aus mir in den PC.
19.00 Uhr
 Nun ja, zwei Tassen Kaffee würden mich aufgeweckter, aber auch nervöser machen. Ein ganz subtile Wachheit ist da, gänzlich ohne Euphorie, ohne Schub, nichts, was sich nicht sofort wieder abschalten ließe.
20:30 Uhr
 Feierabend. Das Kino auf der Leinwand erlebt sich nicht anders. Und das bei dem Simpsons-Film. Behalte ich mehr als sonst? Vielleicht ist es auch das eine Duff-ähnliche Bier, das mich etwas träge macht. Alkohol scheint kontraproduktiv. Danach jedenfalls ist mir in der Helligkeit wohler.
22.00 Uhr
 Sozial voll verträglich. Ich plaudere ohne besonders eloquent zu sein. Aber manchmal schaue ich mich um und merke: irgendwas ist anders.
22.15 Uhr
 Plötzlich leichtes ziehen im Unterkiefer, eine Erinnerung an das MDMA der späten 80er Jahre. Allerdings ohne dessen aufwallende, schwitzende Gefühlsschübe. Wahrscheinlich jubeln jetzt die Vertreter der Flashback-Theorien auf. Tja, jede wirklich gute Erinnerung setzt sich halt fest und wird eventuell mal wieder rausgekitzelt.
22:45
 Ich beobachte schon etwas schärfer, oder bilde ich mir das nur ein? Ein Grundproblem von Modafinil. Vielleicht hätte ich keinen grünen Tee beim Asiaten trinken sollten. Aus dem Essen kommen keine Würmer, „Langweilig“, wie Homer Simpson sagen würde. Ich gähne zu dritten Mal. Ist es das Gefühl, bevor aus gleich richtig abgeht? Nein.
23 Uhr
 Ich schaue Ottis Schlachthof auf Bayern 3. Ein sicheres Zeichen, dass ich nicht normal bin. Oder lockt mich der intellektuelle Humor? Unklar.
23.30 Uhr
 Ich lese.
1:45 Uhr
 Immer noch wach. Wahrscheinlich könnte ich gut schlafen, aber warum? Ich dümpel zwischen GTR2-Online Racing und einem Buch über die Lebensgeschichte eines toskanischen Kaufmanns aus dem 15. Jahrhundert.. Leichtes Hangovergefühl im Gesicht macht sich breit. Kein guter Atemrhythmus.
2.30 Uhr
 Immer noch nicht richtig müde gehe ich trotzdem ins Bett und schlafe sofort ein. Kleiner Kater am nächsten Tag, eine gewisse Schwere im Körper.

Off-Label Erweiterung

Nach den klinischen Test genehmigte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA 1998 den Einsatz von Provigil bei Narkolepsie. Bei Narkoleptiker verringert Modafinil die Zahl der plötzlichen Schlafepisoden um ungefähr eine Attacke am Tag. Eine höhere Dosierung als 400 mg hilft nicht besser. Die Hälfte der Konsumenten leiden unter Kopfschmerzen, andere Störwirkungen können Übelkeit, Schwindel und Durchfall sein.

Schon vorher hatte Cephalon aber nicht nur Kontakt zu Neurologen aufgenommen, die das unbekannte Medikament zukünftig verschreiben sollten. Mit einer Marketingkampagne sorgte man für die Verbreitung auch bei Ärzten anderer Fachrichtungen. In einer Broschüre wurde auf die hervorragende Wirkung von Modafinil auch bei anderen Krankheiten hingewiesen. Lange Zeit hielt die FDA die Füße still, auch, weil die Substanz als relativ ungefährlich gilt und in dem Ruf steht, auch bei lang anhaltender Anwendung nicht abhängig zu machen.

2002 wurde es der Behörde zu bunt, man rügte die aggressiven Werbemethoden von Cephalon, Ende 2004 ermittelte sogar der Bundesstaatsanwalt. Das Problem: Die Gesetze verbieten Unternehmen die Anpreisung ihrer Mittelchen für andere Indikationen als die von der FDA genehmigten; man kann aber nicht verhindern, dass Ärzte auf eigene Faust experimentieren.

