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Gesundheitssystem

Arzneimittel – der kontinuierliche Skandal, Teil 3

Telepolis, Arzneimittelstudien, Kritik

telepolis, 02.01.2013

(Teil 2, Teil 1)

Über Arzneimittel-Werbung, Ärzte-Fortbildung und Grundzüge eines optimierten Kontrollsystems

Jörg Auf dem Hövel

Schon seit längerem wird berichtet, dass das Marketingbudget der Pharma-Konzerne deren Ausgaben für Forschung und Entwicklung (R&D) wahrscheinlich um das Doppelte übersteigt. Auf der anderen Seite stehen Zahlen, die Booz & Company regelmäßig veröffentlicht. Danach stehen Pharma-Giganten wie Novartis, Hoffmann-La Roche, Merck und Pfizer seit Jahren unter den Top 10 der weltweit forschungsaktiven Unternehmen. Sie stecken aktuell zwischen 14 und 20 Prozent ihres Umsatzes in R&D – weitaus mehr als beispielsweise die Automobilbranche.

Wie auch immer man die Zahlen deutet, durch Gerichtsprozesse kommen in unregelmäßigen Abständen interne Dokumente zum Vorschein, die das systematische Vorgehen von Teilen der pharmazeutischen Industrie aufzeigen, die Vorteile eines Arzneimittels über unterschiedlichste Kanäle zu verbreiten und den [Off-Label-Gebrauch http://de.wikipedia.org/wiki/Off-Label-Use] zu bewerben. Um hier Übersicht zu erlangen, gründete die Universität San Francisco das Drug Industry Document Archive (DIDA), in dem solche Dokumente gesammelt werden.

Um den Verkauf ihrer Produkte ankurbeln, greifen die Unternehmen immer wieder zu unerlaubten Mitteln. Zuletzt wurde Glaxo-Smith-Kline im Juli 2012 vom US-amerikanischen Justizministerium zur Zahlung der beachtlichen Summe von drei Milliarden (nicht Millionen) US-Dollar verdonnert. Die Liste war lang: Unerlaubte Werbung, Zurückhaltung von Daten, auch, aber nicht nur in Bezug auf das Antidepressivum Paroxetin, Bestechung, Aufforderungen zum Off-label-Gebrauch des Asthma-Mittels Advair und falsche Behauptungen über die Sicherheit der Diabetes-Arznei Rosiglitazone.

Das sind keine Einzelfälle. Eli Lilly musste 2009 über 1,4 Milliarden US-Dollar Strafe zahlen, Pfizer im selben Jahr 2,3 Milliarden US-Dollar. AstraZeneca durfte 2010 rund 520 Millionen US-Dollar in die Staatskassen überweisen. Der Abbott-Konzern wurde 2012 zur Zahlung von 1,5 Milliarden US-Dollar verurteilt, weil man einen Abkömmling der Valproinsäure (Handelsname: Depakote) als Lösungsmittel für senile Renitenz propagiert hatte.

Juristisch kaum anfechtbar ist ein anderes Vorgehen. Omeprazol, ein beliebtes Mittel gegen Magengeschwüre, brachte fünf Milliarden Euro jährlich in die Kassen von AstraZeneca, bis 1999 das Patent auslief. Der dann angewendete Trick ist so einfach wie dreist: Das Omeprazol-Molekül wurde chemisch gespiegelt und zu Esomeprazol. Obwohl klar war, dass dieser gedrehte Wirkstoff nicht besser wirkt als der alte, verschrieben weltweit Ärzte das neue Medikament und nicht ein Generikum von Omeprazol, weil der Hersteller AstraZeneca ein millionenschweres Marketingprogramm lancierte.

