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Gesundheitssystem

Arzneimittel – der kontinuierliche Skandal, Teil 1

telepolis, 27.12.2012

Über Studiendesign, beauftragte Institute und geistiges Eigentum

Jörg Auf dem Hövel

Die verschiedenen Bestandteile des Systems der Arzneimittelzulassung und Kontrolle sind degeneriert und ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt worden. Dies betrifft sowohl Design und Vollzug der klinischen Studien am Patienten, als auch die Kontrollmacht der Wissenschaftsorgane und Regulierungsbehörden. Einblicke in eine kranke Welt, die uns gesund halten soll.

Bevor ein Medikament verschrieben werden darf, muss es eine ganze Reihe von Hürden nehmen. Zunächst wird im Tierversuch die Verträglichkeit des neuen Wirkstoffs getestet. Erst darauf folgt in einer sogenannten „klinischen Studie“ (Phasen I-IV) die Anwendung am Menschen. Der Wirkstoffhersteller finanziert den gesamten Prozess und ist naturgemäß an der Markteinführung interessiert. Aus diesem Grund unterliegt das Design dieser Studien einerseits einer Kontrolle durch Ethikkommissionen, andererseits läuft es immer Gefahr, so entworfen zu werden, dass positive Ergebnisse heraus kommen.

Über die letzten Jahre ist durch wissenschaftliche Analysen, investigative Recherche und Whistleblower immer deutlicher geworden, dass der Output dieser klinischen Studien extrem fehlerbehaftet ist. Mehr noch, ein großer Anteil von Studien, deren Ergebnisse dem Auftraggeber nicht zusagen, wird erst gar nicht veröffentlicht.

Überspitzt könnte man formulieren, dass für den überwiegenden Anteil aller auf dem Markt befindlichen Medikamente nicht fest steht, wie wirksam sie tatsächlich im Vergleich zu anderen (pharmakologischen) Therapiemaßnahmen sind.[1] Die Ursachen sind vielfältig:

 