Zwar weiß bis heute keiner ganz genau wie die Droge im Körper funktioniert, das hindert aber gerade in den USA wenig Ärzte Provigil bei allerlei Wehwehchen zu verschreiben: Chronische Müdigkeit, Schläfrigkeit, Herzfehler, Jet-Lag.


Baldino weiß: Inzwischen erzielt Cephalon die Hälfte aller Provigil-Einnahmen aus diesem legalen, aber argwöhnisch beobachteten „Off-Label Use“. Und dieser ist nicht nur bei Modafinil das Einfallstor für den Einbruch in neue Märkte.

Zugeben darf das niemand. In der Cephalon-Niederlassung in Martinsried bei München zeigt man sich daher zugeknöpft, wenn es um Auskünfte rund um Modafinil geht. „Kein Kommentar“, heißt es.

Noch wandelt Baldino sicher durch das Minenfeld des amerikanischen Kontrollsystems. Einerseits will er die FDA dazu bringen die Liste der Indikationen für Provigil zu erweitern, andererseits will er deren Ängste zerstreuen, die Substanz könne sich zur Lifestyle-Droge mausern. Dass dies längst geschehen sei, suggerieren Medienberichte, aber solide Studien über die Verbreitung der Substanz zur reinen Optimierung der Lebensleistung liegen nicht vor.

Aufmerksamkeitsstörung

Bis heute ist Modafinil als Mittel gegen Schlafapnoe- und Schichtarbeit-Syndrom in den USA zugelassen, aber Baldino, der seine pharmakologische Karriere bei DuPont begann, hatte schon früh ein nächstes Marktsegment ausgeschaut. In den USA boomt bei Kindern seit den 90er Jahren die Zappelphilip-Diagnose, als Mittel der Wahl bei ADHS gilt trotz aller Diskussionen noch immer Ritalin (Methylphenidat). Novartis setzte 2006 über 330 Millionen Dollar allein mit diesem Medikament um. Studien hatten ergeben, dass auch Modafinil beim Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom helfen kann. Die Analysten freuten sich schon, als sich die Gerüchte verdichteten, die FDA würde Cephalon die Vermarktung als Anti-ADHS-Mittel unter dem Namen „Sparlon“ genehmigen. Im September 2006 kam die Ernüchterung: Die FDA erteilte den Plänen eine Abfuhr, es war zu einem Fall von arzneimittelallergisch bedingten Hauterkrankung gekommen bei einem Probanden gekommen.

Für Provigil gilt: Die Substanzgruppe ist wirklich neu und kein sonst wie geartetes Derivat der Amphetamine, Alkaloide oder gar serotoninverwandten Halluzinogene. Dieser Umstand schiebt es zunächst einmal aus den Fokus der Drogenkontrollinstitutionen. Und Langzeitwirkungen konnten noch nicht erforscht werden. So ist die Aufregung unter Experten und Off-Label-Usern groß, selbst nüchterne Wissenschaftler wie Danielle Turner von der Universität Cambridge sprechen von einer „vielversprechenden Substanz“.

Friendly Fire

Die Euphorie der ersten Modafinil-Studien zog schon früh das Interesse der Streitkräfte an. Aus militärischer Sicht ist der Mensch eines der schwächsten Instrumente der Kriegsführung. Er braucht Essen, Wundversorgung und den Glauben, dass sein möglicher Tod der guten Sache dient. Und er braucht Schlaf, zufiel Schlaf, denn ohne Schlaf macht er Fehler.

Die Untersuchung eines Zwischenfalls in Afghanistan im Jahre 2002 zeigte das deutlich. Zwei Amerikanische Piloten hatten damals vier kanadische Soldaten unbeabsichtigt getötet. Vor dem Kriegsgericht gaben die Anwälte der Piloten an, dass ihre Mandanten zur Zeit des Unfalls unter dem Einfluss von Dexedrin standen. Anders formuliert: Sie waren auf Speed, dem klassischen Amphetamin, ein beliebter Stoff seit den Schlachten des 2. Weltkriegs.