Gesponserte Fortbildung der Ärzte

Dies führt zu der Fortbildung der Ärzte, der sogenannten Continuing Medical Education, die nicht nur in Deutschland Pflicht ist. Pro absolvierter Fortbildung erhält jeder deutsche Arzt Punkte, innerhalb von fünf Jahren muss er 250 ansammeln. Im Internet existieren zahlreiche kostenlose CME-Portale, von denen der überwiegende Teil durch die pharmazeutische Industrie betrieben oder indirekt gesponsert wird. So ist eine absurde Situation entstanden: Die Fortbildung von Ärzten wird von denen finanziert, deren Produkte sie auch verschreiben sollen.

In den USA gab das für die Zulassung von CME-Maßnahmen zuständige ACCME 2008 bekannt, dass von den rund 760.000 CME-Lehrstunden die Hälfte direkt von der Industrie gesponsert wurde. Um einen Einblick zu erhalten, befragte der Mediziner Volker Eckhardt die deutschen Teilnehmer eines renommierten Magen-Darm-Kongresses in den USA. 77% hatten eigenen Angaben zufolge einen Reiseunterstützung durch die Industrie erhalten. Und natürlich waren die meisten überzeugt, dass dies ihr Verordnungsverhalten nicht beeinflusse.

Mit den Erfolgen der Pharmakotherapie wuchs lange Zeit auch die Nähe der behandelnden Ärzte zur pharmazeutischen Industrie. Diese bemühte sich vermehrt um die Pillenverordner, man verschickte Kostproben, bot Beraterverträge an, lud auf Konferenzen, Hotel inklusive. Die Auswüchse des Systems ließen Kongresse mit Ehefraubegleitung auf Hawaii zu. Erst in den letzten Jahren ist hier Besserung in Sicht. Organisationen wie No Free Lunch oder die deutsche MEZIS proben die Befreiung aus der innigen Umarmung der Industrie.

Was muss sich ändern?

Journalistische Beiträge weisen oftmals auf die Macht- und Geldfülle der Pharma-Konzerne hin. Bei aller Kritik soll nicht vergessen werden, dass die Entwicklung wirksamer Arzneimitteln die Behandlung einiger Krankheiten revolutioniert hat. Polio und Diphtherie sind durch Impfungen im Griff, Herzanfälle beherrschbar, Leukämie kein Todesurteil mehr. Das medizinische Wissen wächst. Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen ist die Wissensschaffung im Arzneimittelsektor allerdings zu einem Nebenprodukt der klinischen Forschung geworden. Insgesamt, so lässt sich attestieren, existieren zu viele kleine und kurze Studien mit oftmals nicht repräsentativen Teilnehmer, die in fehlerhaften Studiensettings behandelt werden. Nach Gutdünken des Auftraggebers werden diese Studien dann veröffentlicht oder eben nicht veröffentlicht. Die Folge: Tagtäglich entscheiden Ärzte weltweit auf unsicherer Wissensbasis über die pharmakologische Behandlung ihrer Patienten. Es existiert zur Zeit kein zuverlässiges System, das Ärzte mit Informationen versorgt. Und auch die Fachzeitschriften geben keinen systematischen Überblick. Der Tamiflu-Skandal (Was hat Roche zu verbergen? Tamiflu und der schwierige Zugang zu klinischen Daten) ist nur die Spitze des Eisbergs. Was ist zu tun?

 