  • Für viele Forscher ist die Unterzeichnung eines Vertrages Normalzustand, in dem sie sich verpflichten, die Ergebnisse geheim zu halten, bevor der Auftraggeber die Genehmigung zu Veröffentlichung erteilt. In einigen Verträgen behalten sich diese auch das Recht vor, die Studie zu jedem Zeitpunkt abbrechen zu dürfen. Auch den Studienteilnehmern, also den Patienten, steht oft nicht das Recht zu, die Ergebnisse einzusehen.
  • In den meisten Fällen ist das Design so ausgelegt, dass das neue Arzneimittel seine Wirkung nur gegenüber einer Placebo-Pille und nicht gegenüber einem bereits auf dem Markt befindlichen Medikament beweisen muss. Dieses Vorgehen legt die Latte niedrig. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Tatsache bedenklich, dass der Anteil der Placebo-Responder, also derjenigen Probanden, die auf einen Placebo positiv reagieren, aus noch nicht genau bekannten Gründen gerade bei den Psychopharmaka immer höher] wird.
  • Eine andere Variante ist es, zwar ein Konkurrenzprodukt zum Vergleich heranzuziehen, dieses aber in zu hoher oder niedriger Dosis zu verabreichen.
  • Teilweise sind die Versuchsgruppen zu klein, um verallgemeinerbare Ergebnisse zu erhalten.
  • Über die Auswahl der Teilnehmer werden die Ergebnisse präformatiert. Denn oft sind Studienteilnehmer gesünder als die späteren, realen Patienten, im Regelfall sind sie zudem mit weniger Begleiterkrankung belastet. Die Wirksamkeit der Testsubstanz stellt sich dadurch besser dar.
  • Die primären Endpunkte (beispielsweise der komplette Rückgang der Erkrankung) werden nachträglich geändert. Eine Dateianalyse zeigt dies beispielsweise für das Antiepileptikum Gabapentin. Wie üblich war knapp die Hälfte der jemals durchgeführten klinischen Studien zu Gabapentin nie veröffentlicht worden. Für 12 veröffentlichte Studien überprüften die Autoren nun, ob die in den internen Dokumenten im Vorwege gesetzten Endpunkte mit den späteren übereinstimmten. Aber von den 21 genannten Endpunkten erschienen später nur elf. Sechs wurden ganz unter den Tisch fallen gelassen, weitere vier wurden plötzlich zu sekundären Endpunkten.
  • Ein ähnliches Vorgehen attestierten Statistiker klinischen Studien schon 2004. Das Centre for Statistics in Medicine in Oxford nahm 102 klinische Studien unter die Lupe, deren Ergebnisse in 122 Fachmagazinartikeln veröffentlicht wurden. Über die Hälfte der Endpunkte war, glaubt man der Analyse, unzureichend wiedergegeben und fast zwei Drittel hatten im Verlauf ihren primären Endpunkt verändert.
  • Mehrere Endpunkte werden so kombiniert, dass undeutlich ist, das ein vergleichsweise unwichtiger Endpunkt den größten Beitrag geleistet hat.
  • Es werden mehrere Endpunkt gewählt, in der späteren Analyse werden aber nur die mit positiven Ergebnissen genannt.
  • Weil messbare und klar defininierte Endpunkte oftmals schwer zu erreichen sind, werden Ersatz-Messwerte (med. Surrogat-Marker) herangezogen, von denen ein Zusammenhang zu Krankheit vermutet oder aus früheren Untersuchungen als bewiesen gilt. Ein Beispiel hierfür ist die Verringerung der Chance von Herzinfarkten durch das Senken des Cholesterinwerts mit Hilfe von Statinen. Inzwischen reibt man sich an diversen, lange als gesichert geltenden Erkenntnissen, die durch Surrogat-Marker gewonnen wurde, denn es ist bekannt, dass ein statistischer Zusammenhang nicht unbedingt eine Kausalität anzeigt und zudem Ausbruch und Verlauf von Krankheiten von diversen Einflüssen abhängen.
  • Es werden Subgruppen aus der Untersuchungseinheit heraus gelöst, bei denen das Medikament gewirkt hat. Damit werden Hypothesen erst nach der Datenerfassung gebildet.
  • Die Aussteiger aus der Studie werden in der späteren Analyse ignoriert.
  • Eine weitere Möglichkeit ist es, eine Studie früher als geplant abzubrechen, weil die bis dahin gewonnenen Daten positiv sind. Eine systematische Übersichtsarbeit von der McMaster Universität in Kanada kam 2005 zu dem Ergebnis, dass sich die Anzahl der abgebrochenen Studien seit 1994 verdoppelt hatte.
  • Es wird nicht beides, relativer und absoluter Nutzen einer Arznei angegeben. Das geschieht vor allem deswegen, weil Studien gezeigt haben, dass ein relativer Nutzen gerne überschätzt wird.

 

Im Gesamtbild ergibt die Liste eine Beantwortung auf die Frage, warum klinische Studien, die durch den Hersteller der Substanz finanziert werden, zu signifikant besseren Ergebnissen führen.

Aufragsforschungsinstitute: CROs

In den USA von der dortigen Zulassungsbehörde FDA genehmigten Arzneimittel dominieren seit dem 2. Weltkrieg den globalen Markt der Medikamente. Im Rahmen von Harmonisierungsmaßnahmen wurden seit den 50er Jahren die FDA-Reglementierungen von vielen Ländern übernommen, sie bilden daher bis heute die Basis der weltweiten Arzneimittelzulassungspraxis.

Lange Zeit wurden klinische Studien für Arzneimittel primär an Universitätskliniken und den damit verbundenen, sogenannten Academic Health Center (AHC) oder Zentren für klinische Studien in den USA und Europa durchgeführt. Diese hatten selbst Interesse an der Forschung, die Durchführung wurde aber schon immer in mindestens 2/3 aller Fälle von der pharmazeutischen Industrie finanziert.