Für Normalbürger verboten, ist Speed für das Funktionieren der US-Streitkräfte elementar. Dr. Pete Demitry, Arzt bei der Luftwaffe und selber Pilot, sagte während einer Pressekonferenz zu dem Kriegsgerichtsverfahren: „Die Air Force nutzt Dexedrin seit 60 Jahren. Und wir wissen, dass es sicher ist, weil wir nie einen Zwischenfall hatten, der nachweislich in kausaler Beziehung zu dem Anregungsmittel stand.“

Speed

Es ist eine weitere Ironie der Drogenpolitik, dass 60 Jahre militärische Anwendung anscheinend nur fröhlich-konzentriert aufgeputschte Soldaten erlebt haben soll. Und das wo doch Amphetamin in den USA immer wieder als Horrordroge bezeichnet wird („Speed kills“).

Tatsächlich ist die häufige Einnahme von Amphetamin gesundheitsschädlich, das Militär sucht nach Alternativen – und Modafinil ist eine davon. Die DARPA (http://www.darpa.mil/) hat 100 Millionen Dollar für ein Forschungsprojekt bereit gestellt, das im Ergebnis die kognitiven Leistungsfähigkeit der Soldaten während lang andauernden Schlafentzug erhalten soll.

Air Force und Cephalon sponsorten eine Studie der Harvard Universität, in der 16 gesunde Probanden 28 Stunden ohne Schlaf auskommen mussten. Die Personen mit Modafinilbeigabe schnitten in den kognitiven Tests besser ab als die mit Zucker-Placebo. Weltweit waren die Generäle begeistert. 2004 gab das britische Verteidigungsministerium zu, seit 1998 über 24.000 Tabletten Modafinil eingekauft zu haben. Die Verwendung blieb im Dunklen, auffällig war allerdings laut Guardian die jeweilige Bestellung größerer Mengen vor dem britischen Engagement in Afghanistan und Irak.

Zweiter Anlauf
4.8.2007, 18.00 Uhr
 Eine Open Air Party in Norddeutschland, der Techno-Beat wummert seit 18 Stunden, es ist aber erst Samstag. Der Blister knackt, 200 mg rein damit. Heute geht es weniger um das Steigern von Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis, sondern um gute Unterhaltung im doppelten Sinne: Entertainment und Kommunikation. Zudem lässt sich das Wirkspektrum einer Substanz in der fiebrigen Atmosphäre einer vollelektronischen Goa-Party besser abtasten.
18.30 Uhr
 Wenn es denn was abzutasten gibt. Obwohl gut ernährt rumort der Magen und entleert sich in einem chemisch angehauchten Schiss im nahe gelegenen Maisfeld. Ist es die Pille oder die Aufregung?
19.45 Uhr
 Ich fuhrwerke auf der Tanzfläche rum, Musik und Erleben sind großartig, aber im Normalbereich. Nur mit sensiblen Antennen lässt sich ein Verschieben optischer Frequenzen ausmachen. Oder sind das die Haschischschwaden, die über das Feld wabern? Auch beim zweiten Versuch erweist sich die Mischung mit Alkohol in den ersten Stunden als unklug. In der polytoxomanen Gesellschaft hier vor Ort bin ich wahrscheinlich einer der nüchternsten Kandidaten.
21.00 Uhr
 Erst nur eine Andeutung wird klar: Modafinil fördert bei mir eine zackige Roboterhaftigkeit. Die Motorik ist kontrolliert, sehr kontrolliert. So aufmerksam will ich gar nicht sein, zumindest nicht heute. Das Körpergefühl ist nicht unangenehm, aber der Fluss der Bewegung wirkt abgehackt. Wie immer bei Modafinil aber nichts, was sich nicht durch Aufmerksamkeit, in diesem Fall das Besinnen auf Geschmeidigkeit, wieder in den Griff kriegen lässt.
23.30 Uhr
 Könnte „cognitive enhancement“ die Bewusstseinserweiterung des zweiten Jahrzehnts werden? Eine Art 60er- und 90er Revival? Nein. Dafür sind die Substanzen nicht einschneidend genug, ihnen geht die Kraft zur psychischen Ausgrabung völlig ab. Eher wirken Modafinil & Co. wie aus Silikon entsprungene Banalitäten. Droht die Menschheit zur einer Horde vigilant arbeitswütiger Spacken zu verkommen?
2.50 Uhr
 Gesteigerte Kommunikationsfähigkeit oder Zufall? Auf jeden Fall bleibe ich an jedem Getränke- und Essensstand auf einen Schnack hängen. Zurück auf der Tanzfläche brettert der Sound durch die Menschenmassen. Lichtblitze, feuerspeiende Schönheiten, Mutanten auf Stelzen, Laser-Shiva Animationen, der Rest ein wild gewordener Schweinekoben. Ein Raver wälzt sich horizontal im Gras, Konvulsionen, „break on trough to the other side“, nach Spaß sieht das nicht mehr aus. Vielleicht wäre eine Encounter-Gruppe in Freiburg der sicherer Ort für solch' eine Abfahrt gewesen.
4.30 Uhr
 Ich bin weder hellwach noch getrieben, sondern einfach nur nicht müde. Na dann, gute Nacht. Nach fünf Minuten bin ich tatsächlich schon eingeschlafen. Kaum Hangover am nächsten Morgen.