  • In einem ersten Schritt muss ein funktionierendes Register für alle durchgeführten klinischen Studien eingerichtet werden. Im derzeitigen EudraCT sind kaum Ergebnisse zu finden und nicht alle der tatsächlich laufenden Studien aufgeführt. Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur ist eigenen Angaben zufolge nicht im Besitz aller aktueller Studiendaten. An dieser Stelle dürften nur Bußgelder weiter helfen, die bei Nichteinreichung verhängt werden.
  • Der Zugang zu den Studiendaten darf nicht nur auf Zusammenfassungen der Ergebnisse beschränkt werden. Das bestehende EudraCT hätte den Tamiflu-Skandal bezeichnenderweise nicht verhindert. Wie immer man die Geschäftsgeheimnisse der Hersteller sichert, nur mit der Einsichtsmöglichkeit zu den Rohdaten kann kontrolliert werden, ob das Studiendesign valide aufgesetzt, Endpunkte geändert, Hypothesen erst nach der Datenerfassung gebildet oder Aussteiger ignoriert wurden. Es fehlt an Interessengruppen, die Offenlegung von Daten im Arzneimittelsektor fordern.
  • Interessant wäre die Einrichtung einer Datenbank, in der evidenzbasierte Erkenntnisse auf Cochrane-Niveau und neue Studien zum Thema begutachtet und eingepflegt werden. Es ist für einen praktizierenden Arzt heute nicht möglich, allein aus der Lektüre der Fachzeitschriften die Übersicht zu behalten. Die Arbeit des IQWIG ist daher von zentraler Bedeutung und muss ausgebaut werden.
  • Um die Wirksamkeit pharmakologischer Therapien beurteilen zu können muss, wann immer möglich, ein neuer Arzneistoff gegen ein existierendes Medikament antreten. Wo immer möglich sollte dies im Alltag der Patienten geschehen.
  • Die nicht-kommerzielle Arzneimittelforschung muss ausgebaut werden. Heute existiert kein einziger Sektor in der akademischen Medizin, Forschung oder Ausbildung, in der industrielle Beziehungen nicht ein allgegenwärtiger Faktor sind. Diese Beziehungen sind politisch und wirtschaftlich gewünscht, ohne sie sind Forscher im bestehenden System kaum in der Lage, neue Arzneimittel zu entwickeln. Die Liaison führt aber parallel dazu, dass einige Wissenschaftler zu Gehilfen im Verkaufsprozess werden, anstatt den Wissensschatz zu vermehren. Individuell orientierte Transparenzvorschriften für Interessenskonflikte lösen nicht strukturelle Probleme in der Organisation von Wissenschaft.
  • Ärzte und Mediziner sollten gegenüber ihren Patienten die Geschenke Pharma-Referenten, Zahlungen und bezahlte Fortbildung transparent machen. Arzneimittelhersteller könnte man im Gegenzug verpflichten, ihre Zahlungen an Mediziner zu veröffentlichen. In den USA existiert mit dem „Sunshine Act“ ein solches Modell, jüngst kündigte der Dachverband der europäischen Pharmaunternehmen und Verbände einen Transparenzkodex an, allerdings mit freiwilliger Teilnahme. „Dollars for Docs“ sammelt Dokumente und Artikel zu den Verflechtungen zwischen Medizinern und Arzneimittelherstellern
  • Die Universitäten regeln die Veröffentlichung von Interessenkonflikte unterschiedlich, eine Übersicht fehlt für den europäischen Raum. In den USA pflegt die Vereinigung der Medizinstudenten eine PharmFree Scorecard-Website, auf der die jeweiligen Universitätsrichtlinien für Beraterverträge, Vorträge, Geschenkannahme, und Fortbildung aufgeführt sind.
  • Akademischem Personal muss Ghostwriting verboten sein.
  • Fachmagazine und Autoren müssen verpflichtet werden, am Ende jedes Artikels alle auch am Rande Beteiligten und den Studieninitiator zu nennen.
  • Alle Fachmagazine müssen ihre Werbeeinnahmen nach Arzneimittelhersteller getrennt jährlich aufführen. Zudem sind Reprints und deren Einnahmen aufzuführen. Journalherausgeber müssen ihre Interessenkonflikte regelmäßig offen legen.
  • Patienten sollten ihren Arzt fragen, ob er oder sie an industriegesponsorten Fortbildungen teilnimmt und wie oft er Pharma-Referenten empfängt.

 

Von Jörg Auf dem Hövel

Jörg Auf dem Hövel (* 7. Dezember 1965) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist u. a. für die Telepolis, den Spiegel und Der Freitag.

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