Die Aufgrund von Arzneimittelskandalen und Patientenschutzerwägungen verschärften Zulassungsmodi führten dazu, dass sich der Prozess bis zur Markteinführung eines Medikaments zum Leidwesen der pharmazeutischen Industrie immer mehr verlängerte. Im Rahmen der Globalisierung und der entdeckten Vorteile des Outsourcing entstanden in 80er Jahren sogenannte Auftragsforschungsinstitute (Contract Research Organization, CRO), die heute weltweit Arzneimittelstudien in all ihren Phasen durchführen. Weithin unbeachtet von der Öffentlichkeit (eine Geschichte der CROs liegt bis heute nicht vor) wurde Wissenschaft dadurch privatisiert und kommerzialisiert. Diese Entwicklung hat sich verfestigt und dabei nicht nur die Arzneimittelforschung revolutioniert, sondern auch die Wissensproduktion und Publikationskultur radikal verändert.

Die Regierungen drängen seit den 1980er Jahren nicht nur in Deutschland auf eine enge Zusammenarbeit von Industrie, Wissenschaft und öffentlichen Sektor. Man hofft auf Innovationen und gesenkte Kosten. Zudem sind die CROs Teil einer übergreifenden Entwicklung, die die Neuordnung des geistigen Eigentums, des Wandels der Wissensproduktion und des Ghostwriting umfasste.

Das Durchführen von klinischen Studien in CROs dekonstruiert das bis dahin übliche Studiendesign in seine Einzelteile und legt es in unterschiedliche Hände. Die nun zuständigen Beteiligten, seien es Patientenanwerber, Betreuer oder Statistiker sind nur dem Auftraggeber verpflichtet und in keiner Weise mehr an die Belange der medizinischen Wissenschaft gebunden. Die Studienprotokolle sind primär auf die optimale Kontrolle einer zügigen Arzneimittelentwicklung ausgelegt. Das Teilen der Erkenntnis ist sekundär, mehr noch, ob die Daten veröffentlicht werden wird endgültig von der Industrie bestimmt.

2008 stellten Wissenschaftler vom MIT fest (Artikel), dass der überwiegende Teil (66%) der klinischen Forschung nach wie vor in den klassischen Ländern stattfindet. Das wird nicht so bleiben. Die Marktforscher von Frost & Sullivan prognostizieren dem asiatischen CRO-Markt einen jährliche Wachstumsrate von 20% und spätesten 2015 Erlöse von 2,5 Milliarden US-Dollar im Jahr. Hierbei stechen Indien und China hervor, deren Regierungen bemüht sind beste Bedingungen für die Arbeit der CROs zu schaffen. Die Industrie kalkuliert mit den „Kosten pro Patient“, diese sollen in diesen Ländern um zwei Drittel niedriger sein.

Wichtiger noch ist aber die weitaus schnellere Abwicklung der Studien, womit sich der gesamte Zulassungsprozess beschleunigen lässt. Die Vereinigung der CRO-Unternehmen (ACRO) stellt aktuell auf ihrer Website dar, dass von ihren Mitglieder bereits 2009 über 9.000 Studien mit 2 Millionen Teilnehmern in 115 Ländern durchgeführt wurden.

Die Problemfelder solcher Studien sind virulent: Analphabeten müssen die Einwilligungserklärungen vorgelesen werden, unterschrieben wird mit Daumenabdruck. Im Schlepptau der CROs reisen die Beamen der Zulassungsbehörden an, um das korrekte Vorgehen vor Ort zu überprüfen – ein schwieriges Unterfangen.

Damit ist die Rolle der Ethikkommissionen angesprochen, die jede klinische Studien begleiten, um Schaden von den Patienten abzuwenden. Diese sind im Normalfall den Institutionen zugeordnet, in denen die klinischen Studien stattfinden. Der pharmazeutischen Industrie waren und sind diese Kommissionen ein Dorn im Auge, nicht zuletzt weil sie langsam arbeiteten und ausführliche Regelwerke aufstellten. Um den Prozess der Zulassung zu beschleunigen und auch kleineren Forschungsinstituten wie den CROs die Forschung zu ermöglichen, genehmigte die FDA 1981 auch privatwirtschaftlich organisierte IRBs. So entstanden bioethische Beratungsfirmen, die, so zeigten nachfolgende Analysen (Parexel Sourcebook), die Forschungsanträge erheblich schneller bearbeiteten.