Schubvergleich

Greg Belenky vom „Walter Reed Army Institute of Research“ in Silver Spring, Maryland, wollte es genauer wissen. Er verglich die Wirkung von Modafinil, Speed und Koffein an Soldaten, die bis zu 85 Stunden wach gehalten wurden. Sein Fazit: „Kurz gesagt wirken sie alle ähnlich: Gibt man sie jemanden, der müde ist, dann fühlt er sich besser. Allerdings wirkt Modafinil länger als Amphetamin und beide wiederum länger als Koffein.“

Sicher, Modafinil wirkt bis zu 12 Stunden, aber sollte das der einzige Unterschied gegenüber Speed und Koffein sein? Die Schreiber in den weltweiten Drogenforen dürften widersprechen und auf die verschiedenen und dosisabhängigen Effekte auf die Psyche hinweisen. Und natürlich hat auch Modafinil seine Nebenwirkungen. Je nach Dosierung können Nervosität, Übelkeit, Reizbarkeit, Zittern, Schwindel, Mundtrockenheit und Kopfschmerzen auftreten.

Höhere Weihen

Soldaten, Studenten und nun sogar die Professoren. Philipp Harvey, Professor für Psychiatrie an der Emory Universität in Atlanta, erzählte der Times vor kurzem freimütig von seiner Modafinil-Affinität zum Überwinden des Jet-Lags. Seine Kollegin Barbara Sahakian, Professorin für Neuropsychologie in Cambridge, berichtet von mehreren ihr bekannten Wissenschaftlern, die die Droge verschrieben bekommen haben, weil sie öfters Zeitzonen überqueren.

Sahakians Mitarbeiterin, Danielle Turner, testete die Substanz 2003 an 60 gesunden Probanden. Gegenüber Placebo schnitten sie in einem Test des Kurzzeitgedächtnis signifikant besser ab.
Die genauere Analyse des Turner-Tests relativiert die Ergebnisse: So verbesserte sich beispielsweise die Werte bei der Mustererkennung und dem Zahlenerinnerungstest Digit-Span (hier online), nicht aber beim schnellen Erfassen visueller Informationen und dem CANTAB-SWM, einer klassischen Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung. Die Testpersonen waren auf Modafinil in der Bearbeitungsgeschwindigkeit beim Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) nicht besser als andere. Man vermutet daher, dass die Leistungssteigerungen auf einer verlangsamten Reaktion beruhen: „Es sieht so aus“, sagt Turner, „als ob die Probanden durch das Modafinil etwas länger nachdenken, bevor sie antworten.“

Ist das alles die Aufregung wert? Es existieren pharmakologische Studien mit vergleichbaren Design, die andere Substanzen nutzten. Das Arbeitsgedächtnis wird ebenfalls durch Noradrenalin- und Dopamin-Agonisten (link) positiv beeinflusst. Selbiges gilt für die bekannten Stimulanzien wie Methylphenidat, bekannt als Ritalin, und sogar Amphetamin (link).
In Leipzig erforschten die Universität Leipzig und das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft die Substanz (link). Auch hier fand man in einer doppelblinden und randomisierten Studie eine leicht verbesserte Leistungsfähigkeit in Tests des Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis.

Wie das?