Es wäre interessant zu erforschen, ob CRO-Arzneimittelstudien in Asien und Afrika systematisch zu anderen Ergebnissen kommen. Aber auch dies ist durch das Arkan-Verhalten von Industrie und Regulierungsbehörden zur Zeit nicht möglich. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele Studien teilweise oder vollständig in Asien, Indien oder Afrika durchgeführt wurden. Weder die FDA noch die EMA verpflichten die Hersteller zu dieser Angabe.

Um zumindest die technische Qualität zu gewährleisten, bemüht sich ein Zusammenschluss von Regulierern und Industrie (International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use) um die Harmonisierung der Rahmenbedingungen in globalisierten Studien. Wie Arzneimittel in verschiedenen Populationen wirken, ist nicht nur eine genetische, sondern auch kulturelle Frage. Von den ethischen Erwägungen ganz zu schweigen, die solche Studien aufwerfen. In den Industrieländern fällt es den Pharma-Herstellern schwer, überhaupt noch unbehandelte, nicht mit diversen Arzneimittel-Vorerfahrung gesegnete Probanden zu finden. In anderen Regionen der Welt treibt dagegen die Armut die Probanden in die Labors.

Ein neuer Weg zu geistigem Eigentum: MTAs

Der Erfolg der Auftragsforschungsinstitute hängt mit einem weiteren Faktor zusammen. Seit die Patentierung von lebenden Organismen möglich ist, haben biopharmazeutische Firmen beispielsweise Patente auf Zell-Rezeptoren zugesprochen bekommen. Damit ist die Nutzung dieses Rezeptors reglementiert, nicht nur als pharmazeutisches Produkt, sondern auch als Forschungsinstrument.

Ein solcher Rezeptor könnte beispielsweise dabei helfen, bis dato unbekannten Hormone zu entdecken. Wer diesen Rezeptor für solche Screenings nutzen will, muss Gebühren an den Patentinhaber zahlen. Diese „lebenden Forschungsinstrumente“ stellten sich als lukrative Geldquelle für kleine und biopharmazeutische Firmen heraus. Zugleich wurden sie aber zu einem Instrument der Geheimhaltung. Wissenschaftler an Universitäten hatten sich bislang solche Rezeptoren kostenlos gegenseitig zur Verfügung gestellt. Für die Industrie ein unhaltbarer Zustand, denn damit konnte im Zweifelsfall auch die Konkurrenz von diesen Forschungsinstrumenten profitieren.

Um eine noch größere Kontrolle über Forschungsergebnisse zu erlangen, entwarfen biotechnischen Firmen und CROs eine juristische Konstruktion mit Namen „materials transfer agreement“ (MTA). In diesen Verträgen werden die Bedingungen geregelt, unter denen Dritten biologische Materialien (Zellen, Antikörper, Rezeptoren, usw.) überlassen werden dürfen. So wird genau festgeschrieben, was ein Dritter mit dem Material überhaupt anstellen darf, wer für etwaige Schäden haftet und vor allem, wie bei Erfindungen und Veröffentlichungen in Fachblättern zu verfahren ist.

Was harmlos klingt, hat nach Ansicht einiger Wissenschaftler zu einer Blockade medizinischer Forschung geführt. CROs und MTAs sind danach komplementäre Instrumente: Dem Auftragsforschungsinstitut wird vertraglich untersagt, geistiges Eigentum zu behalten, der einzelnen Wissenschaftler wird davon abgehalten, geistiges Eigentum zu finden. Im Ergebnis haben die Pharma-Hersteller die Kontrolle über fast jeden Aspekt der klinischen Arzneimittelforschung.


Teil 2 behandelt die schwindende Macht von Behörden und wissenschaftlichen Fachblättern sowie den Zugang zu Studiendaten.

Teil 3 versucht Bestandteile eines optimierten Zulassungssystems zu entwerfen.


Ben Goldacre hat ein erhellendes Buch zu dem Themenkomplex mit dem Titel „Bad Pharma“ geschrieben. Eine unbedingte Empfehlung!