Der weltweite Wissenschafts-Hype um die Substanz steht auf schwachen Beinen, denn der Mechanismus, nach dem Modafinil im Körper funktioniert ist noch immer weitgehend ungeklärt. Obwohl millionenfach verschrieben bleibt der pharmakologische Grund für den stimulierenden Effekt der Droge im Dunklen. Während Forscher wie Luca Ferraro die steigernde auf den Glutamathaushalt und verringerte GABA-Ausschüttung verantwortlich sehen (link), wollen andere die Veränderung des Hypocretin-Levels als Ursache ausgemacht haben. Es gibt Hinweise, dass der Hypocretinhaushalt bei Narkolepsie gestört ist. Wieder andere Wissenschaftler weisen auf die indirekte Stimulation von Noradrenalin und anderen Neurotransmittern am Alpha-1 Rezeptor hin (link). Dafür spricht, dass bestimmte Alpha-1 Blocker wie Prazosin die Wirksamkeit von Modafinil beeinträchtigen.

Fest steht: In Internet-Foren (und link) äußern sich User nicht nur euphorisch über die Substanz. Narkoleptiker sprechen von erheblichen Nebenwirkungen, Off-Label- und illegale Tester von einer Beeinträchtigung des Sprachvermögens oder der Kreativität (link). Anderen gefiel das „medikamentöse Dauerhoch“ (link) nicht.

Dritter Anlauf
Dienstag, 21. April 2007, 11.00 Uhr
 Sollte denn die innere Einstellung zu einem Medikament eine Rolle bei dessen Wirkung spielen, dann hat Modafinil bei mir wenig Chancen. Die bisherigen Versuche zeigten mich zwar als vigilen, aber genauso töffeligen Menschen. Schachgroßmeister werde ich nicht mehr.
11.30 Uhr
 Gute Idee, ich spiele eine Runde Schach gegen den PC, der mich aber wie immer gekonnt abfiedelt.
13.35 Uhr
 Leicht fickerig, wie der Experte sagt. Dazu das inzwischen bekannte flaue Gefühl im Magen. Alles nur subtile Erscheinungen. Das Basteln an html- und css-code geht leicht von der Hand.
16.00 Uhr
 Mir schwant, dass Modafinil seinen Platz vor allem dort finden wird, wo wenig Kreativität und viel Arbeitsleistung gefragt ist.
19.00 Uhr
 Ein normaler Arbeitstag geht dem Ende zu. Wäre da nicht dieses zarte Ziehen in der Gesichtsmuskulatur, das eine Richtung hat: Nach vorne. Das physische Resultat der beharrlichen Fokussierung auf den Monitor, bilde ich mir ein.
23.00 Uhr
 Die Substanz fordert schon Aufgrund ihrer Schlichtheit zur simplen Kosten-Nutzen-Abwägung auf. Zunächst ein individueller Prozess: Modafinil ist stärker als Koffein und andere milde Pusher, die Fokussierung enger. Sieht man vom durchaus beeinträchtigten Körpergefühl ab, bleibt die Substanz in ihrer psychischen, vor allem aber emotionalen Wirkung subtil. Merkfähiger oder gar kreativer macht sie nicht, eher breitet sich Fließbandatmosphäre im geistigen Raum aus. Gut, wenn Narkoleptiker von einer Substanz mit wenig Nebenwirkungen profitieren können. Als gesunder Mensch werde ich mich weiterhin eher auf die seit Jahrhunderten erprobten, naturnahen Wirkstoffe verlassen.

Spiegelkabinett

Um weiterhin kräftige Gewinne zu garantieren griff Cephalon vor kurzem in die pharmakologische Trickkiste. Man spiegelte und drehte ein wenig am Modafinil-Molekül und schuf ein Isomer mit gleicher Struktur und Summenformel, aber unterschiedlicher Konfiguration der Atome. Fertig war Armodafinil, das unter dem Namen „Nuvigil“ im Juni diesen Jahres den Segen durch die FDA erhielt. Das Patent läuft bis 2023. CEO Frank Baldino ist zufrieden: „Die Zulassung von Nuvigil erlaubt es uns, die Spitzenposition im Bereich der Wachsamkeit zu halten.“ Die Substanz wirkt länger, Wissenschaftler testen schon den Einsatz bei weitere Krankheiten. Nun sollen sogar Menschen, die an Depression oder Schizophrenie leiden, von dem Mittel profitieren.